Simone Keil

Herr M

Einzelheiten über Herrn M zu erzählen, bedeutet keine einfache Aufgabe. Er ist ein sehr kleiner Mann, aber nicht kleinwüchsig. Sieht man ihn aus einiger Entfernung, wirkt er allerdings recht groß und stattlich. Man könnte ihn sogar als attraktiv bezeichnen. Er trägt gut sitzende, offenbar maßgeschneiderte Anzüge in unterschiedlichen Grautönen und glänzende, schwarze Lederschuhe.


Doch schon über die Farbe seiner Haare gehen die Meinungen weit auseinander. Während einige behaupten, sie seien hellblond und fallen in weichen Wellen bis auf seine Schultern, sind andere sicher, sie wären kurz und glatt und schimmern in einem bläulichen Schwarz.
Es ist nahezu unmöglich seine Gesichtszüge zu beschreiben, sie erscheinen so unwirklich wie ein Feld voller Raben inmitten dichter Nebelschwaden.


Nähert man sich Herrn M, schrumpft seine Gestalt. Sie wird stetig kleiner und unscheinbarer. Dennoch hält ihn niemand für seltsam, oder auf unangenehme Weise andersartig, was wohl auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass, wenn man direkt neben ihm steht, um ein Gespräch zu führen, oder auch nur guten Tag zu sagen, er nahezu durchscheinend wird und einem der Grund der Annäherung schlichtweg entfällt.


Seine Erscheinung verringert sich auf kurze Distanz in solchem Umfang, dass er beinahe verschwindet, und man vergisst sein Vorhandensein. Die Menschen reiben sich in solchen Fällen über die Stirn, wie um einen trüben Gedanken zu fassen, der eben noch greifbar schien, schütteln den Kopf und gehen, nach kurzem Innehalten, wieder ihren alltäglichen Beschäftigungen nach.
So ist es recht unwahrscheinlich, dass irgendjemand tatsächlich einmal mit Herrn M sprach.

Ich befand mich auf einem Kongress in München und wartete im futuristischen Ambiente der Metropolis Bar des City Hilton. Ich saß auf einem der dunkelroten Lederstühle, an der Bar.
Der Kellner wischte über die glänzende Oberfläche des Tresens und meine Blicke schweiften leicht gereizt durch den Raum, als ich Herrn M zum ersten Mal begegnete.

Er muss schon am anderen Ende der Theke gesessen haben, als ich den Raum betrat, doch ich hatte ihn erst in diesem Augenblick bemerkt.


Er sah mich an. Nicht auf die unauffällige Art, mit der man ansonsten Fremde mustert – allzeit bereit, den Blick sofort zu senken, wenn man entdeckt wird –, sondern mit unverhohlenem Interesse. Ich starrte intensiv auf meine makellosen, frisch manikürten Fingernägel und erwartete das unangenehme Kribbeln auf meiner Haut, das sich immer einstellte wenn ich fühlte, dass ich beobachtet wurde. Doch es blieb aus.


War ich soeben noch ungeduldig gewesen, da sich meine Kollegen verspäteten, so wurde ich jetzt ruhiger, und Gelassenheit legte sich, wie ein schützender Mantel um meinen Körper.

Ich entspannte mich und meine Augenlider wurden schwer. Unscharfe Träume schlichen sich in mein Unterbewusstsein und verschwammen mit meiner Umgebung. Meine Atemfrequenz reduzierte sich auf ein Minimum und mein Herzschlag wurde zu einem besinnlichen, kaum noch spürbaren Klopfen.


Der Barkeeper bot mir einen zweiten Drink an. Ich schüttelte leicht benommen den Kopf und lehnte ab.
Meine Kollegen betraten in diesem Moment die Bar und winkten mich zu sich. Wir begrüßten uns flüchtig und gingen gemeinsam zum Abendessen in eines der hoteleigenen Restaurants.
Ich blickte beim Hinausgehen über meine Schulter, doch Herr M saß nicht mehr auf seinem Platz.

Einige Wochen später, es war in Stockholm an einem regnerischen Vormittag, traf ich Herrn M noch ein Mal.
Ich hatte kein Taxi gefunden, die U-Bahn verpasst, und würde sicher zu spät zu einem wichtigen Meeting kommen. Es stürmte und ich fror ein wenig. Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch während ich die belebte Straße entlang eilte.


Am gegenüberliegenden Bordstein stand ein vielleicht acht- oder neunjähriges Mädchen. Es hatte sein langes blondes Haar zu Zöpfen geflochten, an deren Enden jeweils eine leuchtend rote Schleife flatterte, und wartete bis die Fußgängerampel auf Grün schaltete. Es lief los, und ich blieb stehen.


In dieser Sekunde entdeckte ich Herrn M. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und lehnte lässig, mit verschränkten Armen, an der Ampel auf meiner Straßenseite.
Das Mädchen sah ihn ebenfalls, es blickte geradewegs in seine Richtung. Es verlangsamte seine Schritte und blieb, ohne ersichtlichen Grund, mitten auf der Kreuzung stehen.


Ich wollte dem Kind etwas zurufen, doch weder kamen mir die passenden Worte in den Sinn, noch war es mir möglich meine Zunge vom Gaumen zu lösen, um sie auszusprechen.
Ich versuchte auf das Mädchen zuzugehen, doch meine Füße umfing eine bleierne Müdigkeit, die es undenkbar machte sie zu bewegen. Ich sackte auf meine Knie zusammen und fiel vornüber gebeugt in eine kleine, schmutzige Pfütze.

 

© Simone Keil

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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