Dana Sonnenberg

Wenn Tiger kämpfen


VORWORT

 
Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nie. Vielleicht weil sie so schön waren, oder auch besonders lustig, oder sie waren einfach nur schlimm.

 

 Was aber, wenn ein schöner, lustiger und zugleich schlimmer Moment länger dauert als nur einen Augenblick? Wenn er sich so fest in einem verankert, dass man Angst haben muss, ihn nie mehr vergessen zu können? Und was ist, wenn man dann noch mit seinem Gewissen kämpft, weil man diesen Moment gar nicht vergessen sollte, weil er nunmal zum eigenen Leben dazugehört?

 
Was tut man dann? Was tut man, wenn man daran verzweifelt, seine eigenen wirren Gedanken sortieren zu wollen, wenn man versucht, das Vergangene zu verarbeiten?

 
Man schreibt ein Buch. Ein Buch ist doch im Grunde nichts anderes als eine Variante der Selbsttherapie und ich wage zu behaupten, dass mir das, was ich geschrieben habe, durchaus geholfen hat, wieder klarer und positiver denken zu können.

 
Ist es eine Autobiographie? Eher nicht, denn es geht weniger um mich, auch wenn es hin und wieder den Anschein hat. Ich erzähle die Geschichte eines anderen Menschen aus meiner Sicht. Ist es dann eine Autobiographie?

 
Ist es eine Biographie? Trifft wohl eher zu. Allerdings greife ich keine komplette Lebensgeschichte auf, sondern nur einen kleinen Teil eines Lebens. Den letzten Teil eines Lebens. Ist es also eine Biographie?

 
Ist es ein Märchen? Ich wünschte es wäre eins. Doch Märchen sind fiktiv. Jede erzählte Handlung und jede Situation in meinem Buch sind nahezu detailgetreu genau so passiert. Kann es demnach ein Märchen sein?

 
Ich könnte ewig so weiter machen. Ich komme so oder so zu dem Schluss, dass dieses Buch schwerlich in einer Kategorie passt, denn es ist eine Mischung aus allem. Genaugenommen eine Mischung aus Biographie, Drama und Liebesgeschichte ohne Happy-End.

 
Dieses Buch galt also dem Zwecke der Selbsttherapie, ich habe aber sehr schnell gemerkt, dass es viel mehr ist als das. Es ist liebevolle Erinnerung an einen Menschen, der so viel gegeben und so wenig genommen hat, der hier einfach fehlt und vermisst wird. Das Buch ist aber auch eine Warnung. Keine bodenlose und dahingeschmetterte Warnung vor Drogenmissbrauch, nein. Vordergründig geht es mir um folgendes: Glaubt an Euch selbst!

 

 

 
PROLOG

 
„Elender Bastard!“ Der große Mann tritt dem Kind immer wieder in den Rücken, schubst es so voran. „Du kannst nur fressen, du machst uns Schande!“ Ein weiterer Stoß in den Rücken, diesmal mit einer Eisenstange. Das Kind schreit auf, versucht zu fliehen, doch eine starke, schmutzige Hand hält es fest. Ein kräftiger Schlag auf den Kopf. Es sackt zu Boden. Der Schmerz lässt es verstummen. Ein unbeschreiblicher Schmerz.

 
Es spürt, wie es am Arm gepackt und hochgezogen wird. Durch einen Tränenschleier sieht es die Kellertreppe. Sie kommt immer näher. Und dann, erneut ein Tritt von hinten, Stufe für Stufe fällt der kleine Körper ins Dunkel.

 
Stille.

 
Das Kind wimmert. Es kann sein Bein kaum mehr bewegen. Mit aller Kraft zieht es sich in eine Ecke des kalten Kellers und weint. Bald wiegt es der Schmerz in einen tiefen Schlaf mit schrecklichen Alpträumen. Doch sie sind nicht halb so schrecklich wie das, was das Kind jeden Tag erleben muss.

 
Stunden später wird es von einem Poltern geweckt. Die Tür zum Keller steht offen, vom Flur dringt Licht in das dunkle Gemäuer. Das Kind macht sich in seiner Ecke ganz klein. Niemand wird es sehen. Hoffentlich.

 
Ein Schatten taucht in der Tür auf und stampft laut fluchend die Kellertreppe hinunter. In der Hand die Umrisse einer Eisenstange. „Wo bist du, du Bastard?“ Die Stimme des Mannes klingt bedrohlich. Das Kind zittert. Vor Kälte, vor Angst. Von oben flüstert eine Frauenstimme. „Er tut dir nichts. Komm, mein Kind.“ Die Augen des Kindes leuchten. „Mama!“ Es versucht aufzustehen, sein verletztes Bein aber lässt keine Bewegung zu. Der große Mann packt das Kind an den Haaren und zieht es die Treppe hinauf. Wieder wird es von einem tiefen Schlaf umhüllt, der den Schmerz erstickt.

 
Als es erwacht, sitzt eine Frau an seinem Bett und lächelt. Das Kind klammert sich an sie. „Mama...“ „Komm mein Kind, wir wollen dich waschen, sieh nur, du hast dich schmutzig gemacht.“ Sie packt den kleinen Jungen an der Hand und zerrt ihn in das Badezimmer. Er weint, sein Bein schmerzt ihn und er hat Angst. Angst vor der lieben Mutter. „Komm mein Kind, komm, komm, wir wollen dich waschen!“ Sie bleibt stehen, geht in die Hocke und streicht mit ihren knochigen Fingern über seine Wange. „Hab keine Angst, mein Kind.“ Ihr Atem riecht nach Schnaps. „Mama, es tut alles weh!“ Der Junge zeigt auf seine Füße, die weißen Socken sind blutgetränkt und eine Anreihung blauer Flecken führt hinauf bis zum Knie. „Unsinn, mein Kind, du hast geträumt, nun komm, wir wollen dich waschen!“ Sie zieht den Jungen vor die Badewanne und reißt ihm sein Hemd vom Leib. Mehr hat er nicht an, nur noch die blutigen Socken. Dann hebt sie ihn hoch und setzt ihn in die Wanne. Das Kind weint. Eiskaltes Wasser läuft über seinen Kopf, es schreit, es zappelt, Schmerzen. „Ruhig mein Kind, ruhig!“ Das Kind schreit wieder. Das Wasser ist so furchtbar kalt.

 
„Was ist hier los?“ Der große Mann steht in der Tür, in der Hand eine Flasche Bier. „Macht der Junge wieder Ärger?“ Er stößt die kleine, schmächtige Frau beiseite und packt den Kopf des Kindes. „Machst du Ärger, ja?“ Das Kind antwortet nicht. Der Mann schlägt den kleinen Kopf gegen den Rand der Badewanne, immer wieder und wieder. Dann drückt es ihn in das kalte Wasser, das Kind wehrt sich, doch der große Mann ist zu stark. Es kann nicht atmen, es muss atmen! Das Kind schlägt um sich, will wieder hoch, hoch an die Luft. Es muss atmen!

 
Doch bevor der tiefe Schlaf wiederkommt, zieht der Mann den Jungen rauf. „Und jetzt reiß dich zusammen!“ Er dreht sich um und verlässt den Raum. Die Mutter sitzt auf der Toilette und lächelt. „Nun komm schon, mein Kind. Du hast geträumt.“

 
 

 
KAPITEL 1

 
Sommer 2001. Die Umzugskisten standen teils im Hausflur, teils in der nach frischer Wandfarbe riechenden Wohnung, fein säuberlich mit Edding gekennzeichnet. `Badezimmerutensilien`. `Bürokram`. `Kuscheltiere`. Und da: `Vorsicht zerbrechlich`. In der Kiste musste unser Geschirr sein. Ich öffnete den Karton, der auf einer Seite mit rotem Wachsmalstift bemalt war. Meine Schwester hatte wohl Langeweile gehabt. Mir fliegen Millionen von Buchstaben entgegen - ein Wirrwarr aus Zeitungspapier und Luftpolsterfolie. Ein halber Küchenbestand, eingewickelt in die letzten 7 Ausgaben der Berliner Zeitung. Ein Seufzer fuhr mir über die Lippen und ich verschloss den Karton wieder, um mich verbittert auf einen fälschlicherweise im Wohnzimmer stehenden Küchenstuhl fallen zu lassen und meine lauwarme Fertiglasagne mit einem pinken Plastiklöffel aus ihrer Aluschale zu kratzen. Ich hasse Umzüge. Stress, Muskelkater, Gemotze.

 
„Dana, kannst du mal die Sägespäne von den Fensterbänken saugen? Jörg trägt gleich unsere Palmen rauf!“ Das Gegröhle meiner Mutter suchte sich seinen Weg drei Stockwerke hinauf, durch die Balkontür und genau in meine Ohrmuscheln. Und damit nicht genug: Es klang tatsächlich, als stünde sie genau neben mir. Mir taten die Nachbarn ein wenig leid. Und besonders tat ich mir selbst leid, denn ich musste die nächsten Jahre mit genau diesen Nachbarn im selben Haus wohnen.

 
Ich sah mich nach unserem kleinen bescheidenen Staubsauger um, der sicher schon älter war als ich selbst. Nichts. Ich nahm ein Taschentuch und fegte die Späne damit von den Fensterbänken im Wohnzimmer. Wie diese dorthin gekommen waren, war mir ein Rätsel, doch ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie meine Mutter die Fensterbänke kurzerhand zu Mülleimern umfunktioniert hatte – ja, das passte zu ihr.

 
Ich hörte schweres Keuchen auf der Treppe im Flur, bald darauf ein unmissverständliches „Scheißdreck, ich zieh nie wieder mit euch Weibern um!“ und wenige Sekunden später trampelte ein verschwitzter, dicker Glatzkopf über unseren teuren Wohnzimmerteppich. Mit sich trug er zwei große Blumentöpfe mit Mamas geliebten Yuccapalmen darin. Die spitzen Enden der Blätter hingen ihm so störend im Gesicht, dass er wild mit dem Kopf wedelte und dabei mit mäßigem Erfolg versuchte, das Grünzeug wegzupusten.

 
„Und ich glaube nicht, dass wir Lust haben nochmal mit dir umzuziehen.“ erwiderte ich zynisch. Ich musste hier raus, sonst würde ich den Fettwanst noch ganz aus Versehen mit dem Gesicht in die Blumenerde stecken.

 
Während ich die Stufen ins Erdgeschoss hinunterstolperte, versuchte ich verzweifelt, eine SMS an meine Freundin in mein Handy zu tippen – was sich schwierig gestaltete dank Treppenlaufen. Ich gab es auf und steckte das Telefon zurück in meine Jackentasche. Unten im Hausflur stand meine Schwester und sah sich die Graffitis an den Wänden an. „Dana, wieso malen die hier im Haus?“ Der kindliche, unschuldige Unterton in ihrer Frage war trügerisch, denn meine kleine Schwester wäre die erste gewesen, die diese Schmierereien höchstengagiert erweitert und die Schuld am Ende noch auf mich geschoben hätte.

 
Nora war damals 8 Jahre alt und sollte nach den Sommerferien die 3. Klasse einer neuen Schule in einer neuen Stadt mit neuen Mitschülern und neuen Lehrern besuchen. Doch all diese Umstände legitimierten nicht die frechen Streiche, die sie mir, meiner Mutter und Jörg spielte. Aber so war sie nunmal - das kann ich zumindest schonmal sagen - bis heute hat sich daran nichts geändert.

 
Meine Mutter hatte Jörg 1991 geheiratet, nachdem sie sich 1983 kurz nach meiner Geburt von meinem leiblichen Vater getrennt hatte. Jörg fehlte es da an Haar, wo er an Fett zuviel hatte. Ich schreibe dies ohne schlechtes Gewissen, denn Jörg selbst scherzte gern auf Kosten anderer, so erlaube ich mir das an dieser Stelle auch. Meine Schwester wurde erst 10 Jahre nach mir, 1993, geboren. Ich habe sie niemals nur als Halbschwester gesehen. Für mich war und ist sie meine Schwester.

 
Und nun stand diese kleine Person mit den rehbraunen Augen und dem langen Zopf etwas ratlos im Flur unseres neuen Heimes vor bunt beschmierten Wänden, mitten in der Metropole Berlin, mitten im Stress des Umzugs. Ich hätte mir für meine Schwester eine andere Umgebung gewünscht. Weniger Stadtlärm, weniger Dreck, einen netteren Vater und eine saubere Wand. Doch nun war es wohl zu spät.

 
Meine Mutter schwebte durch die Haustür, zwei große Alditüten in den Händen und strahlend wie immer. Meine Mama war und ist wirklich so ein Ding für sich. Unheimlich ironisch ist sie, hat einen ähnlichen Galgenhumor wie ich und ist mindestens genauso unordentlich. Sie ist stets verplant und vergisst schnell einmal „unwichtige“ Termine und Pflichten wie „Tochter abholen“ oder „Hund füttern“. Trotz allem bekommt sie ihr Leben irgendwie geregelt. Wenn sie sich dann tagsüber im Job quält, braucht sie abends Entspannung. Die bekommt sie am besten in Form von Kochen und Putzen. Ich glaube zu wissen, warum sie nie Probleme hatte, Männer zu finden. Übrigens arbeitet meine Mutter als Dermatologin im Krankenhaus, ist aber unglücklich, denn sie wäre viel lieber Schlangenfrau geworden.

 
„Na Mädels, ist Jörgi oben? Ich habe gerade etwas für heute Abend eingekauft, auch Gummibärchen und Schokolade, das gönnen wir uns mal nach diesem anstrengenden Tag, oder? Wir müssen nachher noch die Betten aufbauen, das ist das Wichtigste,...“ Punkt oder Komma gibt es bei meiner Mutter nicht, sie redet gerne und viel. Wenn man auch mal zu Wort kommen will, muss man sie in jedem Fall übertönen. „Mama,“ unterbrach ich sie forsch. „Ich seh mich hier noch ein bisschen um. Ich habe eben erst Lasagne gegessen.“ Meine Mutter leckte sich zuckend über die Lippen und steckte die Hände in die Hosentaschen ihrer Blue Jeans. Dann räusperte sie sich kurz. „Ja, okay. Mach das. Komm Nora, wir gehen dann schonmal hoch.“ Sie zog Nora mit sich die Treppe rauf und ich hörte sie plappern, bis schließlich in drei Stockwerken Entfernung unsere Haustür ins Schloss gezogen wurde. Meine Mutter war schnell beleidigt und enttäuscht. Hatte sie sich den Abend gemütlich mit Schokolade und Gummibärchen auf dem Sofa zwischen aber millionen Umzugskartons vorgestellt, musste es nach Möglichkeit auch genau so von statten gehen. Aber ich brauchte meine Ruhe. Ein wenig Ruhe, hier, im abendlichen Prenzlauer Berg.

 
Ich schlenderte die Straße hinunter Richtung Sonnenuntergang. Die rote Glut spiegelte sich in den Fenstern der nah am Straßenrand liegenden Häuser. Ich konnte in einige Küchen und Wohnzimmer der Erdgeschosse sehen und freute mich das erste Mal an diesem Tag, dass wir in den dritten Stock gezogen waren.

 
Die Abendsonne wich einem ausdruckslosen und trüben Grau und ich nahm die gelb und orange leuchtenden Straßenlaternen wahr, an denen ich etwa im Minutentakt vorbeitrödelte. Als auf der linken Straßenseite eine Tankstelle auftauchte, kaufte ich mir eine Fernsehzeitung und unterhielt mich kurz mit dem netten Tankwart, der ein erfrischendes Berlinerisch sprach und mir einige urige Kneipen in der näheren Umgebung empfahl. Als er sich als Begleiter anbot, eilte ich mit der Ausrede, nun unbedingt meinen imaginären Freund von der Arbeit abholen zu müssen, wieder auf die Straße hinaus, flüchtete mich in einen gähnend leeren McDonalds und kaute dort eine gute Stunde an 5 ½ Chicken Nuggets herum. Als ich endlich merkte, dass ich gar keinen Hunger hatte und daraufhin die Nuggets im Tablettwagen versenkte, war es bereits nach 22 Uhr und ich ging hinaus, um mich wieder gen Alptraum Umzug zu bewegen. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen und die Luft roch nach nassem Asphalt. Für den Spätsommer war es eindeutig zu kühl und der Niederschlag in diesem Monat viel zu üppig.

 
Als der Regen in einen leichten Niesel überging, ging ich in mäßigerem Tempo den Weg zu unserem Haus zurück, diesmal auf der anderen Straßenseite. Hier bot sich ein ähnlicher Anblick wie auf der Nachbarseite, dennoch konnte ich bereits die erste Empfehlung des Tankstellenmannes ausfindig machen. Eine Art Pub, klein und unscheinbar und ganz offensichtlich seit Jahren geschlossen.

 
Ich begann, den Prenzlauer Berg zu hassen.

 
Unser Haus war eines von vielen, hässlich und groß. Von innen jedoch war es durchaus akzeptabel. Und dass wir einen äußerst freundlichen und kompetenten, aber auch pingeligen Hausmeister hatten, stellte sich schon an diesem ersten, verregneten Abend in Berlin heraus. Nachdem ich mit nassen Schuhen den Hausflur betreten hatte und mich im Dunkeln die Treppe hinauf bewegen wollte, hörte ich knapp neben meinem Ohr plötzlich ein widerwärtiges Gehechel und Gekeuche. Ich witterte sexuelle Übergriffe und verfluchte diesen Ort aufs Neue. Wild um mich schlagend und verzweifelt an der Wand den Lichtschalter suchend, versuchte ich, mich vor dem potentiellen Angreifer zur Wehr zu setzen. Im Selbstschutzwahn merkte ich kaum, wie das Licht angeschaltet wurde und ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit weißem Wuschelkopf verzweifelt versuchte, sich meine Hände aus dem Gesicht zu fegen. Als ich ihn sah, hielt ich inne. „Mädel, meine Pumpe, meine Pumpe...“ Er hielt sich mit der linken Hand an sein Herz und sah mich bettelnd an. „Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ Ich verschränkte die Arme und wich einen Schritt zurück. „Ich bin der Herr Ketel, bin hier der Mausheis... äh, Hausmeister, ich wollte gerade die Lampe, also... Die Lampe reparieren, sie, sie, also die Lampe, sie ist kaputt.“ Er wirkte so verwirrt und verängstigt, dass ich erleichtert seufzte und ihm meine Hand entgegenstreckte. „Wir sind heute oben eingezogen. Ich kenn mich hier noch nicht so aus.“ Ich lächelte ihn an, was bei meiner Aufregung vermutlich reichlich bescheuert aussah. „Ja, ich weiß, äh, herzlich Willkommen im Prenzl`berg, willkommen, willkommen. Nun aber, Sie haben nasse Schuhe, warten Sie...“ Er drehte sich um und hastete davon. Kurz darauf kam er mit einem Stapel Lappen wieder und baute mir daraus eine Brücke von der Haustür zur Treppe. Hätte ich ihm nicht versprochen, die Treppe gleich am morgigen Tag zu putzen, hätte er die Lappen vermutlich die drei Stockwerke hinauf bis zu unserer Wohnung gelegt.

 
Nachdem ich den Hausmeister abgewimmelt und mich eine Menge Stufen hochgequält hatte, schloss ich leise unsere Wohnungstür auf und bahnte mir einen Weg durch den dunklen, mit Kartons zugestellten Flur. Offenbar schliefen hier alle. Es dauerte nicht lange, dann tat ich das auch. Und es war wohl der beste Schlaf, den ich jemals hatte. Tief und fest. Beinahe komatös.

 
 

 
Die darauffolgenden Tage und Wochen vergingen fast unbemerkt. Ich hasste den Prenzlauer Berg nicht mehr. Im Gegenteil, er wurde mir sogar immer sympathischer, denn ich hatte Menschen kennengelernt, die so sehr den Charakter dieses Stadtteils widerspiegelten, das es mich immer wieder aufs Neue amüsierte: Sie waren alle, durch die Bank durch, chaotisch und verplant, humorvoll und ironisch, außergewöhnlich und ausdrucksstark, gastfreundlich und feierfreudig, anspruchslos und engagiert, einfühlsam und lieb. Und irgendwie, ich kann es kaum erklären, sieht der Prenzlauer Berg ganz genau so aus. Man muss hier gewesen sein, um zu erkennen, dass ein Stadtteil verplant, humorvoll, ausdrucksstark, feierfreudig, engagiert und einfühlsam aussehen kann.

 
Den Grundstein für meinen neuen Berliner Freundeskreis legte Sybil, von jedem aber nur Billie genannt. Sie wohnte im gleichen Haus wie ich, ein Stockwerk tiefer. Und hätte ich nicht einmal im volltrunkenen Zustand (zu meiner Verteidigung muss ich an dieser Stelle sagen, dass ich zuvor auf einem Geburtstag eingeladen war und somit wohl durchaus betrunken sein durfte) versehentlich an ihrer Tür geklingelt, hätte ich sie wohl nie kennengelernt.

 
Billie sah immer so aus, als käme sie gerade aus dem Fitness-Studio: Sie trug grundsätzlich Turnschuhe, Jogginghose und T-Shirt. Trotzdem sah sie stets gut gekleidet aus. Irgendwann fand ich heraus, dass sie gar keinen Sport trieb sondern die Klamotten nur aus „Gemütlichkeitsgründen“ trug. Wie sie dann zu so einer guten Figur kam, frage ich mich bis heute.

 
Auf Billie folgte Simone, auf Simone folgte Katha und auf Katha folgte Victoria. Ich hatte bereits zwei Wochen nach unserem Umzug nach Berlin das Gefühl, nie in meinem Leben so viele Menschen gekannt zu haben. Und jeden Tag lernte ich neue kennen, die beinahe alle nett und freundlich und irgendwie so „anders“ als die wenigen Freunde waren, die ich mir zu Brandenburger Zeiten in 17 langen Jahren mühsam zusammengesammelt hatte. Und sie teilten alle die bereits aufgezählten Charaktereigenschaften mit dem Prenzlauer Berg.

 
Es gab Orte und Plätze, wo wir uns bevorzugt trafen, doch die variierten täglich.

 
Eines Tages saß ich bei Billie, wir sahen fern und tranken Kaffee. Ich war froh, meine freie Zeit – und davon hatte ich viel, da ich keinen Ausbildungsplatz in Berlin gefunden hatte – nicht ständig bei meiner Familie verbringen zu müssen. Meine Schwester hatte Probleme, mein Stiefvater machte Probleme und meine Mutter, die diese ganzen Probleme aufzufangen versuchte, lud den entstandenen „Problemberg“ teils bei mir ab, um sich zu entlasten. Ich hatte jedoch selbst auch Probleme und versuchte erfolglos, sie zu vergessen und zu verdrängen.

 
Als wir noch in Brandenburg gewohnt hatten, hatte ich drei Jahre lang einen Freund, den ich etwa das erste gemeinsame Jahr unserer Beziehung liebte und das zweite und dritte hasste und versuchte, mich vor ihm zu retten. Vermutlich war ich zu jung und naiv, um rechtzeitig zu erkennen, was für ein kranker Mensch er war, dass er Gefallen daran hatte, mir seelische und körperliche Gewalt anzutun. Letztendlich zogen wir aber nicht nur wegen meiner Mutter nach Berlin, die ein attraktives Jobangebot bekommen hatte, sondern auch wegen mir, der es in der unmittelbaren Nähe ihres Ex-Freundes kaum möglich war, ein einigermaßen normales Leben zu führen.

 
Billie und ich sprachen gerade über die schlechten Laienschauspieler in der Serie, die wir uns täglich einverleibten, als es an der Tür klingelte. Kurze Zeit später grüßte mich ein gutaussehender junger Mann mit einigen CDs in der Hand freundlich. Er übergab Billie die Silberlinge und setzte sich mir gegenüber auf den zu einem Ledersessel gehörenden Hocker. Er trug ein froschgrünes T-Shirt mit heller Aufschrift, eine weite Jeans und auf dem Kopf eine schwarze Mütze, unter der ein paar Fransen dunkler Haare hervorguckten. Er musterte mich kurz und wandte sich dann Billie zu. „Konnte leider nur zwei Booklets kopieren und ganz vollständig sind sie auch nicht, glaub ich.“ Seine Stimme faszinierte mich sofort. Beruhigend und sympathisch und irgendwie geheimnisvoll. „Macht nichts,“ antwortete Billie schnell. „Das ist übrigens Dana. Frisch eingezogen hier.“ Ich lächelte etwas verstohlen, spürbar errötend, aber ein heiseres „Hi“ kam mir gerade noch über die Lippen. „Und das ist Marc, Tiger, Webbel, wie`s gerade gefällt.“ Marc, Tiger, Webbel oder wie`s gerade gefällt grinste mich an und versuchte etwas zu sagen, doch Billie sprach einfach weiter. „Am besten Tiger, so nennt ihn die Allgemeinheit.“

 
 

 
Das war das erste Mal, dass ich Tiger sah und es sollte weißgott nicht das letzte sein.

 

 

 

 
-TAGEBUCHEINTRAG-

 
 

 
Liebes Tagebuch,

 
 

 
in letzter Zeit ist so viel passiert, dass ich kaum zum Schreiben kam.

 
Wir wohnen jetzt schon ein paar Wochen in Berlin und es ist das eingetreten, was ich nie für möglich gehalten hätte: Ich habe mich verliebt. Und das, wo ich mir nach den schlimmen Erlebnissen in der Vergangenheit doch geschworen hatte, mich niemals wieder zu verlieben... Doch es ist passiert und ich bin so unbeschreiblich glücklich! Es fühlt sich so wahnsinnig gut an. Denn das erste mal in meinem Leben werden meine Gefühle wirklich erwidert, das weiß ich einfach!

 
Er ist so lieb und aufmerksam, dass ich die Zeit einfach in vollen Zügen genieße. So starke Gefühle von Zuneigung habe ich noch nie gehabt und es bringt mich völlig durcheinander, aber ich mag diese Verwirrtheit, irgendwie...

 
Ich möchte ihn am liebsten jede Minute um mich haben, ich will ihn ständig sehen. Ich habe fast schon Angst, dass ich ihn damit erdrücke, aber es hat nicht den Anschein... Wir sehen uns so oft es geht.

 
Ich bin so wahnsinnig verliebt... War ich das überhaupt schon mal?

 
Dana

 

 
KAPITEL 2

 
Danny beförderte den klebrigen Tabak vorsichtig mit einer Pinzette in den Pfeifenkopf, während Tiger eine kleine Flamme an ein rundes Stück Kohle hielt, welches sich kurz darauf zischend entzündete. Als es komplett glühte, legte er es auf das Nest aus Tabak und streckte Danny den langen, bunt verzierten Schlauch entgegen. „Willst du denn nicht rauchen?“ fragte dieser verwundert. Tiger schüttelte den Kopf. „Das ist mir zu süß.“ Danny zuckte die Schultern, sog einige Male fest an dem Holzmundstück, woraufhin das Wasser in der Pfeife kräftig zu blubbern begann. Der Qualm, den Danny mir entgegenpustete, duftete nach Erdbeer. „Und das ist nicht schädlich?“ fragte ich etwas unbeholfen. „Nö, das hat überhaupt keine Wirkung. Es macht eben einfach nur Spaß, in so geselliger Runde...“ antwortete Danny und hielt mir das Mundstück unter die Nase. Bevor ich reagieren konnte, schnappte Tiger sich das Teil und gab es Danny zurück. „Lass mal.“ sagte er ruhig und legte den Arm um mich.

 
Danny, ein recht guter Freund von Tiger, lud regelmäßig zum Sit-In.

 
Wir saßen also in seinem Zimmer, ein zum Wohnen umgebauter Dachboden und rauchten Shisha. In der Sofaecke saßen ein paar weitere Freunde, sie unterhielten sich, lachten, tranken Bier oder zockten an der Playstation.

 
Ich stand auf und setzte mich mit an den kleinen Couchtisch, um dem Geschehen auf dem Bildschirm ein wenig zuzusehen. Mir gegenüber saß Laura, Tigers Ex-Freundin und mein ganz persönliches Antiweib. Vermutlich war es nur die Eifersucht, die den Hass in mir entflammte. Dennoch fiel es mir nicht leicht, sie meine Antipathie nicht spüren zu lassen. Tiger hatte es schwer mit mir; er konnte zwar verstehen, dass ich Laura nicht mochte, aber sie gehörte nunmal zu seiner Clique, somit musste ich sie wohl oder übel hin und wieder ertragen.

 
Für mich verkörperte Laura die Hauptfigur in allen Blondinen-Witzen. Wirklich dumm war sie zwar nicht - das muss ich ihr zugestehen - aber sie hatte eine naive und trottelige Art an sich, mit der sie die Männer reihenweise schwach machte. Laura weckte in ihnen offensichtlich den Beschützerinstinkt. Sogar ich hatte manchmal das Bedürfnis, sie in eine Gummizelle zu sperren und vor sich selbst und der Welt zu beschützen... Ja, ich mochte sie herzlich wenig, das gebe ich zu.

 
Tiger grabschte sich seine Zigaretten vom Tisch, setzte sich zu Flo an die Playstation und war bald darauf in einer virtuellen Welt verschwunden. Laura schwang sich graziös vom Sofa und steuerte in seine Richtung. Ehe ich auch nur daran denken konnte, ihr mutwillig ein Bein zu stellen, hatte sie schon ihre Hände auf seine Schultern gelegt und knetete sie kräftig durch. Meine Augen traten aus ihren Höhlen. Als Tiger bemerkte, wer ihm da die Schultern massierte, schüttelte er sich und wischte Lauras Hand behutsam von sich weg. „Was ist denn?“ fragte er verwirrt und sah kurz in meine Richtung. Ich zwinkerte ihm zu. „Nichts, ich wollte nur mal gucken, was ihr hier so macht.“ Laura unterstrich ihre Kleinmädchen-Stimme mit einem unschuldigen Wimper-Geklimper, machte kehrt und ging sichtlich beleidigt zurück zum Sofa. Ich versäumte es diesmal nicht, ihr zumindest einen missbilligenden Blick zuzuwerfen. Es nervte mich gewaltig, dass sie immer wieder Versuche unternahm, sich an Tiger ranzuschmeißen. Vor allem, weil ich genau wusste, dass sie das nur tat, um mich zu ärgern. Und das schaffte sie leider.

 
Unsere Runde zählte acht Augenpaare: Danny, Flo, Nick, Laura, Billy, Katha, Tiger und mich. Wasserpfeifenspezialist Danny saß mit Billy und Katha vor der monströsen Shisha, die mit ihren drei Schläuchen wie eine orientalische Tentakel aussah. Laura und Nick malten an der Wand (Dannys Zimmerwand war wegen anstehenden Renovierungsarbeiten offiziell zur Bemalung freigegeben worden) und an der Playstation saßen die üblichen Verdächtigen Flo und Tiger, die sich auf der Mattscheibe gegenseitig die Birne zermatschten und dennoch immer wieder auferstanden. Kommentare wie „Ey, meine Weichteile“ oder „Bin ich jetzt tot oder was?“ oder auch „Höhö, da lag grad ein Arm von dir“ wunderten mich schon lange nicht mehr. Sie gehörten zum Zocken dazu. Tiger hatte ein rotes Gitarrenplektrum zwischen den Lippen und spielte damit herum. Flo hingegen saß mit halbgeöffnetem Mund neben ihm und sah konzentriert Richtung Fernseher. Ich fand es immer wieder amüsant. Da waren die Jungs plötzlich wieder ganz klein und spielten. Wenn auch nur virtuell.

 
Tiger und ich waren nun schon ein paar Wochen ein Paar und wir genossen unsere gemeinsame Zeit in vollen Zügen. Mir tat es gut, einen so verständnisvollen und liebevollen Partner an meiner Seite zu wissen, der mich unterstützte und mir zuhörte. Und ich verliebte mich jeden Tag mehr in ihn.

 
Ich sah gerade noch, wie Danny einige braune Krümel in den Pfeifenkopf bröselte, als sich auch schon ein beißender Geruch verbreitete. Tiger ließ augenblicklich den Cursor der Playstation fallen, drehte sich um und starrte Danny ungläubig an. „Wieso fängst du jetzt an zu quarzen? Und wieso mit dieser dämlichen Pfeife?!“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll und unsicher zugleich. Ich hielt mich zurück, zumal ich wusste, dass beinahe jeder von Tigers Freunden kiffte und ich wusste auch, dass Tiger es hin und wieder tat. Ich tat es nicht und hatte es auch nicht vor. Dennoch wollte ich nicht, dass Tiger kiffte – zumindest nicht wenn ich dabei war. „Ey Kurzer, ich wollte das ja nur mal probieren... das knallt bestimmt ordentlich.“ „Da knallt überhaupt nichts!“ entfuhr es Tiger und wollte aufspringen, um die Krümel wieder aus der Pfeife zu entfernen, blieb bei dem Blick auf mein verwirrtes Gesicht aber sitzen. Was interessierten ihn diese blöden Krümel? Sollten sie doch Danny gehören und sollte der sie ruhig rauchen! „Komm, rauch die lieber in einer richtigen Pfeife.“ sagte Tiger leise, offensichtlich darauf erpicht, dass ich es nicht hörte. Sein Interesse für die Hanfbrösel verwirrten mich zunehmend. Ich atmete tief durch und fragte Danny: „Wo hast du das denn her?“ Wie in Zeitlupe sah ich Dannys Arm in Tigers Richtung schnellen, sofort merkend, dass er das lieber nicht hätte tun sollen. Tiger sprang auf, sah Danny an, schüttelte enttäuscht den Kopf und verschwand aus dem Zimmer. Mich würdigte er keines Blickes, denn er ahnte, dass ich sauer war.

 
Alle saßen still da, etwas betreten. „Dana...“ begann Danny schüchtern. „Es ist so. Das hier,...“ er hielt einen Beutel mit Cannabis hoch und wedelte damit. „...das hier ist Schwarze Afghane. Das ist extrem guter Bobel und den hat der Kurze für mich besorgt. Mehr nicht. Okay?“ „Aha.“ entgegnete ich leise. Ich vernahm ein Kichern aus Lauras Richtung. Ohne darauf zu reagieren stand ich auf und folgte Tiger.Vergeblich suchte ich im dunklen Flur einen Lichtschalter, doch der Spalt unter der Badezimmertür leuchtete hell. Ich lehnte mich an die Tür und trommelte sanft dagegen. „Mach mal auf, Schatz.“ „Ja, Moment.“ Kurz darauf ertönte die Klospülung, dann ein Wasserplätschern und schließlich das Drehen des Schlüssels. Er öffnete die Tür und sah mich schuldbewusst an. Ich schob ihn beiseite und setzte mich auf den Rand der Badewanne. Er schloss die Tür und setzte sich auf den kleinen Teppich vor der Wanne. Er legte den Kopf schief, sah zu Boden und nach einer Weile zu mir rauf. „Bist du sauer?“ Seine Stirn kräuselte sich treudoof. „Nee...“ erwiderte ich schnell. „Aber es erschreckt mich, dass du Danny das Zeug besorgt hast. Wo hattest du das denn her?“ Tiger rieb sich den kleinen Bart, den er sich am Kinn hatte stehen lassen. "Du hast Connections, oder?" beantwortete ich mir selbst die Frage. „Ich habe was?“ fragte er verwirrt. „Du hast noch Kontakte zur Szene, oder?“ Ich wusste über seine Vergangenheit bestens Bescheid. Er winkte ab. „Ich kenne eben jemanden, der verschiedene Bobelsorten verkauft und da hab ich für Danny was besorgt. Was ist denn so schlimm daran?“ Wieder dieses unschuldige Stirnkräuseln. „Schlimm ist, dass du echt Ärger bekommen könntest. Du sitzt auf heißen Kohlen, im Gegensatz zu Danny. Wenn du mit dem Zeug erwischt wirst, hast du richtig Probleme. Danny hätte sich das doch selber kaufen können.“ Tiger machte einen Schmollmund. „Mhm. Ja, stimmt wohl. Aber dafür sind Freunde doch...“ „Das hat nichts mit Freundschaft zu tun.“ unterbrach ich ihn schnell. Tiger lächelte. „Ja, Mama, okay.“ „Ich m! eine es ernst.“ sagte ich mit etwas Nachdruck. „Ich auch.“ entgegnete er und klang verdammt ehrlich dabei.

 
 

 
KAPITEL 3

 
Es roch nach alt. Anders kann ich es nicht beschreiben. Der Teppichboden war schmutzig und übersät mit kahlen Stellen. Als hätte das nicht schon gereicht, war er auch noch kotzgrün. Ich stand auf der obersten Treppenstufe, in der Hand ein Brief. Darin eine hochoffizielle Erklärung meiner Mutter, dass Tiger eine Nacht bei mir schlafen dürfe. Bescheuert. Zumal Tiger schon zig Male bei mir geschlafen hatte, wovon die Heimerzieher nichts wussten. Meine Mutter hatte den Brief laut lachend unterschrieben, mit den Worten „Sei froh, dass du bald 18 bist, Tiggs.“ Sie nannte Tiger oft so, keine Ahnung warum. Sie liebte ihn abgöttisch, ganz im Gegensatz zu meinem Stiefvater.

 
An diesem Tag saß Tiger noch in der Schule, es war kurz nach 14 Uhr und ich stand vor der Tür des Heimsekretariats, um den blöden Brief abzugeben. Ich wollte Tiger den Umweg zum Heim ersparen und freute mich darauf, ihn gleich vor seiner Schule abzufangen.

 
An der Tür klebte ein Schild mit der Aufschrift „Büro“, daneben stand in Druckschrift „Scheiß Pissladen hier“. Ich grinste, holte tief Luft und klopfte. Keine Antwort. Hätte ich keine Stimmen hinter der Tür gehört, wäre ich vermutlich wieder gegangen. Ich öffnete, trat ein und stand vor einem riesigen Schreibtisch. Dahinter saß eine kleine dicke Frau, deren Brüste auf die vor ihr liegende Tastatur quollen. In der einen Hand hielt sie einen Telefonhörer, in der anderen eine Banane. Sie nickte mir zu und zeigte mit der Banane auf einen neben der Tür stehenden Stuhl. Ich setzte mich und wedelte mir mit dem Brief ein wenig Luft zu. Hier stank es gewaltig, noch schlimmer als auf dem Flur. Nach alten Büchern, Zigarettenqualm und einem viel zu schweren Parfüm. Die Frau hatte rote Haare, eindeutig gefärbt, denn an ihrem Mittelscheitel blitzte ein grauer Ansatz. Sie trug einen Pferdeschwanz mit einem knallpinken Haarband. Ihre kleine Brille mit den grünen Rändern war bis zur Nasenspitze vorgerutscht. Sie hatte Wangen wie eine Bulldogge und selbst ihre Finger waren fett. An ihrem Ringfinger saß ein wuchtiger Goldring mit lila Stein. Die Fingernägel waren ebenfalls lila. Mir fiel auf, dass der schwere, ekelerregende Parfumgestank irgendwie zu ihr passte.

 
Sie schmiss den Hörer zurück in seine Station, schmetterte in einem irren Tempo einige Sätze in die Tastatur und schaute dann langsam zu mir auf. „Na, wat jibbet?” fragte sie mit Berliner Dialekt. Dabei lächelte sie mich an und entblöste eine Mundbaustelle, über die sich jeder Zahnarzt gefreut hätte. Ich stand auf und überreichte ihr den Umschlag mit der Einverständniserklärung. „Ähm, Marc will heute bei mir schlafen. Ist eigentlich alles abgeklärt.“ „Marc Rothmann?“ fragte sie. Mir war zwar nur ein einziger Marc im ganzen Heim bekannt, dennoch bejahte ich ihre Frage. „Na ja, soweit ich weiß, soll der nicht mehr so viel unterwegs.“ Ihre Stimme hatte einen seltsamen, vorwurfsvollen Unterton. „Aber wir wollen doch gar nicht...“ Ich wusste selbst nicht, wofür ich mich rechtzufertigen versuchte. „Jaja, ich weiß ja. Moment.“ Als sie den Brief öffnete und den Zettel herauswühlte, ging eine Nebentür zum Büro auf und ein hagerer, ergrauter Mann mit Hakennase kam hereingeweht. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette. „Margarete, ich hätte das hier gerne kopiert. Je Zehn Mal.“ Wie er es schaffte, den Mund beim Sprechen so wenig zu bewegen, dass die Kippe nicht herausfiel, war mir ein Rätsel. Er schmiss der dicken Margarete einen Stapel Blätter auf den Tisch, drückte seinen Glimmstängel aus und sah ihr über die Schulter. Sie hielt noch immer meinen Brief in den Händen. Der Alte sah langsam auf und musterte mich in aller Ruhe. Dabei bewegte er seinen Unterkiefer wie eine Kuh und schmatzte. Ich versuchte, meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Sie waren schwer wie Blei. Der seltsame Typ streckte mir seine Hand entgegen. „Lammberg. Mit wem habe ich die Ehre?“ „Ich bin die Freundin von Marc.“ Ich hatte einen Kloß im Hals, der Name Lammberg kam mir aus Tigers Erzählungen allzu bekannt vor. „Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er erneut. Ich spürte, wie der Schweiß aus den Poren in meiner Hand schoss und fürchtete, jeden Moment von seinen Flossen zu glitschen. Hilfe. „Dana. Entschuldigung.“ Er lächelte. „Soso.! Dana. D ie Freundin von Marc. Soso.“ Endlich ließ er meine Hand los. Erst jetzt sah ich, dass er ein Glasauge hatte. „Und Marc will also heute Nacht bei dir schlafen?“ „Ja, das hatten wir so vor. Ich hoffe das geht in Ordnung.“ Die folgende Sprechpause war eindeutig etwas zu lang. „Ja, also...“ begann Lammberg mit gespielter Nachdenklichkeit. „Weißt du, Dana, Marc und ich haben zur Zeit einen kleinen Konflikt.“ (Bitte verschon mich mit deinem Erzieher-Scheiß!) „Marc hat sich in der Vergangenheit ziemlich viel erlaubt.“ (Verschon mich! Halt deine dumme Klappe und spuck nicht so beim Reden!) „Er ist sehr unvernünftig, weißt du. Und Sanktionen versteht er einfach nicht. Er ist uns gegenüber völlig respektlos.“ (Lackaffe!) „Du solltest dir überlegen, ob du wirklich mit ihm befreundet sein willst.“ (Halts Maul, du Nazi!) „Er ist wirklich unberechenbar.“ (Ich werde gleich unberechenbar!) „Wir hatten eigentlich die Vereinbarung, dass er erstmal nicht mehr auswärts schläft.“ (Tu ihm das nicht an!) „Wir glauben, Marc muss erst einmal ein wenig zu sich selbst finden.“ (esoterischer Nazi-Lackaffe!) „Ich möchte, dass er diese Nacht hier schläft.“ Ende der Fahnenstange. In mir brodelt es, doch ich drehte mich kleinlaut um und ging.

 
Der Schulhof war wie leer gefegt, um diese Uhrzeit hatten fast alle längst Unterrichtsschluss. Punkt halb drei, die Glocke ertönte. Kein glockentypisches „Ding-Dong“, auch kein schrilles „Rrrring“, vielmehr ein hochmodernes „Tatata“, das sich wie ein Handy-Klingelton anhörte. Zwei türkische Jungs trotteten aus dem Schulgebäude und drehten sich im Gehen einen Joint. Kurz darauf kamen einige Mädchen auf hochhackigen Schuhen herausstolziert, die wie Hühner gackerten. Unter ihnen – wie konnte es anders sein – Laura. Als sie mich sah, winkte sie mir zu und rief: „Tiger sitzt noch drinnen, geh mal lieber rein!“ Lauras ungewohnte Freundlichkeit erstaunte mich, dennoch bedankte ich mich für die Auskunft und ging in die Schule. Ich stand in einer riesigen Eingangshalle, inmitten einer Pfütze aus Seifenwasser. „Geh ruhig weiter, ich muss sowieso nochmal putzen!“ Die Putzfrau, die plötzlich neben mir auftauchte, schien es gewohnt zu sein, dass man ihren frisch gewischten Boden wieder schmutzig machte. Ich entschuldigte mich und ging einen Flur entlang. Von der Halle gingen insgesamt vier lange Flure ab, aber nur aus einer Richtung kamen Stimmen. Bald darauf hatte ich Tiger in seinem Klassenzimmer gefunden. Er stand vorne am Lehrerpult und unterhielt sich mit seinem Lehrer. Ich blieb vor der Tür stehen und lauschte. „Du musst dir andere Prioritäten setzen. Auf jeden Fall brauchst du mehr Zeit zum Lernen. Und lass dich nicht immer ablenken. Ich weiß, dass das schwer ist. Aber beteilige dich wenigstens am Unterricht. Du kannst es doch. Ich sehe doch, dass du es kannst. Aber du lässt dich ständig ablenken.“ Der Lehrer, noch recht jung, vielleicht Mitte 30, redete auf unaufhaltsam auf Tiger ein. Von dem hörte man nur „Hm“ oder „Ja“. „Ich kann mir vorstellen, dass man im Heim auch nicht besonders gut lernen kann. Deine Kollegen haben ja auch Schwierigkeiten. Und es mag sein, dass ihr auch nicht genügend unterstützt werdet. Aber du weißt, dass ich oft genug mit den Betreuern dort geredet habe. Vielleicht wäre Nachhilfe ma! l eine O ption.“ „Oh, nee...“ erwiderte Tiger prompt. „Hör mal, ich weiß, dass in dir noch viel mehr steckt. Ich habe noch nie einen so schlagfertigen Schüler gehabt. Und dass du sportliches Talent hast, weißt du selbst. Das musst du nutzen, verdammt. Lass deine Talente nicht so einfach verkommen. Was ist, wenn du nach der Schule auf der Straße sitzt, ohne Job...“ „Wer sagt, dass ich die Schule überhaupt schaffe?“ „Aber du hast doch schon einen Hauptschulabschluss, Marc. Wenn du tatsächlich backen bleibst, kannst du damit doch auch was machen. Schwebt dir was vor?“ „Nee, gar nichts.“ „Überleg doch mal, was du alles kannst. Du könntest auf jeden Fall einen sportlichen Beruf ergreifen, irgendwas mit viel Bewegung. Oder etwas Kreatives. Herr Hugel hat bei unseren Versammlungen immer wieder von deinen Bildern geschwärmt. Du könntest auch einen sozialen Beruf ergreifen. Oder was im pflegerischen Bereich. Du hast so viele Möglichkeiten...“ Ich hörte Tiger seufzen. „Wie siehts denn mit dem Halbjahreszeugnis aus?“ Er klang irgendwie traurig. „So wie ich das von den Kollegen gehört habe, nicht gut. Sie schildern alle das gleiche: Mehr Engagement im Unterricht, vollständigere Hausaufgaben und bessere Klausuren. Da fehlt dir teilweise nur ein bisschen Stoff. Das ist ganz leicht zu schaffen. Wenn du dich anstrengst und dir Hilfe holst...“ „Jaja.“ „Ich meine das Ernst, Marc. Ich halte echt viel von dir. Du hast mehr drauf, Junge.“ Ich hörte, wie Tiger sich verabschiedete. Als er mich neben der Tür stehend auffand, zuckte er zusammen. „Meine Güte, Dana!“ „Sorry Schatz.“ sagte ich lachend und küsste ihn zur Begrüßung. Wir gingen zum Ausgang. „Ich habe alles mitgehört.“ Tiger sah mich zerknirscht an. „Na toll.“ „Wie kam es denn zu diesem Gespräch? Was war das für ein Lehrer?” „Mein Deutschlehrer. Beziehungsweise nur der Vertretungslehrer, aber meine Deutschlehrerin fehlt seit einem halben Jahr.“ „Und worum ging es?“ bohrte ich weiter. „Um eine Arbeit. Ich hab in eine Interpretation eine Fünf geballert.“ Ich erschrak. Deutsch war! sonst e her eine von seinen Stärken, wenn man es mit Mathe vergleicht. „Wie hast du das denn geschafft?“ Tiger lachte. „Keine Ahnung! Mein Deutschlehrer hat daneben geschrieben, dass ich eine Menge Flüchtigkeitsfehler gemacht habe.“ „Was denn für Flüchtigkeitsfehler?“ fragte ich. Jetzt fing Tiger richtig an zu lachen. „Das waren gar keine Flüchtigkeitsfehler, es wäre bloß hin und wieder gut gewesen, den Duden zu benutzen!“ Wir schlenderten die Straße entlang und Tiger zog mich Richtung U-Bahn. Mir fiel das Gespräch mit Lammberg, beziehungsweise sein dummer Monolog, wieder ein. „Schatz, ich wollte vorhin den Brief abgeben.“ Tiger sah mich an. „Ja, und?“ „Lammberg war da und er hat gesagt, du sollst heute im Heim bleiben.“ Tiger blieb stehen und sagte einen Augenblick lang gar nichts. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Er sah mich an und doch durch mich hindurch. Dann wühlte er sein Handy aus dem Rucksack. Kurze Zeit später stritt er sich am Telefon – offensichtlich mit Herrn Lammberg. Tiger war zwar sehr wütend und aufgebracht, was man an seiner Stimmlage hören konnte, doch er blieb erstaunlich höflich. Keine Spur von Respektlosigkeit. Einige Minuten später stand Tiger lächelnd vor mir. „Gna, gna, gna!“ >Gna< bedeutete soviel wie >Mannomann<. “Was hat er gesagt?” Tiger stopfte das Handy zurück in den Rucksack und lachte. „Dem muss man manchmal ein bisschen den Marsch blasen.“ „Er hatte zu mir gesagt, ihr habt einen Konflikt.“ Tiger lächelte kopfschüttelnd. „Du, ich will mal wissen, wer keinen Konflikt mit ihm hat. Das ist echt eine Arschgeige. Sexuelle Frustration, eindeutig!“ Ich lachte. „Okay, und du darfst also doch bei mir...“ „Klar.“ So ganz überzeugt war ich zwar nicht von der Richtigkeit seiner Aussage, aber ich glaubte ihm einfach. Ich wollte ihn diese Nacht bei mir haben. Und am Liebsten nicht nur diese.

 
 

 
KAPITEL 4

 
Irgendjemand muss die Welt ja bunter machen.“ Tiger saß mit verschränkten Armen auf meinem Bett und kaute grinsend auf einem Kaugummi herum. Ich sah ihn an und legte den Kopf zur Seite. „Da hast du ja Recht. Aber so...?“ Er runzelte die Stirn. „Wie denn sonst?“ Ich zuckte mit den Schultern. Vermutlich war ich zu konservativ erzogen worden, um die bunten Bilder der Berliner Sprayer-Szene auf U-Bahnen und Häuserwänden nicht erst einmal kritisch zu betrachten. „Kann ich mal mitkommen?“ Ich wusste, dass sowohl meine Stimme als auch meine Körperhaltung deutlich signalisierten, wie unsicher ich war. Dennoch wollte ich endlich wissen, was genau die Begeisterung und Faszination aller mir bekannten Sprayer ausmachte.

 
Tiger sah mich verblüfft an. „Bist du sicher, dass du das willst?“ „Warum nicht?“ Ich stemmte demonstrativ die Hände in die Hüfte. „Ich will ja auch nur gucken. Ich steh nicht im Weg, versprochen.“ Tiger lachte. „Meinetwegen kannst du ruhig im Weg stehen,“ er machte eine kurze Sprechpause. „aber ich... Ich hätte nicht gedacht, dass du echt mal mitkommen willst.“ Ich bemerkte das Strahlen in seinen Augen. Ich lächelte und setzte mich auf seinen Schoß. „Darf ich nun mit oder nicht?“ Tiger gab mir einen lauten Schmatzer auf die Wange. „Klar!“

 
Diese Nacht verbrachten wir also nicht allein, sondern mit Tigers Sprayer-Kollegen, doch das störte mich nicht, denn ich wollte sein Hobby besser kennen lernen.

 
Ich weiß, es muss bescheuert klingen, aber irgendwie gibt es nicht Intimeres als nachts durch Berlins Straßen zu ziehen, selbst wenn die Gruppe verhältnismäßig groß ist. Man ist allein mit der Stadt. Und eben diese nachtumhüllte Stadt, Berlin, hatte in dieser lauen Spätsommernacht tatsächlich etwas romantisches.

 
An einer bestimmten Stelle trennte sich die Gruppe und ich ging mit Tiger und ... mit. Wider Erwarten unterhielten sie sich ganz normal, keine Spur von Furcht oder großartigem Respekt vor der drohenden Gefahr durch die Polizei. Obwohl für uns alle eine Menge auf dem Spiel gestanden hätte.

 
Irgendwann kletterten wir über eine Absperrung an einem U-Bahn-schacht. Tiger hielt meine Hand und führte mich in eine betonierte Ecke, die er sich wohl schon Tage zuvor ausgeguckt hatte. Es war eine Sackgasse, wir hätten also keine Chance zur Flucht gehabt. Aber Tiger sagte, wenn uns jetzt noch niemand bemerkt hat, müssen wir uns darüber keine Gedanken machen. Völlig gelassen packte er ein paar Dosen aus und hantierte mit einigen Zetteln, auf denen er Skizzen gemalt hatte. Bald darauf fing er an, Umrisse zu sprühen, während ... daneben stand und sich ein Bild machte. Dann fing auch er mit sprühen an, allerdings von der anderen Seite. Sie wollten sich in der Mitte treffen. Ich lehnte an der Wand und sah fasziniert zu. Früher wollte ich mal mein Zimmer mit den Farben anmalen und scheiterte kläglich. Es bedarf schon ein bisschen Übung.

 
Nach einer knappen halben Stunde war das Kunstwerk dann fertig. Sie hatten sich tatsächlich exakt in der Mitte getroffen, alles war wahnsinnig akurat und sauber gemalt. Es handelte sich um ein Gebilde dass teilweise einem Schachbrett ähnelte, nur in den Farben grün und blau. Außenrum waren eine Unmenge sich ergänzender Muster und zusammen sah es einfach genial aus.

 
Ich Idiot fragte dann auch noch, wo denn die Action sei. Tiger lachte und sagte er sei ganz froh wenn er in Ruhe malen könne. Die Action ließ dann aber nicht lange auf sich warten.. Wir liefen zurück zum Ausgang, als wir plötzlich Stimmen hörten. Sie kamen von der Absperrung. Tiger hatte seine Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass ich ihn kaum sehen konnte. Aber das war ich gewohnt, er lief meist auch tagsüber so rum. Mit dieser Vermummung rannte er nun die Treppe rauf und kletterte über die Absperrung. Bald darauf winkte uns eine schwarzgekleidete Person zu. Wir sollten nachkommen. Hinter der Absperrung stand unsere Gruppe von vorher. Ein Typ mit qietschgelbem Pullover saß auf dem Boden. Blut rann ihm aus der Nase und ein Auge hielt er geschlossen. Die Schwellung des Auges stach beinahe so weit hervor wie seine Nase. Ich sah Tiger wild artikulierend neben ihm hocken, offensichtlich stritt er sich mit ihm. Immer wieder stieß er den Quietschgelben zurück, während dieser schuldbewusst zu Boden schaute. Dann hörte ich Tiger, wie er rief: „Was bist du für ein idiot, hä?“ Er schubste den Gelben nochmal, bis dieser aufsprang. Tiger setzte sich auch auf und ging einen Schritt auf den Typen zu, der vor Wut schon beinahe Schaum vorm Maul hatte. Einige bemerkten den Streit und versuchten, die Beiden zu besänftigen. Tiger rief wieder: „Du musst mal dein Hirn anschmeißen!“ Dabei tippte er sich gehässig an die Stirn. Dem Gelben quoll allmählich sein gesundes Auge aus dem Schädel. Ich wusste es, gleich würde er auf Tiger springen und ihn mit seinem Gewicht zermalmen. Nicht nur, dass ich nicht wollte, dass Tiger sich prügelte, zumal ich nicht einmal wusste worum es ging. Nein, wir standen noch immer vor der Absperrung. Wir, etwa 8 Leute, alle vermummt und alle um 2 Uhr nachts.

 
Ich ging auf die Streithähne zu und packte Tiger an der Schulter. Er schüttelte mich wieder ab und irgendjemand zog mich an der Jacke nach hinten. Das einzige andere Mädchen das dabei war, flüsterte mir die Sachlage zu. Der Gelbe wollte einen Laden von außen ansprühen. Absolutes Tabu, gibt nur Ärger. Und überhaupt, man wolle niemanden unnötig provozieren. Unsere Ecke im U-Bahn-Schacht war versteckt. Es ging einfach ums Malen, weniger um den Kick dabei. Jedenfalls wehrten sich die anderen dagegen, woraufhin er aggressiv wurde, eine Glasscheibe zertrümmerte und einem Unbeteiligten eine verpasste. Gut, jetzt ist also wahrscheinlich die Polizei alarmiert. Aber warum zum Teufel standen wir noch immer vor der Absperrung??? Das Mädchen sagte, der Gelbe habe sich geweigert, mit abzuhauen, er wolle hier an der Absperrung bleiben. Tiger habe dann versucht ihn zum Mitkommen zu bewegen, woraufhin der Typ gesagt habe, er würde nicht mitkommen, alle bei der Polizei verpfeifen und das kaputte Fenster einem Kollegen zuschreiben.

 
Verständlich also, dass Tiger so in Rage war. Dieser hatte den Gelben inzwischen wieder geschubst, sodass er einen Satz nach hinten machte und mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu halten. Ein winziger Typ mit dunkelblauer Cordjacke mischte sich nun ein. Unter seiner Kapuze kringelten sich eine Vielzahl blonder Haare. Er schubste den Gelben auch nochmal und brüllte mit überraschend tiefer Stimme, dass er zur Vernunft kommen solle. Endlich brüllte dieser zurück. „Haut ab, Mann! Verpisst euch! Ich hab Scheiße gebaut, nicht ihr, also haut ab!“ Tiger ging nochmal auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schaute ihm in die Augen. Der Gelbe blieb regungslos in dem Griff hängen. „Scheiß drauf, komm jetzt mit. Du bleibst nicht hier.“ Er sprach so leise, dass ich es kaum verstand. Jede Silbe betonte er in einer Art, als wolle er einem Idioten das Einmaleins erklären. Er löste den Griff, der Gelbe sank zu Boden und fing erbärmlich an zu heulen. Sirenengeheul in der Ferne. Tiger zog ihn wieder hoch, klopfte ihm auf die Schulter und drehte sich zu mir um. Ein Lächeln, ein Kuss auf die Stirn. Eine Entschuldigung war nicht mehr nötig. Wofür auch?

 
Die Gruppe teilte sich wieder, diesmal in Zwei. Der eine Teil lief nach rechts, der andere Teil, wir, nach links. Der Gelbe war bei uns dabei, was mir ein bisschen Unbehagen bereitete. Tiger zog mich immer weiter durch die Dunkelheit. Vorbei an Häusern, die ich nicht kannte. Wo waren wir? Wieder das Heulen der Sirenen, diesmal näher. Der Typ in gelb fing an zu Jaulen und machte panisch einen Satz nach vorn. Tiger riss ihm den Rucksack vom Rücken und rannte in eine Gasse. Wir hörten, wie er den Deckel eines Müllcontainers zuschlug. Dann kam er wieder rausgerannt, schnappte mich am Ärmel und wir rannten die Straße runter.

 
Ich weiß nicht, wie lange wir rannten, aber als wir stoppten, fühlte ich, wie es sich in meinem Kopf immer wieder drehte. Ich kotzte neben einen blitzeblanken Mercedes, der vor dem Eingang eines Hotels geparkt war. Ich spürte, wie Tiger meinen Rücken streichelte und ich schnappte seine Hand. Ich fühlte mich so elend, dass ich glaubte, ich müsse sterben.

 
Bald darauf saßen wir auf dem Bürgersteig. Der Gelbe grummelte laut vor sich hin. „Warum verdammt hast du die Dosen weggeschmissen? Die waren so teuer, verdammt. Verdammt nochmal!“ Verdammt schien sein Lieblingswort zu sein. Tiger zischte ihm den altbekannten Satz zu. „Schmeiß mal dein Gehirn an.“ Der Typ guckte wie ein Auto, woraufhin Tiger grinsend den Kopf schüttelte. Versöhnlich stubste ihn der Gelbe in die Seite.

 
Ich wusste nicht, ob die Gefahr gebannt war. Wäre ein Polizeiauto an uns vorbeigefahren, hätte es sicher gehalten. Vier dunkel gekleidete (den Quietschgelben ausgeschlossen) Jugendliche, nachts unterwegs in den Straßen von Berlin. Aber sie hatten keine Beweise gegen uns. Höchstens diesen bescheuerten Pullover.

 
Wir liefen den Bürgersteig runter, immer weiter. Er wollte irgendwie nicht enden. Ich wusste immernoch nicht wo wir uns befanden. Wir kamen in ein Wohnviertel, lauter graue Betonblöcke ragten von beiden Seiten über uns empor. Sie nahmen das Mondlicht und die Straßenlaternen leuchteten nur bedeckt. Für einen Moment dachte ich schon, wir seien in Marzahn unterwegs, aber dann wären wir wirklich unmenschlich weit gelaufen. Ich konnte den Fernsehturm wieder sehen und war beruhigt.

 
Die Nacht war ruhig. So ruhig wie es in Berlin nachts halt sein kann. Der Straßenlärm dröhnte von weit entfernt, nicht direkt neben dem Ohr. Nur ab und zu rollte ein Auto an uns vorbei. Tiger rauchte inzwischen seine dritte Zigarette innerhalb einer halben Stunde. Mich juckte es in den Fingern. Er war offensichtlich nervös, und das nicht zu knapp.

 
Wir liefen immer weiter, der Gelbe und ... voraus, Tiger und ich eng umschlungen hinterher. Wir trotteten so unseren Weg, wohin er auch immer führte. Auf jedenfall steuerten wir auf den Fernsehturm zu, dahin, wo wir hergekommen waren. Ich versank in meinen Gedanken, während Tiger meinen Nacken kraulte. Das tat er immer, wenn wir so liefen. Ich war also völlig versunken und versuchte, die vergangenen Stunden nochmal durchzudenken..

 
Plötzlich brüllte Tiger direkt neben meinem Ohr „Weg!!!“ sodass ich wahrscheinlich nur knapp einem Herzinfarkt entkam. Ich drehte mich um und sah, wie ein Streifenwagen ohne Blaulicht wenige Meter hinter uns fuhr. Automatisch rannten wir alle in eine Querstraße, die links von unserem Weg abging. Die Straße führte auf eine andere Straße, die parallel zur ersten verlief. Wieder fanden wir eine Querstraße, diesmal völlig unbeleuchtet und ich stolperte ein paar Mal fast über herumliegende Gegenstände. Wir kamen an einem Tor an. Ein Friedhof. „Scheiße, ist das hoch“ hörte ich mich murmeln. „Ich heb dich rauf, okay?“ Ohne meine Antwort abzuwarten stemmte Tiger mich in die Höhe und ich schwang mich über das Tor. „Passt auf, da sind Spitzen oben dran!“ Ich sprang runter. Ich sah Tigers besorgten Blick, als er über die Spitzen kletterte. Wie gut, dass ich kein Mann bin.

 
Als wir alle drüben waren, orientierten wir uns erstmal. Der Friedhof erstreckte sich im Licht von drei mickrigen Laternen ins Endlose. Man konnte in keinster Weise einen Weg ausmachen, der uns wieder auf eine Straße geführt hätte.

 
Ich kam mir vor wie in einem Film. Ein Action-, Horror-, Thriller-, Gangster-, Lovestorymix. Der Film hätte einen Oskar verdient. In so einen Streifen gehört natürlich ein Held, ein junges, hübsches Fräulein und ein paar Typen in den Nebenrollen. Ich denke, in unserem Fall war die Rollenverteilung klar.

 
Ich, als das junge, hübsche Fräulein, klammerte mich theatralisch an meinen Helden, zitterte und sagte mit zaghafter Stimme: „Ich hab Angst, mein Held“. So war es damals wirklich. Ich hatte offensichtlich meine idiotische Phase. Tiger jedenfalls klinkte sich in meine Beklopptheit ein, wirbelte mich rum und sagte ebenso theatralisch: „Hab keine Angst mein Kind, du bist von starken Männern umgeben.“ Schluss mit lustig, wir mussten weiter. Ob die Polizei noch in der Nähe war wussten wir nicht, aber sie hatte sicherlich unsere Fährte aufgenommen.

 
Wir rannten quer über den Friedhof, bis Tiger einen Ausgang wahrnahm und uns in die Richtung führte. Der gelbe Trottel fiel unterdessen noch über einen Grabstein.

 
Damals lachte ich darüber, heute dreht sich mir bei dem Gedanken eher der Magen um.

 
Nun sahen wir das Tor auch, rannten darauf zu und wollten schon rüberklettern, als Tiger feststellte, dass es geöffnet war. Er lachte. Wahrscheinlich war das erste Tor, über das wir geklettert waren, auch offen gewesen. Aber das wäre für unseren Film ja zu langweilig gewesen. Ein bisschen Dramatik muss schon sein.

 
Recht gemächlich gingen wir eine breite Straße entlang. Endlich wusste ich, wo wir waren. Nicht mehr weit. Tiger kramte sein Handy aus der Hosentasche und rief irgendeinen von den anderen an. Er sprach so laut, dass ich annahm, der Angerufene stehe vermutlich in einer lärmenden Umgebung. Er ließ das Telefon wieder verschwinden und sagte, die Anderen seien am Alex. Er fügte ironisch hinzu: „Welch gutes Versteck aber auch!“

 
Kurz darauf fanden wir die Anderen auf einer Bank sitzend vor. Die Rucksäcke hatten sie scheinbar auch entsorgt. Das Mädchen, dass mir mir vorhin ins Ohr geflüstert hatte, saß auf dem Boden. Ihre Hose war am Knie kaputt, die Haut darunter war aufgeschürft und blutete. „Autsch“ sagte Tiger mitleidend. „Ich bin über eine tote Katze gefallen.“ entgegnete sie. Na lecker.

 
Wir saßen bestimmt noch zwei Stunden am Alexanderplatz rum. Wir unterhielten uns alle leise und konnten uns dabei kaum sehen, weil die beiden nahen Laternen ausgeschaltet waren. Tiger und ich saßen allein auf einer Bank, den anderen gegenüber. Ich hatte mich so hingelegt, dass ich seine Beine als Kopfkissen benutzen konnte. Er kraulte wieder meinen Nacken, aber diesmal fing ich nicht an zu träumen und war angesichts der ganzen Abenteuer auch noch nicht müde. Ich hörte zu, wie sich die Anderen unterhielten. Meist ging es ums Sprayen. Sie benutzten Wörter und Ausdrücke, die ich nicht kannte. Aber man lernt ja nie aus. Das Mädchen mit dem blutigen Knie verstand offensichtlich auch nicht all zu viel und fragte immer wieder nach. Das ersparte mir, mich auch am Gespräch zu beteiligen.

 
Tiger, der noch gar nichts gesagt hatte, ließ sich irgendwann etwas tiefer in die Bank sinken, sodass ich mich auf seinen Bauch legte. Ich konnte sein Herz schlagen hören und sein Bauch hebte sich bei jedem Atemzug.

 
Langsam wurde es wieder hell und die Gespräche wurden inhaltsloser. Die Worte lallten vor Müdigkeit. Der Kleine mit dem Lockenkopf deutete irgendwann in unsere Richtung und das Kniemädchen lachte. Ich drehte mich und sah Tigers Kopf genau über meinem baumeln. In seinem Mund noch die Zigarette, die er sich vor zwei Stunden anzünden wollte.

 
 

 
KAPITEL 5

 
Als ich aufwachte, war es schon Mittag. Wir waren erst am frühen Morgen bei mir gewesen und hatten noch die Wiederholungen der Simpsons angesehen.

 
Tiger lag noch ganz friedlich neben mir und schlief. Ich strich ihm über die Wange und er öffnete die Augen. „Guten Morgen.“ nuschelte er verschlafen. „Wohl eher Guten Mittag, es ist schon nach zwölf.“ Tiger schoss hoch und saß kerzengerade im Bett. Ich lachte. „Es ist Samstag, Schatz!“ Er seufzte erleichtert, rieb sich die Augen und gähnte. „Wann waren wir denn überhaupt hier?“ Ich überlegte. „Um sechs oder so, es war auf jeden Fall schon hell.“ „Oha...“ Tiger gähnte noch einmal. „Wollen wir duschen gehen?“ fragte ich ihn, denn ich hatte keine Lust, im Bett zu bleiben. Tiger gähnte zum dritten Mal und quälte sich unmotiviert aus dem Bett.

 
Meine Mutter stand in der Küche und rührte lustlos in einem riesigen Topf herum. „Na ihr Süßen, habt ihr schon Hunger? Wann ward ihr zuhause? Ich habe euch gar nicht gehört.“ Tiger war schon im Badezimmer verschwunden. Eigentlich duschten wir immer zusammen, aber er stand offensichtlich so sehr neben sich, dass er selbst das vergessen hatte. „Ich glaube, Tiger hätte gut noch länger schlafen können!“ sagte ich lachend. „Ja, ihr seid ja auch verrückt, so lange unterwegs zu sein. Hat er gemalt?“ Ich hatte vor meiner Mutter keine Geheimnisse, sie wusste, wo wir letzte Nacht waren. Sie hatte nicht nur Verständnis, sondern befürwortete das Sprayen sogar. „Ja, hat er. Ich habe leider vergessen, Fotos zu machen.“ „Und die Polizei, ist alles gut gegangen?“ Meine Mutter war sehr neugieriger Natur. „Ja, aber es war schon spannend. Ich glaube, so viel Nervenkitzel ist nichts für mich.“ Meine Mutter lachte und sagte mit einem Zwinkern: „Dann geh ich halt das nächste Mal mit!“

 
Ich sah Tiger mit einem Handtuch um den Hüften über den Flur huschen. Als ich ihm folgte, stand er schon oben ohne auf dem Balkon und rauchte. Die spätsommerlichen Temperaturen erlaubten derartige Aktionen noch. Es war angenehm warm draußen und von meinem Balkon aus hatte man einen schönen Blick über einen Teil der Stadt. Man konnte durch eine einzige klitzekleine Ritze zwischen den Häusern sogar den Fernsehturm sehen. Ich stellte mich zu Tiger und grabschte ihm frech unters Handtuch. Einige Meter unter uns tobte der Verkehr. Hier war es immer laut, obwohl wir in einer verhältnismäßig ruhigen Ecke wohnen. Tiger grinste über beide Backen. „Wenn du da weiter rumfummelst bist du selber Schuld, wenn ich gleich über dich herfalle.“

 
Ich kann kaum beschreiben, wie glücklich ich mit diesem Kerl war. Mit diesem verrückten, chaotischen, lieben, süßen Kerl.

 
Mein Stiefvater kam nach Hause, als meine Mutter gerade Kaffee gemacht hatte. Wir saßen zusammen in unserer kleinen Küche und unterhielten uns. Alles war schön. Bis Jörg kam. Wie bereits erwähnt, er konnte Tiger nicht leiden. Warum genau, wusste niemand so recht, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. „Hallo Claudia. Hallo Dana.“ Trotz aller Ignoranz grüßte Tiger ihn freundlich. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit Jörg auseinanderzusetzen, aber es wäre wohl besser gewesen, wenn er ihn auch einfach ignoriert hätte. „Was willst du hier?“ Jörg klang patzig und unverschämt, wie immer wenn er mit Tiger sprach. Der wiederum blieb ganz cool. „Ich hab hier geschlafen.“ Jörg schnaubte wie ein Rindvieh. „Dann weiß ich ja auch wer heute Nacht so einen Krach gemacht hat.“ Meine Mutter knallte ihre Faust kurz auf den Tisch, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Nur zu deiner Information: Heute Nacht habe ich Krach gemacht. Dana und Marc waren gar nicht da.“ Ich sah, dass sie hektische Flecken am Hals bekam. Die tauchten immer dann auf, wenn sie sich aufregte. „Ach ja? Und wo seid ihr gewesen, die ganze Nacht?“ fragte Jörg und durchbohrte Tiger mit seinem Blick. „Du musst auch nicht alles wissen.“ antwortete ich spöttisch. „Ah. Wie lange bleibst du?“ Er sah wieder Tiger an. Der zuckte mit den Schultern. „Mal sehen.“ „Hoffentlich nicht zu lange! Wenn du weg bist, fehlt mir bestimmt wieder Geld!“ Meine Mutter plusterte sich auf und schlug noch einmal auf den Tisch. „Nun ist aber mal Schluss! Bist du hier der Ober-Arsch, oder was? Marc hat dir nie Geld geklaut, das letzte Mal hast du es selbst verlegt. Da hatte Marc gar nichts mit zu tun.“ Die Flecken an ihrem Hals wurden schon fast lila. Zu meinem Erstaunen war Tiger immernoch ruhig, auch wenn ich wusste, dass ihn das, was mein Stiefvater ihm vorwarf, kränkte. Ich selbst kämpfte bereits mit den Tränen. „Aber dem da trau ich alles zu!“ brüllte Jörg verächtlich und zeigte mit dem Finger auf Tiger. Dann machte er kehrt und verschwand im Wohnzimmer. Ich konn! te die T ränen nicht mehr halten. Tiger nahm meine Hand. „Macht doch nichts, Maus.“ Meine Mutter schloss die Küchentür und setzte sich wieder vor ihre Tasse Kaffee. „Entschuldigung Tiggs. Du weißt ja, wie er ist. Nimm dir das nicht zu Herzen, okay?“ „Nee, mach ich nicht, keine Sorge.“ Tiger schien tatsächlich ziemlich unbeeindruckt von Jörgs Verhalten. Die Tür wurde langsam geöffnet und Nora steckte ihren Kopf herein. „Was ist denn los, warum hat Papa so gebrüllt?“ Sie klang verängstigt. „Der hat eine Macke, Schatz.“ antwortete meine Mutter sanft. Als Nora Tiger entdeckte, freute sie sich sichtlich. „Hallo Tiiigeeer!“ rief sie und umarmte ihn. Auch sie hatte ihn längst in ihr kleines Herz geschlossen und es war wirklich süß mitanzusehen, wie sie ohne Scheu mit ihm knuddelte. Sie war begeistert von seinen Piercings und drehte mit Vorliebe an dem Ring in seiner Lippe. An diesem Tag hatte er dort einen neuen Ring – einen blauen mit einer schwarzen Kugel. Nora bestaunte den Ring fasziniert. Tiger lachte. „Eigentlich bin ich ein ganz schön schlechtes Vorbild, oder? Passt bloß auf, dass Nora nicht auch irgendwann ein Piercing will.“

 

 

 
KAPITEL 6

 
Links neben dem Torbogen standen vier Gartenstühle und ein Tisch, an der Mauer darüber unübersehbar ein Schild mit der Aufschrift: „Rauchen – nur hier!!!“. Zwei Mädchen, vielleicht 15 oder 16, lungerten herum und blätterten in einer Zeitschrift. Als ich an ihnen vorbeiging und freundlich grüßte, musterten sie mich bloß mit einem arroganten Blick und wendeten sich dann wieder ihrem Käseblatt zu. Ich kannte diese unverwechselbare Heim-Freundlichkeit bereits und ging selbstbewusst Richtung Eingang des Jungenhauses. Die kurze Anmeldung bei der Sekretärin vergaß ich einfach großzügig, denn es hätte sowieso niemanden wirklich interessiert, wen ich besuchen wollte und warum und wie lange und überhaupt.

 
Ich besuchte Tiger nicht das erste Mal im Heim. Ich kannte die meisten Leute, die mir begegneten, kannte die Räumlichkeiten und den Umgangston. Ich hatte mir nach den wenigen Malen, die ich zu Gast im Heim war, bereits ein dickes Fell angelegt, was Beschimpfungen, Zurechtweisungen oder Drohungen anging. Auch nahm ich nie viel Geld mit und ließ meine Sachen nicht unbeaufsichtigt liegen. Ich konnte und wollte dort einfach nicht jedem vertrauen – auch nicht den Erziehern. Ich vertraute nur Tiger und der hatte gesagt, ich solle auf meine Sachen aufpassen; also tat ich das auch. Ich schlenderte in das Jungenhaus, als sei ich dort zuhause, winkte einem verwirrten Erzieher zu und stieg die schmalen Stufen zu den Schlafzimmern hinauf. Im Flur roch es – wie immer – nach Zigarettenqualm und Altbau-Muff. Aus dem Aufenthaltsraum kamen Stimmen und Gelächter, aber Tigers Stimme identifizierte ich nicht, also steuerte ich geradewegs auf sein Zimmer zu. Ich klopfte an – keine Reaktion. Nochmal. Immernoch Stille. Langsam öffnete ich die Tür einen Spalt und sah vorsichtig in den Raum. Er war leer. Zumindest menschenleer. Auf und vor Tigers Bett herrschte das übliche Chaos: Schulsachen und Klamotten türmten sich, die Bettdecke war zerwühlt, das Kissen lag am Fußende. Der runde alte Couchtisch, der für gewöhnlich in der Mitte des Raumes stand, war zur Seite gekippt. Durch diese Schräglage war ein Glas heruntergerutscht und der gesamte Inhalt, vermutlich Cola, klebte auf dem Teppichboden. Ehe ich Überlegungen anstellen konnte, was hier vorgefallen war, wurde ich mit sanftem Druck zur Seite geschoben. „Tach“ dröhnte mir eine kräftige, tiefe Stimme ins Ohr. Der Mann, mir bisweilen gänzlich unbekannt, drängte sich an mir vorbei und stürzte sich mit Lappen und Eimer bewaffnet auf den Colafleck. Während er schrubbte, sah er mich aus den Augenwinkeln skeptisch an. „Wenn du mir helfen willst, kannst du dir auch einen Lappen holen. Die sind in dem kleinen Raum neben…“ „Ich…“ unterbrach ich ihn schüchtern. „Ich wollte eigentlich zu M! arc.“ De r Mann hielt kurz inne. „Aha.“ Er schrubbte weiter. Langsam wurde ich unruhig und fragte, wo er denn sei. Der Mann schmiss den Lappen in den Putzeimer, stand auf, kam auf mich zu und fasste mich an die Schulter. Ich zuckte reflexartig zurück. „Wer bist du denn?“ fragte er. Seine Stimme war so ruhig und bedacht, dass es mir richtig Angst machte. „Ich bin seine Freundin. Ich heiße Dana.“ „Aha.“ sagte er. „Und ich bin Flemming. Ich arbeite hier. Ich bin 37 Jahre alt, bin verheiratet und habe zwei Töchter.“ Mein Herz raste. Was wollte dieser Kerl von mir hören? „Ich habe fünf Jahre in einem Heim für schwererziehbare Jungen gearbeitet. Und jetzt bin ich seit zwei Wochen hier. Und ich kann dir sagen, die Jungs in dem anderen Heim waren nichts gegen diese Kotzbrocken hier.“ Er sah mich beschwörend an. „Und du, Dana, du siehst nett aus. Du siehst so aus, als hättest du Grips hinterm Pony. Ich denke nicht, dass du es nötig hast, dich mit Leuten abzugeben, die dich in einer Weise beeinflussen könnten, die ganz und gar nicht gut für dich wäre.“ Ich schob seine Hand von meiner Schulter. „Ich lasse mich nicht beeinflussen. Und erstrecht nicht von Ihnen.“ Flemming lächelte. „Wenn du meinst, ich sage nur die Wahrheit, Dana. Marc sitzt oben im Mitarbeiterraum. Wenn du zu ihm gehst, nimm das hier mit.“ Er drückte mir eine kleine Dose in die Hand. Ich ließ den Erzieher zurück und öffnete die Dose, während ich die Treppen zum Mitarbeiterraum hochstieg. In der Dose waren Pillen. Kleine, weiße Pillen.

 
Ich öffnete die Tür zum Mitarbeiterraum. Das Zimmer war hell und freundlich, mit pastellgelben Vorhängen und Blumenbildern an den Wänden. Um den großen Holztisch standen blaue Stühle, der Teppichboden war hell und sauber.

 
Tiger saß im Fensterrahmen und sah hinaus. „Hallo Schatz.“ sagte ich leise. Tiger antwortete nicht, aber ich sah, dass er den Blick ein wenig senkte. Ich trat zu ihm ans Fenster. Erst jetzt sah ich das getrocknete Blut an seiner Nase. In der Hand hielt er ein mit Blut getränktes Taschentuch. „Was ist passiert?“ rief ich entsetzt. Tiger biss sich hörbar auf sein Zungenpiercing und schüttelte leicht den Kopf. „Geh lieber nach Hause, Süße. Ich ruf dich nachher an. Ja?“ Er sah mich mit trüben Augen an. „Was ist hier passiert?“ fragte ich erneut. „Und was ist das hier?“ Ich hielt ihm die Dose unter die Nase und er griff schnell danach. „Das sind Koffeintabletten. Sonst nichts.“ „Wozu brauchst du die?“ fragte ich verwirrt. „Die brauche ich nicht! Und ich hab keinen blassen Schimmer, wo die herkommen!“ Er klang sehr aufgebracht. „Ist ja gut. Aber was soll das Theater mit diesem Flemming? Was hat das hier alles zu bedeuten?“ Tiger sprang vom Fensterbrett, setzte sich auf einen der blauen Stühle, griff nach einer Thermoskanne und sah sich suchend nach einer Tasse um. Als er keine ausfindig machen konnte, schob er die Kanne wieder weg und lehnte sich im Stuhl zurück. Als ich ihn gerade erneut fragen wollte, was geschehen war, wurde die Tür geöffnet und zwei Männer traten ein: Flemming und Lammberg, die altbekannte Arschgeige. Tiger zeigte keine Reaktion und beguckte den Tisch, als gäbe es dort etwas Wichtiges zu entdecken. Ich drehte mich hektisch zur Tür und wollte rauslaufen, doch Flemming versperrte mir den Weg. „Du kannst gerne hier bleiben, Dana.“ Ich wusste, dass meine Anwesenheit einzig und allein dazu dienen sollte, es Tiger so unangenehm wie möglich zu machen. Und ich merkte, wie es ihm unbehaglich wurde und er unruhig auf seinem Stuhl wippte. Ich setzte mich neben ihn und suchte mit meiner Hand sein Knie ab, in der Hoffnung ich könne einen Finger schnappen, an dem ich mich festhalten konnte. Doch ich konnte keinen Finger finden. Ich bemerkte, dass Tiger mich kurz aus dem Augenwinkel ansah; dann fixierte ! er wiede r den Tisch. Er konnte seine Nervosität kaum noch verbergen.

 
Flemming und Lammberg nahmen auf der anderen Seite des Tisches Platz. Kreuzverhör, oder was? Lammberg lehnte sich auf den Tisch und legte seinen Kopf in die Hände. Dabei schlugen seine Mundwinkel Falten und er machte eine Fratze, über die ich in einer anderen Situation sicher herzlich gelacht hatte. Aber nach Lachen war mir nicht zumute. „Jetzt möchte ich es nochmal von dir hören, Marc. Herr Sassen hat mir ja schon ein bisschen was erzählt.“ Mir war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass Flemming der Vorname des Erziehers war. Wie auch immer. Im Raum war es ganz still. Abwartende Stille. Ich sah, wie Tiger unter dem Tisch Däumchen drehte. Flemming, am anderen Ende des Tisches, rückte ein Stück mit dem Stuhl vor und befeuchtete sich die Lippen. „Wenn du jetzt nichts sagst, werden deine Schwierigkeiten noch größer, verstanden?“ Das klang nicht drohend, war aber wohl so gemeint. Ich räusperte mich, um die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und ergriff das Wort. „Ich würde gerne gehen. Ich muss nach Hause.“ Ich spürte einen Schweißtropfen an meiner Wirbelsäule runterkrabbeln. Meine Güte, reiß dich zusammen, Dana. „Nein, du kannst hierbleiben.“ antwortete Flemming knapp. „Ich will aber nicht.“ Ich spürte meinen Puls so sehr, dass ich kurz daran dachte, dass man an meinem Hals vielleicht sehen konnte, wie aufgeregt ich war. „Ich will das aber.“ Diese Aussage von Flemming ließ keine Widerrede zu. Ich hätte fast geheult, so sehr kränkte es mich, dass mein Willen hier etwa so viel Wert hatte wie ein Haufen Hundescheiße.

 
Wieder diese bedrückende Stille im Raum. Tiger drehte noch immer wie verrückt Däumchen und zappelte mit den Füßen. Sein Gesicht jedoch, und das war ja das einzige was Flemming und Lammberg sehen konnten, war völlig versteinert und gleichgültig. „So Marc, ich höre?“ sagte Flemming schließlich ungeduldig. Tiger setzte sich langsam im Stuhl auf und faltete die Hände auf dem Tisch. Dann hob er unschuldig die Schultern. „Was soll ich jetzt sagen?“ Diese Frage klang weder frech noch aufmüpfig, sondern ehrlich interessiert. „Du sollst einfach mal erzählen, was passiert ist!“ antwortete Lammberg, nun schon leicht genervt. „Also gut: Nichts ist passiert. Ich hab mich auf den Tisch gesetzt, dann ist er zusammengekracht. Die Cola ist runtergefallen. Das wars. Und was soll der Scheiß hier jetzt?“ Lammberg starrte Tiger mit offenem Mund an. Flemming schaute ähnlich blöd aus der Wäsche und fand schließlich als erster die Sprache wieder. „Das ist jawohl erstunken und erlogen, du Früchtchen! Als ich dir sagte, dass du aufräumen sollst, hast du versucht auf mich einzuprügeln, dabei bin ich auf den Tisch gefallen und er ist zusammengebrochen! Nun bleiben wir mal schön bei der Wahrheit!“ Tiger fiel alles aus dem Gesicht. Nun saß er kerzengerade auf dem Stuhl und es sah aus, als wolle er quer über den Tisch springen um Flemming an die Gurgel zu gehen. „Okay, bei der Wahrheit bleiben, ja? Ich hab gedacht, es ist erledigt, wenn ich die Schuld für den Tisch auf mich nehme, aber wenn du willst, dass ich dich verpfeife, kannst du das gerne haben!“ Lammberg richtete sich in seinem Stuhl auf. „Pass auf, was du sagst, Herr Rothmann!“ Er ballte die Hand zur Faust und schlug kurz auf den Tisch. „So, wie du dich hier gerade verhältst, bestätigt sich Herr Sassens Aussage nur umso mehr!“ Flemming lächelte und nickte triumphierend. Ich beobachtete die Szenerie ohnmächtig. Ohnmächtig vor Angst und Fassungslosigkeit, vor Unglauben und Unsicherheit. Ich wollte hier weg, weg von Tiger, den ich nicht mehr erkannte. Er war mir plötzlich so fre! md. Ich verstand die Welt nicht mehr.

 
„Ich sag doch nur die Wahrheit! Die wollten Sie doch hören, oder nicht? Dann fragen sie sich vielleicht mal, warum ich geblutet hab wie ein gestochenes Schwein, hä? Meinen Sie, ich zermatsch mir selber die Nase, oder was?“ Kurze Pause. Dann Flemming: „Das wäre ja nichts Neues, dass du dich selber so zurichtest… Oder behauptest du jetzt auch noch, ich hätte dir die Arme zerschnitten?“ Er lachte hämisch. Plötzlich war es mir, als könnte ich spüren, wie sich Tigers Augen mit Tränen füllten. Dieser Schmerz, den Flemming ihm mit diesem einen Satz zugefügt hatte, war schlimmer als jede Tracht Prügel. Es war pure Bloßstellung, die reinste Erniedrigung. Und ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts mehr, als die Worte des Erziehers rückgängig zu machen, ich wollte die Zeit zurückdrehen und Tiger die Ohren zuhalten. Ich wollte ihn um jeden Preis schützen, denn ich spürte plötzlich seine Zerbrechlichkeit. Als wollte ich ihm den Schmerz abnehmen, brach ich zusammen und heulte wie ein kleines Kind. Tiger sah mich entsetzt an. Dann wandte er sich wieder den Erziehern zu und brüllte: „Und lassen Sie verdammt nochmal Dana hier raus!“ Ich vernahm ein kurzes „Ja“ aus Lammbergs Richtung, sprang auf und rannte raus. Draußen weinte ich, als gäbe es keinen Morgen mehr. Ich weinte so lange, bis ich völlig erschöpft war und so sehr ich auch weinen wollte – es kamen keine Tränen mehr.

 
Ich hatte mich vor der Tür des Mitarbeiterraumes zusammengekauert wie ein Igel. Mein Gesicht war vom Weinen aufgequollen und meine Augen brannten. Dieser Schmerz war unerträglich gewesen. Dabei war es gar nicht mein Schmerz, sondern Tigers. Es fühlte sich an, als habe ich ihm seinen Schmerz abgenommen, damit er den Erziehern gegenüber stark bleiben konnte.

 
Ich hatte die Narben an Tigers Unterarmen natürlich längst bemerkt. Es war mir also nicht neu, dass er sich selbst verletzte. Allerdings hatte er meine vorsichtigen Versuche, ihn darauf anzusprechen, immer sanft abgewiesen. Wir hatten also nie über dieses Problem gesprochen und ich ahnte, wie es für ihn gewesen sein musste, so bloßgestellt zu werden.

 
Ich hörte Lammbergs Stimme durch die Tür. Was er genau sagte, konnte ich allerdings nicht verstehen. Tiger sagte nichts mehr. Ich stand langsam auf, stieg mit zittrigen Beinen die Treppen hinunter, verließ das Heim, setzte mich in eine Bushaltestelle und weinte wieder. Ich weinte, ohne eine einzige Träne zu vergießen.

 

 
 
KAPITEL 7

 
Tiger meldete sich erst am späten Abend. Ich hörte das Handyklingeln nur leise und gedämpft, da ich mich in mein Bett geflüchtet und mir das Kissen über die Ohren gepresst hatte. Ich zögerte kurz, griff dann nach meinem Handy und drückte schnell den Knopf, um den Anruf anzunehmen, ehe ich es mir anders überlegte. Ich war hin und her gerissen. Mich verwirrten die angeblichen Koffeintabletten, Tigers blutende Nase und die Anschuldigung, dass er versucht haben sollte, Flemming zu verprügeln. Das passte nicht zu ihm, so kannte ich ihn nicht. Irgendwas stimmte nicht.

 
„Süße, ich bins.“ „Ich weiß.“ Pause. „Du, ich… es tut mir leid, was du da vorhin mitbekommen hast.“ Ich hörte Verkehrslärm im Hintergrund. Vermutlich hatte er sich kurzzeitig aus dem Heim gestohlen, um in Ruhe telefonieren zu können. „Das macht nichts. Ich bin froh, dass ich dabeigewesen bin.“ „Wieso?“ fragte er verblüfft. „Weil ich jetzt live miterlebt habe, was das für Arschlöcher sind, bei dir im Heim.“ Tiger lachte etwas verhalten und ich war froh, dass es ihm einigermaßen gut zu gehen schien.

 
„Erzählst du mir, was passiert ist?“ Ich wartete gespannt, aber auch etwas ängstlich auf seine Antwort. Ich hörte, wie er sich räusperte und meine Frage dann mit einer Gegenfrage beantwortete: „Kann ich zu dir kommen?“ „Wie, jetzt noch? Es ist gleich zehn. Wissen die im Heim Bescheid?“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Tiger wieder auf dem besten Wege war, sich Ärger einzuhandeln. „Also ehrlich gesagt… Die vermuten mich eigentlich schon im Bett.“ „Aha, und wo bist du jetzt?“ Ich spürte wieder Angst in mir hochkriechen – Angst, Tiger nicht davon abhalten zu können, unentwegt Mist zu bauen. „Genaugenommen sitz ich in eurer Hollywoodschaukel und frier mir den Arsch ab.“ Ich hörte ein Grinsen in seiner Stimme mitschwingen. Ich rannte in die Küche, von wo aus ich den besten Blick in unseren Innenhof hatte, wo sich auch unser kleiner Garten mit meiner heißgeliebten Hollywoodschaukel befand. Die Hoflampe war an – kein Wunder, immerhin funktionierte sie über Bewegungsmelder – so sah ich Tiger im trüben Licht winkend in der Schaukel sitzen. Ich lachte, riss das Fenster auf und brüllte ihn zu mir nach oben. Kurz darauf hing ich dann auch schon in seinem Arm und heulte, heulte alles raus. Wir hatten uns in mein Zimmer zurückgezogen, meine Mutter und Jörg saßen nichtsahnend vor dem Fernseher. Tiger schwieg, hielt mich fest und streichelte mir über die Stirn. Er sah mich an, mit festem, sanften Blick, aber schwieg. Seine Nase war etwas angeschwollen und gerötet, das getrocknete Blut hatte er mittlerweile abgewaschen. Er sah fertig aus. Müde und traurig. Und, das war auch nicht zu übersehen – seine Pupillen waren riesig.

 
So sahen wir uns eine Weile in die Augen, er wischte mir unentwegt meine Tränen weg, bis ich als Erste die Sprache wiederfand. „Erzähl mir, was passiert ist. Bitte. Und lass nichts aus. Bitte sei ehrlich. Bitte, bitte. Ich muss es wissen. Ich liebe dich doch.“ Ich hörte mich regelrecht flehend an und so fühlte ich mich auch. Tiger holte Luft und fing an zu erzählen.

 
„Dieser Typ, der behauptet hat, dass ich ihn verprügeln wollte – der ist neu. Der heißt Herr Sassen.“ „Ich weiß. Flemming.“ lenkte ich kurz ein. „Ja, genau. Flemming. Also, der ist noch nicht lange da. Der hat von Lammberg praktisch den Auftrag bekommen, ein Auge auf mich zu werfen.“ „Wieso?“ fragte ich. „Wegen der Schule und so. Lammberg meint, ich würde mir die Zeit lieber mit irgendwelchen Drogengeschäften vertreiben, als mich auf die Schule zu konzentrieren.“ Meine Kinnlade klappte runter. „Drogengeschäften?“ Ich hoffte, mich verhört zu haben. Tiger kramte eine kleine Dose aus seiner Hosentasche hervor, öffnete sie und kippte die kleinen Tabletten aus. „Das sind Koffeintabletten. Die hatte ich heute gefunden, als ich brav nach Flemmings Anweisung die Bude aufgeräumt habe. Die sind vom letzten Silvester. Hatten wir nur genommen, um wach zu bleiben.“ „Wer ist wir?“ fragte ich verwirrt. „Na, die Leute, mit denen ich gefeiert hab. Wer war das? Das waren Einige! Ich hab die dann wohl damals mitgenommen. Und heute zufällig wiedergefunden.“ „Aha, das erklärt aber noch nicht den Streit mit Flemming, deine blutende Nase und… und die Situation, in die du da vorhin gebracht wurdest. Diese Erniedrigung.“ Tiger sah mich erschrocken an. „Wieso Erniedrigung?“ Ich musste schlucken, ehe ich es aussprach. „Diese Anmerkung, die Lammberg gemacht hat. Wegen dem… dass du dir die Arme kaputtschneidest.“ Tiger wurde augenblicklich kreidebleich, winkte aber ab und tat gleichgültig. „Was solls! Damit kann ich umgehen.“ Er klang alles andere als überzeugend, aber ich wollte ihn nicht länger quälen und verlangte nach einer Fortsetzung der Geschichte.

 
„Ich habe die Dose auf den Tisch gelegt und in dem Moment kam Flemming rein. Er hat die Tabletten darin gesehen und hielt sie für sonstwas und hat rumgebrüllt, er würde sofort zu Lammberg gehen und so. Ich wollte ihm erklären, dass das nur Koffeintabletten waren, aber er hat gar nicht mehr hingehört, kam stattdessen immer näher, bis er mich an der Wand hatte und hat mich da festgenagelt. Ich hab dann zurückgebrüllt, hab versucht ihn wegzuschubsen und plötzlich gab er nach, fiel rückwärts und landete auf dem kleinen Tisch, deshalb ist der zusammengebrochen. Ich glaub echt, dass er das extra gemacht hat, weil ich ihn eigentlich nur leicht geschubst hatte. Keine Ahnung. Jedenfalls stand er dann wieder auf, krallte mich wieder und hat mir den Zinken gequetscht.“ „Er hat was???“ rief ich entsetzt dazwischen. „Er hat mir auf die Nase gehauen.“ erklärte Tiger in einem Ton, als wolle er sagen >Das Wetter ist schön<. Ich wollte was erwidern, aber Tiger sprach weiter. „Ich hab dann erstmal gedacht, mein Schädel würde explodieren und habe mich nicht gewehrt. Dann merkte ich, wie mir Blut aus der Nase kam und Flemming rannte raus. Ich war gerade dabei mir ein Taschentuch zu suchen, da kam Lammberg schon und dirigierte mich nach oben. Naja, den Rest kennst du ja…“ Er starrte auf seine gefalteten Hände herab. Ich sah ihn fassungslos an. „Flemming hat dich… er hat dich geschlagen? Meinst du das ernst?“ Ich konnte es kaum glauben. Tiger zuckte mit den Schultern und erwiderte knapp „Jo.“ „Aber warum hat Flemming das nicht gesagt? Warum hat er versucht, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben?“ Ich war so erschüttert, dass ich beinahe brüllte, doch ich musste mich zusammenreißen, denn im Nebenzimmer schlief meine kleine Schwester und Jörg und meine Mutter mussten auch nicht unbedingt mitbekommen, dass Tiger hier war. „Weil er ein Arschloch ist!?“ entgegnete Tiger leicht gereizt und fügte leise hinzu: „Ist doch klar, dass er das vertuschen will, das hätte ja Folgen für ihn.“ Ich nahm seine Hand und drückte sie. „Passie! rt das ö fter? Ich meine, dass die Erzieher zuschlagen?“ Tiger schüttelte etwas zögernd den Kopf. „Nö, eigentlich nicht. Kommt schon mal vor, aber manchmal geht’s vielleicht auch nicht anders.“ Ich wusste nicht sicher, was er damit meinte, konnte es mir aber denken und hakte nicht weiter nach. Ich wusste, wie schroff und gefühlskalt im Heim manchmal miteinander umgegangen wurde und hatte schon vermutet, dass die Erzieher mitunter auch überfordert waren. Aber dass nun gerade mein Tiger was auf die Nase bekommen hatte, konnte ich kaum verkraften. Gut, vielleicht war ich auch bloß etwas hormonverblendet.

 
Tiger steckte die Pillendose ein und gab mir einen Kuss und sagte in einem lustlosen Ton: „Ich geh dann mal wieder.“ „Schließen die nachts nicht immer das Tor vorne? Kommst du da überhaupt noch rein?“ „Ich bin über das Tor geklettert; Stacheldraht haben sie da ja noch nicht draufgepackt.“ Er zwinkerte mir zu. „Ok. Und was wird dich noch erwarten? Wirst du irgendwie bestraft?“ Tiger sah plötzlich etwas niedergeschmettert aus. „Das bin ich schon genug… Lammberg hat sich für Flemmings Gelaber bei mir entschuldigt.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wusste, dass Tiger jede Strafe, jeder Tadel und jede Beleidigung egal war, doch die Bloßstellung von Flemming, der erzählte, dass Tiger sich selbst verletzte, traf ihn wirklich. Ich strich ihm kurz über die Wange und brachte ihn dann zur Tür, um zu sehen, wie er allmählich in der Dunkelheit verschwand.

 
 

 
KAPITEL 8

 
Tiger saß auf der Bettkante, leicht nach vorn zum kleinen Tisch gebeugt und hantierte mit kleinen Papierblättchen und Tabak. Die fertig gedrehten Zigaretten steckte er in eine Schachtel aus marmoriertem, grünem Kunststoff.

 
Ich stand am geöffneten Fenster und sah ihm zu. Wir schwiegen. Die einzige Geräuschkulisse war das leise Rascheln der Papierblättchen und der etwas entfernte Verkehrslärm auf der Prenzlauer Allee.

 
Tiger räusperte sich, klappte die Schachtel zu und lehnte sich an die Wand. Dann sah er mich an. Ernst und traurig sah er aus. Ich erwiderte seinen Blick.

 
Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ein dunkelhaariger Typ in weiten Jeans und blauem T-Shirt kam hereinspaziert. Als er uns sah, schweigend und ernst, hielt er kurz inne und warf Tiger ein paar fragende Blicke zu. Dieser rieb sich bloß die Nase und nieste ein paar Mal. „Soll ich gehen?“ Der Typ, der Reiner hieß, sich mit Tiger im Heim ein Zimmer teilte und gleichzeitig sein bester Freund war, sah mich hilflos an. „Nein, bleib hier. Ist ja dein Zimmer. Vielleicht sollte ich gehen.“ Tiger holte tief Luft und setzte sich im Bett auf. Er griff in die grüne Schachtel und zündete sich eine Zigarette an. Reiner setzte sich neben ihn und sah mich weiter an. „Bist du pissig?“ „Ich bin nicht pissig, er ist pissig.“ Ich nickte mit dem Kopf in Tigers Richtung. Der steckte die Kippe an den Rand des Aschenbechers und verließ wortlos den Raum. Reiner runzelte die Stirn. „Was ist denn los?“ Ich zuckte mit den Schultern und sah kurz zu Boden. „Er hat Ärger, oder?“ Reiner lachte etwas gehässig. „Dana, er hat immer Ärger.“ Ich verzog die Mundwinkel. „Er hat gesagt, er will alles hinschmeißen.“ Reiner sah nicht überrascht aus. „Schule und so meinst du? Das sagt er nicht erst seit heute. Lass ihn, er wird es sowieso nicht machen.“ Ich sah ihn an. Reiner hatte immer eine sehr raue Art an sich gehabt und gab einem schnell das Gefühl, er würde einen nicht mögen. Doch wer ihn kannte, wusste, dass sich unter der harten Schale ein ganz netter Kerl verbarg. Und genau dieser nette Kerl erzählte mir jetzt, dass mein Freund schon länger mit dem Gedanken spielte, die Schule zu schmeißen. Und wer erfuhr von alledem zuletzt? Ich natürlich.

 
Die Tür öffnete sich und Tiger kam herein. Er blieb an der Tür stehen und sah Reiner und mich an. „Und nun? Können wir mal das Thema wechseln?“ Sein Blick war nicht mehr ganz so ernst. Ich stand auf, ging zu ihm und lehnte mich an seine Brust. Er griff nach meinen Händen und drückte liebevoll zu. „Du machst aus Mücken irgendwie immer Elefanten. Ich hab doch nur gesagt, dass mich hier gerade alles ein wenig... ein wenig ankotzt.“ Ich schaute zu ihm auf. Er hatte einige treudoofe Falten auf der Stirn. „Und du machst aus Elefanten Mücken.“ antwortete ich. Tiger drehte sich zu Reiner. „Hast du auch noch eine Idee, was man aus den Viechern machen könnte?“ Wir lachten.

 
 

 
Tiger verstand es tatsächlich, mir regelmäßig einen Heidenschrecken einzujagen. Vielleicht lag es daran, dass ich in seine Aussagen grundsätzlich zuviel hineininterpretierte. Vielleicht sagte mir mein Unterbewusstsein aber auch schon damals, dass ich auf ihn aufpassen müsse. Bloß musste ich mir angewöhnen, ihn meinen Beschützerinstinkt nicht allzu deutlich spüren zu lassen, denn das hätte ihn bedeutend in seinem Stolz verletzt.

 
 

 
Als ich Tiger kennen lernte, waren wir beide siebzehn Jahre alt. Jung und naiv sollte man meinen, wahrscheinlich war es auch so. Dennoch war gerade Tiger derjenige, der sich gern den Kopf zerbrach und der all die kleinen und großen Ungereimtheiten in seinem Leben nicht dulden wollte. Diese Ungereimtheiten waren für einen Menschen wie mich, der eine relativ glückliche Kindheit und ein Leben weit jenseits der Armutsgrenze vorweisen konnte, zunächst schwer nachvollziehbar. Was Tiger erlebt hatte, kannte ich nur aus Büchern und Filmen. Es bedurfte einiger Zeit, bis ich mich einigermaßen in ihn hineindenken konnte.

 
Tiger hatte seine Kindheit, wenn man es denn so nennen darf, in einer Pflegefamilie verbracht. Spätestens als er mit sieben Jahren in ein Heim kam, war sein Kindesdasein vorbei. Viel zu früh wurde von ihm verlangt, so selbstständig wie ein Erwachsener zu sein. Das einzig gute Los, welches erwachsene Menschen ziehen, ist wohl die Entscheidungsfreiheit. Und genau diese hatte Tiger nicht. Also wurde seine Pseudo-Selbstständigkeit um einen wichtigen Part und gleichzeititg um ein Grundrecht des Menschen – die eigenen Freiheit – beschnitten.

 
So konnte Tiger auch im Jahre 2001, mit siebzehn, auf eine völlig verkorkste Vergangenheit zurückblicken, die übersät war von Misserfolgen und Demütigung, von Gewalt und Hass. Dass er trotz allem ein liebenswerter und einzigartiger Mensch geworden war, dem ich blind mein Leben anvertraut hätte, hatte er wohl nur seiner unbändigen Kraft zu verdanken, die ihm seinen Spitznamen gab.

 
Doch auch Kraft hat ihre Grenzen. Tiger versuchte sie immer wieder zu überschreiten und scheiterte dann und wann, was natürlich mehr oder minder katastrophale Folgen hatte. Als meine viel zu kurze Zeit mit ihm begann, hatte er bereits einen Heroinentzug hinter sich. Trotz allem war Tiger keinesfalls „kaputt“, im Gegenteil, er hatte sich immer wieder so sehr regeneriert, dass man ihm nur selten anmerkte, vor welchen Abgründen er sich schon mal befunden hatte.

 
Und nun stritten wir uns über Banalitäten. Nein, natürlich war ein Schulabbruch alles andere als banal, auch Tiger sah das so. Doch im Vergleich mit dem, was in den vergangenen Jahren sein Leben geprägt hatte, war es wohl tatsächlich eine Kleinigkeit. Seine Schulnoten waren schlecht und die Versetzung stand, wie immer, auf der Kippe. Warum er so unbefriedigende Leistungen erbrachte, wusste er selbst nicht so recht. Er gab zwar offen zu, herzlich wenig für die Schule zu tun, hatte aber auch den Verdacht, dass ihn sein Klassenlehrer unbedingt zurückstufen wollte, um ihn loszuwerden. Das wiederum konnte er aber auch gut nachvollziehen, denn er bezeichnete sich selbst als sehr anstrengenden und desinteressierten Schüler.

 
Und genau das war wohl auch das Problem. Denn wenn Tiger für irgendetwas - und sei es nun Geometrie oder Physik -  kein Interesse aufbringen konnte, dann war es ihm schier unmöglich, sich hinzusetzen und zu lernen. Gesetzt dem Fall jedoch, dass sein Interesse doch mal geweckt wurde, lief alles wie von selbst und es war für ihn eigentlich überflüssig, überhaupt zu lernen. Das einzige Fach, in dem er herausragende Leistungen zu verzeichnen hatte, war Sport. Sein sportlicher Ehrgeiz reichte jedoch weit über den herkömmlichen Unterricht hinaus. Er spielte Basketball und eine zeitlang Handball. Außerdem war er hauptsächlich mit dem Skateboard unterwegs, mit dem er sich scheinbar besser fortbewegen konnte als zu Fuß. Er fuhr auf der Halfpipe oder mitten in der Stadt, rutschte Treppengeländer hinunter und überwand die unterschiedlichsten Hindernisse. Tiger und sein Skateboard waren eine Einheit – lediglich mir zuliebe ließ er es hin und wieder stehen.

 
Neben dem Skaten hatte er eine große sportliche Leidenschaft: Breakdance. Tiger war unglaublich gelenkig und stark, und gleichzeitig sahen seine Bewegungen immer leicht und geschmeidig aus. Ich sah ihm unheimlich gerne zu und bewunderte sein Können.

 
Seine körperliche Fitness wurde jedoch durch die Tatsache beeinträchtigt, dass Tiger stark rauchte und es auch partout nicht schaffte, damit aufzuhören. Als Nichtraucherin war es mir oft ein Rätsel, wie man so viel Geld nur in Zigaretten investieren konnte und letztendlich keinen Nutzen, sondern nur Schaden davon nahm. Auch Tiger selbst konnte mir seine Sucht nie genauer erklären; ich glaube das kann niemand so richtig. Und weil er sich seine Nikotinsucht kaum finanzieren konnte, fing er an, die Zigaretten selbst zu drehen, was ein wenig Geld sparen sollte, aber auch einen deutlich größeren Aufwand erforderte.

 
 

 
Tiger hatte mittlerweile seine Zigarette bemerkt, die noch immer am Rand des Aschenbechers hing und offensichtlich in den letzten Zügen war. Er küsste mich kurz, ging zum Ascher und drückte die Kippe vorsichtig aus. Dann holte er Luft und wollte etwas sagen, doch im selben Moment ging die Tür auf und der Kopf eines bärtigen Mannes lugte herein. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und sein Gesicht sah dürr und krank aus. „Jungs, wenn ihr rauchen wollt, geht bitte raus.“ Seine Stimme klang, als stünde er nicht hinter dem, was er sagte. Das ließen auch die Reaktionen von Reiner und Tiger vermuten, die bloß ein müdes „Joah“ für den Bärtigen übrig hatten. „Marc, wir müssen uns mal unterhalten.“ Ich bemerkte Tigers angespannten Gesichtsausdruck. „Wann?“ fragte er und versuchte dabei möglichst gleichgültig zu klingen. „Am besten sofort.“ Der Bärtige spitzte die Lippen und klopfte ein paar Mal mit den Fingerkuppen gegen den Türrahmen. Tiger seufzte, zwinkerte mir kurz zu und warf Reiner einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Dann verließ er das Zimmer und Reiner und ich waren allein. Ich setzte mich auf Tigers Bett und nahm sein Kissen auf den Schoß. Reiner wühlte unterdessen in einem silberfarbenen Koffer voller CDs. „Meine Güte, der Kurze hat auch überhaupt keinen Sinn für Ordnung.“ Ich wusste, dass er mit dem `Kurzen` Tiger meinte und stimmte ihm mit einem grinsenden Kopfnicken zu. Unterdessen hatte Reiner eine CD aus dem Koffer gefischt und fummelte an der Anlage herum, die auf einem kleinen Tisch neben seinem Bett stand. Kurze Zeit später ertönte ein gleichmäßiger Bass, gerade in einer Lautstärke, dass wir uns noch problemlos unterhalten konnten.

 
„Was denkst du, will der von Tiger? Und wer war das überhaupt?“ Reiner machte sich an der Schublade seines Nachtschranks zu schaffen. „Das war Frank, der ist eigentlich ganz in Ordnung. Ich denk mal, der will mit Tiger über die ganzen Probleme reden.“ „Was für Probleme? Du meinst die Schule?“ Während ich sprach, sah ich Reiner dabei zu, wie er in der Schublade wühlte und schließlich eine schwarze Dose hervorzog. „Ja, Schule und so. Und das hier eben.“ Er streckte mir die Dose entgegen. Zögernd nahm ich sie entgegen. Sie war etwa so groß wie ein Taschenbuch und hatte auch eine ähnliche Form. Bevor ich sie öffnete sah ich erst zur Tür und dann zu Reiner. „Ist o.k., mach sie auf!“ Er gab mir mit dem Kinn einen Deut, die Dose endlich zu öffnen. Etwas unsicher löste ich den Deckel ab und legte ihn zur Seite. In der Dose lagen zwei kleine Plastiktütchen mit einem grünen Hanfblatt darauf. In beiden Tüten war Grass – in der einen in gepresster, in der anderen in ungepresster Form. Ich sah Reiner erschrocken an. „Gehört das alles Tiger!?“ Reiner schüttelte schnell den Kopf. „Nee, eigentlich ist das meins. Aber der Kurze hatte es bei sich aufbewahrt und mal was mitgeraucht und in seiner Pissprobe konnte eben was nachgewiesen werden.“ Bei den `Pissproben` handelte es sich um Urintests, die die Heimerzieher durchführten, wenn sie den Verdacht auf Drogenmissbrauch hatten. Und da Tiger diesbezüglich besonders gefährdet war, vor allem aufgrund seiner Vergangenheit, hatten sie ihn besonders gut im Auge.

 
„Und deshalb will Frank mit ihm reden? Was kann jetzt mit ihm passieren?“ Reiner zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber du musst dir keine Sorgen machen, er hat ja nur Grass geraucht.“ Dieses `nur` in seinem Satz widerstrebte mir irgendwie, doch trotzdem waren Reiners Worte beruhigend.

 
Als ich Stimmen auf dem Flur hörte, presste ich den Deckel schnell wieder auf die Dose und schob sie unter Tigers Bettdecke hinter mir. Reiner lachte. „Gib sie mir.“ Etwas peinlich berührt über meine panische Reaktion wühlte ich die Dose wieder hervor und drückte sie Reiner in die Hand. „Wie haltet ihr das bloß aus?“ fragte ich seufzend. „Was meinst du?“ Reiner schien wirklich nicht zu wissen, worauf ich anspielte. „Na, diese Heimlichtuerei. Das ganze Verstecken. Ich würde verrückt werden, wenn ich keine Geheimnisse haben dürfte.“ Reiners Miene wurde etwas ernster. „So ist das eben, Dana. Kann man nicht ändern.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum mit einer Geste, die unmissverständlich darauf schließen ließ, dass er ein dringendes Bedürfnis hatte.

 
Ich spürte, wie allmählich Ruhe und Gelassenheit über mich kam. Ich sog den Duft von Tigers Kissen in mich ein und ließ meine Gedanken für einen Moment weit weg schweben...

 
Sie kamen zu mir zurück, als die Tür geöffnet wurde und Reiner rückwärts laufend das Zimmer betrat. Er hielt ein Kabel in der Hand und dirigierte lachend einen schwarzen Kasten durch die Tür. Der Kasten entpuppte sich schnell als Fernsehgerät, das ächzend von Tiger getragen wurde. „Na, ist er schwer?“ fragte Reiner prustend. Tiger wankte in den Raum und ließ den Fernseher mehr oder minder sanft auf dem Boden nieder. Dann setzte er sich erschöpft neben mich und küsste mich ein paarmal schmatzend. „Wo kommt der denn jetzt her?“ fragte ich grinsend. „Der ist angeblich kaputt.“ erwiderte er und sah mich unschuldig an. Tiger konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, dass scheinbar defekte Elektrogeräte auf dem Müll landeten. Stets versuchte er mit vorbildlicher Ausdauer, alles zu reparieren, was ihm zwischen die Finger kam. Selbst wenn ein Gerät nicht kaputt war, baute er es auseinander, mit der Erklärung, er müsse unbedingt wissen, wie es funktioniert. Diese Neugierde hatte nicht selten zum Ergebnis, dass er absolut funktionstüchtige Gerätschaften bis aufs Letzte zerlegte, um sie dann mit Hingabe wieder zusammenzuflicken. Meine Lampe, die allein durch leichte Berührung am Ständer reagierte und die er erst kürzlich begeistert demolierte, überlebte seine Operation allerdings nicht ganz unbeschadet: Statt einer sanften Berührung musste man sie nun mit der Schlagkraft eines Hammers bedienen, damit sie Licht spendete. Seitdem nannte sie Tiger nur noch liebevoll „Die Opferlampe“.

 
Sein nächstes Opfer sollte also nun dieser Fernseher Marke Sony sein – ein gar nicht so altes Modell und von stattlicher Größe. „Wo hast du das denn her?“ fragte ich, während ich die Röhre eingehend musterte. „Von Frank. Haben jetzt eine Wette laufen.“ Wieder dieser unschuldige „Ich-weiß-von-nichts“-Blick. Tiger hatte ständig irgendwo mit irgendwem  irgendwelche Wetten laufen. Ich legte den Kopf schief und sah ihn abwartend an. „Okay, worum geht’s?“ Tiger lächelte und legte die Hand auf die Glotze. „Wenn ich dieses Goldstück hier wieder zum Laufen bringe, darf ich es behalten. Und wenn nicht, muss ich..“ Mit einem >rummms!< schlug die Zimmertür auf und Flo kam hereingestürmt. Ihm gehörte das dritte Bett, das direkt unter dem Fenster stand und das einzige war, das eindeutig nicht in das Inventar des Heims gehörte, sondern scheinbar von ihm zuhause mitgebracht worden war. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, mit einigen wilden Locken darunter. Der Schirm der Mütze verdeckte seine Augen so sehr, dass er den Kopf heben musste, um sich zu orientieren. Als er uns bemerkte, bremste er sein Tempo, nickte mir freundlich zu und ließ seinen Blick zu dem auf dem Boden stehenden Fernseher wandern. „Na super, endlich nicht mehr völlig fern ab von jeglicher Zivilisation, fein!“ Er sprach in einem bayrischen Dialekt. Flo war jedoch nie in seinem Leben in Bayern gewesen, er imitierte lediglich gern verschiedene Dialekte. Dieses Hobby teilte er mit Tiger, der perfekt Sächsich sprechen konnte und sich jedesmal, wenn man ihm den Sachsen abkaufte, einen Keks freute.

 
Flo kramte etwas aus einer Schreibtischschublade hervor und verließ den Raum recht geräuschvoll. Tiger nickte mitfühlend und wandte sich wieder mir zu, um seinen Satz zu vervollständigen. „..dann muss ich zwei Stunden die Woche Mathenachhilfe nehmen und jeden Tag eine Stunde lernen.“ Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter und versuchte besonders leidig zu schluchzen. Ich tätschelte seinen Kopf. „Hätte schlimmer kommen können, oder? Außerdem nützt es dir ja was.“ Reiner nickte zustimmend. „Aber ist ja sowieso klar, dass ich das blöde Teil wieder startklar mache, oder?“ Er grinste mich an. „Ach, wenn du den Fernseher also wieder fit machst, musst du echt keine Nachhilfe nehmen? Also hat Frank das ernst gemeint?“ fragte ich etwas ungläubig. „Frank hält seine Versprechen für gewöhnlich.“ antwortete Reiner für Tiger, der schon auf dem Boden kniete und die Röhre gründlich inspizierte.

 
 

 
KAPITEL 9

 
Wenige Wochen später hatte sich so ziemlich alles zum Negativen gewendet, was sich überhaupt noch irgendwie wenden konnte. Tiger hatte, obwohl er den Fernseher reparieren konnte, guten Willen gezeigt und das Angebot der Mathenachhilfe angenommen. Doch schon nach den ersten zwei Stunden verschwand dieser Wille auf nimmer Wiedersehen. Und schlimmer noch: Ein Streit mit Frank, dem gutmütigen Erzieher, hatte ihn so aus der Bahn geworfen, dass er mir am Telefon eröffnete, er würde die Schule nun definitiv schmeißen und sich daraufhin tagelang nicht mehr meldete. Ich war sauer, enttäuscht und besorgt zugleich. Sein Handy war ausgeschaltet und auch im Heim war er telefonisch nicht erreichbar. Immer wieder wurde auf meine Frage, wo er denn sei, herumgedruckst und das Gespräch so schnell als möglich beendet.

 
Bald erfuhr ich, dass er seit Tagen verschwunden war.

 
Ich konnte nicht glauben, dass ihn ein Streit mit einem Erzieher so runterziehen konnte, dass er tatsächlich reißaus nahm und sich nicht mehr meldete. Mir kam das alles Spanisch vor und ich wollte ihn suchen. Ich wollte ihn selber fragen. Und ich wollte ihn irgendwie auffangen..

 
Aber niemand konnte mir sagen, wo er war.

 
Knapp zwei Wochen nach meinem letzten Gespräch mit ihm klingelte eines Morgens mein Handy. Tiger. Er klang müde und erschöpft. Er sagte, dass ihm sein Verhalten sehr leid täte und er ein Arschloch sei. Dass ich ihn nun sicher hassen würde. Dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Dass nun bestimmt alles vorbei sei. Und wieder, dass es ihm leid täte. Er sprach ohne Punkt und Komma und ohne Luft zu holen. Er klang verzweifelt und irgendwie nahm er mich gar nicht richtig wahr. Ich versuchte ihn zu unterbrechen, doch er bemerkte es nicht einmal. Also schrie ich. „Halt die Klappe!!!“ Stille am anderen Ende. Sekunden später: „Okay.“ Nun klang er verschüchtert, gar etwas ängstlich. Ich holte tief Luft und fragte ganz ruhig: „Wo bist du?“ Stille. „Das kann ich dir nicht sagen.“ Ich fragte erneut, diesmal mit Nachdruck. „Verdammt, WO BIST DU?“ „Dana...,“ Ich unterbrach ihn erneut. „Sag mir, wo wir uns treffen können.“ Stille. Dann leise, fast flüsternd: „Ich steh um 11 Uhr vorm Saturn.“ Mit diesen Worten legte er auf, kurz darauf hörte ich regelmäßiges Tuten aus dem Hörer.

 
Die Uhr am U-Bahnhof zeigte 10:51 an, als ich mich durch die Menschenmassen zum Ausgang kämpfte. Ich rannte die Treppen rauf und atmete die mäßig frische Luft ein, die jedoch Gold wert war, im Vergleich zur abgestanden stinkenden Luft in den U-Bahnschächten. Ich wusste, dass ich keine fünf Minuten brauchen würde, um zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen, dennoch rannte ich, als würde ich um mein Leben laufen. Und irgendwie fühlte ich mich auch so. Verzweifelt, panisch.

 
Ich sah ihn schon von Weitem. Er stand neben den großen Glastüren an die Wand gelehnt. Die Kapuze seines schwarzen Pullovers tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Hosentaschen. Ich ging in nun gemäßigterem Gang auf ihn zu. Zehn Meter von ihm entfernt hatte ich noch Mühe, meine Freude zurückzuhalten, fünf Meter entfernt bekam ich Angst und als ich direkt vor ihm stand, brach ich in Tränen aus. Wer stand da vor mir?

 
In Tigers Gesicht konnte ich rein gar nichts erkennen. Wenn dort überhaupt eine Gefühlsregung erkennbar war, dann wohl am ehesten Gleichgültigkeit. Und neben eben dieser Gleichgültigkeit eine Reihe von Geschichten. Geschichten, die von den letzten Tagen erzählten. An seinem rechten Auge waren blasse violette Überbleibsel eines stattlichen Veilchens erkennbar, seine Lippe war an einer Stelle aufgeplatzt und über seine rechte Wange zog sich eine zentimeterlange Schramme. Maximal fünf Tage alte Spuren einer.. ja, einer was? Einer Schlägerei? Was war passiert?

 
Wortlos sah ich ihn an, den Mund leicht geöffnet und mit weit aufgerissenen Augen. „Was..“ meine Stimme versagte sofort wieder. Ich bemerkte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er wischte sich hastig mit dem Ärmel über die zerbeulten Augenlider. Dabei sah ich seine Hände – der Ringfinger der rechten Hand war laienhaft verbunden. Ich nahm seine Hand und sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf und zog sie wieder weg. Dann deutete er mit dem Kopf nach links und schob mich vor sich her. Kurz darauf befanden wir uns im Hinterhof eines Restaurants, wo er sich endlich ein wenig zu entspannen schien. Er setzte sich auf eine Kiste und zündete sich eine Zigarette an. Ich setzte mich neben ihn. „Was ist passiert, Marc?“ Wieder diese widerliche Stille wie am Telefon. „Ich.. ich kann da diesmal echt nichts für.“ antwortete er schuldbewusst wie ein kleines Kind. „Was ist passiert?“ fragte ich erneut. „Kleine Auseinandersetzung. Und auf einmal hat der Typ ein Messer in der Hand gehabt.“ Ich erschrak. „Was für ein Typ?“ „Keine Ahnung. Dana, ich glaub.. Ich glaub, wir können uns erstmal nicht mehr sehen.“ Ich lachte nervös. „Kannst du mir mal sagen, was das ganze hier überhaupt soll? Was hast du gemacht? Wo bist du jetzt? Warum bist du abgehauen?“ Tiger schüttelte den Kopf. „Sag mir nur, ob die mich suchen.“ „Natürlich!“ fuhr es forsch aus mir heraus. „Die Polizei wurde gleich nach deinem Verschwinden informiert. Die haben mich auch schon angerufen. Weißt du, was das für ein Scheißgefühl ist!?“ „Dana, es tut mir leid.. Ich..“ „Da kann ich mir auch nichts von kaufen.“ Wir schwiegen eine Weile. Ich seufzte. „Sag mir, was ich tun soll.“ Irgendwie fühlte ich mich, noch während ich den Satz sprach, entsetzlich schwach und naiv. Doch es half nichts, ich musste ihm helfen. Wenn er mir schon nicht sagen konnte, was passiert war.. Ich sah wieder einige Tränen in seinen Augen glitzern, die mir bestätigten, wie schwer es ihm fiel, mal wieder Hilfe von mir anzunehmen. „Nimm nur mein Handy mit und pass drauf auf. Guck ab und! zu mal, ob SMS kommen, nimm aber keine Anrufe entgegen. Und lösch die Mailbox irgendwie.“ Er gab mir das Telefon, auf dessen zerkratztem Display man kaum noch etwas erkennen konnte. „Und ich brauch irgendwie ein paar Klamotten. Die Nummer von Reiner ist im Handy gespeichert. Ruf ihn heute Abend nach 23 Uhr mal an und frage, ob er mir irgendwie was zukommen lassen kann..“ „Weiß er, wo du bist?“ „Nein. Das weiß ich nicht mal selbst, Dana.“ „Wo schläfst du?“ fragte ich verzweifelt. Es war nachts noch sehr kühl und auch tagsüber war das Wetter unbeständig. „Irgendwo. Ich komm schon zurecht Maus.“ Er strich mir mit seiner unverletzten Hand über die Wange, lächelte und ging.

 
 

 
KAPITEL 10

 
Ich verstand, dass Tiger es im Heim nicht mehr aushielt. Die letzten 10 Jahre hatte er dort zugebracht und ich spürte sein Verlangen, diesem Gefängnis zu entfliehen.

 
Auch konnte ich gut nachvollziehen, dass ihm die Motivation fehlte, weiter zur Schule zu gehen, denn ich sah, wie er sich Mühe gab und trotzdem schlechte Ergebnisse erzielte.

 
Ihm fehlte es an Mut, Energie und Perspektive, denn er wusste auch nicht, was er nach seinem Abschluss mit sich anfangen sollte. Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz im handwerklichen Bereich sanken mit jeder weiteren versemmelten Klausur. Und da ich wusste, dass Tiger nicht der Typ war, allzu schnell das Handtuch zu werfen, akzeptierte ich seine Entscheidung und war bereit, auch den weiteren Weg mit ihm gemeinsam zu gehen und ihm zu helfen, wo ich konnte.

 
Was für ein Weg uns allerdings bevorstand, konnte ich noch nicht absehen, auch wenn mich sein Schulabbruch und das Türmen aus dem Heim auf Schlimmes vorbereiteten.

 
Meine Mutter bot ihm mehrmals an, vorübergehend bei uns zu wohnen, was er anfangs jedoch ablehnen musste, da es für die Polizei ein Leichtes gewesen wäre, ihn bei uns ausfindig zu machen.

 
Also verschwand er im Berliner Untergrund, schlug sich die Nächte sonstwo um die Ohren und meldete sich kaum noch. Sein Handy, das ich nun hüten sollte, klingelte unentwegt, bis ich es schließlich entnervt aussschaltete und in einer Schublade vergrub.

 
Ich bekam Angst. Angst, Tiger würde mir nun völlig entgleiten und ein Leben leben, das mich nicht beinhaltete. Ich war traurig, verletzt und enttäuscht. Und dennoch vermisste ich ihn schrecklich.

 
 

 
Etwa eine Woche nachdem ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, klopfte es vorsichtig an meine Tür. Ich lag im Bett, starrte auf den Fernseher und ließ die vergangenen Tage Revue passieren. Die Polizei, Freund und Helfer aller, glaubte uns mittlerweile, dass wir nicht wussten, wo Tiger steckte und über seine Beweggründe, das Heim zu verlassen, nicht Bescheid wussten. Im Grunde stimmte das ja sogar. Wir wussten weder wo genau er war, ebensowenig wussten wir, warum bei ihm gerade jetzt die Sicherungen durchgebrannt waren. Wir logen also nicht wirklich.

 
Es klopfte erneut und ich stand auf um die Tür zu öffnen. Da stand meine Mutter, lächelte mich an und sagte im Flüsterton: „Tiger ist da. Er sitzt in der Küche.“ Es verwirrte mich, dass ich nichts von seinem Besuch mitbekommen hatte, freute mich aber dennoch und ging in die Küche.

 
Da saß er, leichenblass, mit Blut unterlaufenden Augen. Sie waren noch immer von Hämatomen umrandet, die nun aber nicht mehr blau, sondern grüngelb waren. Er sah mich an, wortlos; wahrscheinlich wusste er genau, was ich bei seinem Anblick dachte. Was ist bloß los mit dir?

 
„Ich weiß, ich seh ein bisschen scheiße aus.“ säuselte er. Ich merkte sofort, dass er was getrunken hatte, auch wenn er sich Mühe gab, dies zu überspielen. „Ja, du siehst tatsächlich ziemlich scheiße aus. Was willst du hier?“ Erst im Nachhinein merkte ich, wie abweisend und gemein meine Frage klang. Doch Tiger schien recht unempfindlich. „Ich wollte dich sehen.“ antwortete er und durchbohrte mich mit einem trüben, besoffenen Blick. Ich zögerte kurz, fragte ihn aber dann, ob wir spazieren gehen wollen.

 
Man muss es ihm lassen – er schaffte es zumindest aufrecht zu gehen. Dennoch wankte er hin und wieder von links nach rechts und umgekehrt, aber das war eher amüsant, denn ich merkte, dass sich der Alkohol vorrangig auf seine Motorik auszuwirken schien und nicht auf seine Denkfähigkeit. Einen entscheidenen Vorteil hatte seine Angetrunkenheit in jedem Fall: Er war redefreudiger als sonst und antwortete auf meine Fragen, ohne sich großartig Gedanken darüber zu machen – er war unbefangener. Somit hatte ich die einmalige Chance, Einzelheiten über die vergangenen Tage zu erfahren. Doch es hätte mir wohl viele Nerven erspart, wenn er weiterhin geschwiegen hätte…

 
Tiger erzählte, er habe sich mit Reiner getroffen, der ihm einige seiner Sachen mitgebracht habe. Im Heim waren sie damit beschäftigt, sein Teil des Zimmers, bzw. das Bett freizuräumen, damit es neu belegt werden konnte. Gesetzt dem Fall, Tiger käme wieder, hätte man drastischere Schritte eingeleitet und ihn einem anderen Heim, oder auch der Polizei übergeben, da er sich vor seiner Flucht mit Unterlagen eingedeckt hatte, auf die er kein Zugriffsrecht hatte.

 
Doch man brauchte sich nicht sorgen, denn Tiger würde nie mehr über die Türschwelle des Heims gehen, das hatte er sich zumindest vorgenommen. Er wolle lediglich versuchen, an den Rest seiner Sachen zu kommen – er vermisste seine Anlage und ein paar CDs – doch zunächst waren andere Dinge wichtiger.

 
Reiner hatte ihm also Klamotten gebracht und diversen persönlichen Kram, den Tiger vergessen hatte (unter anderem auch sein Portemonnaie; er vergaß grundsätzlich das wichtigste). Bei der Gelegenheit rauchten sie auch noch zwei, drei Pfeifchen zusammen und malten völlig bekifft ein paar Smileys an die Tür eines Polizeiwagens. Tiger gackerte beim Erzählen, aber ich wusste, dass er sich für derartige Aktionen im nüchternen Zustand ziemlich geschämt hatte.

 
Ich nutzte die Gunst der Stunde, um ihn nach Details über die vergangene Schlägerei zu bitten. Er zögerte nicht lange und rieb sich über die gelbgrünen Augenlider. „Ich hab von so `nem Typen was zum Rauchen gekauft. Oder besser gesagt: Ich wollte was von ihm kaufen. Nachdem er mein Geld bekommen hatte, rannte er allerdings weg…“ „Ja, und?“ fragte ich ungeduldig. „Ich bin natürlich hinterhergerannt! Das war im U-Bahnhof. Ich weiß, das war nicht besonders intelligent, vor allem, weil da ein paar Bullen standen. Aber ich lass mir doch keine Kohle abnehmen ohne was dafür zu bekommen!“ Tiger zündete sich eine Zigarette an, nahm zwei tiefe Züge und sprach weiter. „Die Bullen rannten dann auch noch hinter uns her. Also ich hinter dem Typen her und die Bullen hinter mir her. Oder hinter dem Typen? Ach, was weiß ich. Wir rannten jedenfalls alle irgendwie hintereinander her. Ich konnte die Bullen abhängen, der Typ war allerdings auch verschwunden. Hab mich dann in der Nähe vom Bahnhof hingesetzt und hab eine geraucht. Da kam plötzlich der Typ um die Ecke und schmeißt mir seinen Rucksack um die Ohren. Fühlte sich an, als wenn Steine drin waren. Ich war kurz etwas weggetreten und in der Zeit hat er reingehauen…“ „Aber wieso hat er dich verprügelt, er schuldete dir doch etwas!?“ fragte ich ungläubig. „Ja, aber er war nur weggerannt, weil er die Bullen gesehen hatte. Und ich Idiot bin dann auch noch hinterher…“ „Und deshalb verprügelt er dich?“ „Ja, mensch, er wäre ja wegen mir fast gefilzt worden. Und das wäre nicht gut für ihn ausgegangen.“ Ich verstand nicht so recht, warum Tiger den Dealer auch noch in Schutz zu nehmen schien, wo der ihn doch so übel zugerichtet hatte. Aber das waren Zustände, mit denen ich noch oft konfrontiert werden würde, die szenetypisch waren und die ich bis heute nicht nachvollziehen kann.

 
OK, es war nun also amtlich, dass Tiger wieder konsumierte, was genau es allerdings war, wusste ich nicht. So genau wollte ich das auch gar nicht wissen. Ich wusste nur, dass „was zum Rauchen“ vieles sein konnte – Hasch, Heroin… Heroin? Tiger und Heroin? Nein, niemals! Ja, so dachte ich damals.

 
 

 
Wir setzten uns auf eine Bank und folgten dem Treiben auf einem in der Nähe liegenden Sportplatz. Ein paar Jungs, vielleicht 13 Jahre alt, kickten und tranken nebenbei Bier. Zwei ältere Männer saßen etwas entfernt auf der Tribüne und glotzten die Kinder interessiert an.

 
Während mir an dieser Szenerie nichts Besonderes auffiel und ich damit begann, Tiger eine Bulette ans Ohr zu quasseln, sah dieser nur skeptisch in Richtung Sportplatz. Ich war gerade dabei, von meiner neuen Jeans zu erzählen, die ich für wenig Geld erstanden hatte, als Tiger mich anstupste und mit dem Kinn zur Tribüne zeigte. „Was hat der da in der Hand?“ fragte er mit zusammen gekniffenen Augen. Doch auch ich konnte den kleinen Gegenstand in der Hand des einen Mannes nicht erkennen, er saß einfach zu weit weg. „Setz doch mal deine Brille auf!“ befahl mir Tiger, kramte in meiner Handtasche und drückte mir das Brillenetui in die Hand. Etwas verlegen setzte ich meine verhasste Brille auf und sah erneut zur Tribüne. Nun konnte ich genau erkennen, was der Mann in der Hand hielt, auch wenn er sich bemühte, das Ding möglichst verdeckt zu halten: Ein Fotoapparat! Tiger rutschte unruhig auf der Bank hin und hier. „Kann doch sein, dass die sich kennen, oder? Vielleicht sind das Verwandte von den Jungs.“ sagte ich, auch wenn ich davon nicht wirklich überzeugt war. „Quatsch, warum macht der dann heimlich Fotos? Ich glaub, die kennen sich nicht.“ Ich merkte, wie Tiger angestrengt nachdachte und schließlich ruckartig aufsprang. Ich hatte damit schon gerechnet und schnappte ihn an einem Zipfel seines Pullovers, um ihn wieder auf die Bank zu zerren. „Spinnst du“ zischte ich, „du kannst da doch nicht einfach hingehen. Du musst die Polizei anrufen oder so.“ Tiger prustete. „Bin ich denn bescheuert? Ich ruf doch nicht die Bullen an, dann haben die mich doch auch gleich!“ Tiger zündete sich schnell eine Zigarette an. Ich war verblüfft, dass ihn diese Situation so aus dem Konzept zu bringen schien. „Du kannst da anonym anrufen. Sag einfach, was du beobachtet hast und fertig.“ „Nee, nee.“ sagte Tiger kopfschüttelnd. Ich holte mein Handy aus der Tasche, wählte die Nummer der Polizei, machte kurz ein paar Angaben und bat darum, mal hier vorbeizuschauen. Dann legte ich wieder auf und lächelte Tiger an. Der hatte große Augen bek! ommen un d wurde plötzlich ziemlich hektisch. „Okay, gut, dann lass uns mal gehen.“ Er nahm meine Hand und zog mich vom Sportplatz weg. In einiger Entfernung setzten wir uns in ein Café und beguckten die Straße. „Du hast ja ein Rad ab.“ grinste Tiger. „Wieso?“ erwiderte ich, „Das ist das einzige, was du in so einer Sache tun kannst. Du hättest den Männern ja sonstwas erzählen können, aber dann wären sie auf nimmer verschwunden gewesen.“ Tiger sah mich an, als sei ich ein bewundernswerter Star. „Hach, wenn ich dich nicht hätte! Du hast immer so kluge Ideen!“ Sein etwas ironischer Unterton störte mich nicht, im Gegenteil, ich freute mich sogar. Denn zum ersten Mal an diesem Tag waren wir beide einigermaßen entspannt und locker und das, obwohl Tiger wohl längst wieder nüchtern war.

 

 

 
KAPITEL 11

 
Wider Erwarten verbrachte Tiger die Nacht bei mir. Mein Stiefvater war zum Glück nicht zuhause und meine Mutter freute sich, mal wieder jemanden zu haben, mit dem sie über die vegetarische Küche plaudern (Tiger war zwar kein Vegetarier, aber wohl der Einzige, der ihr zuhörte), und sich am primitiven spätabendlichen Fernsehprogramm ergötzen konnte. Ja, meine Mutter liebte Tiger heiß und innig und die Beiden passten, zumindest was den Humor anging, wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

 
Wir saßen im Wohnzimmer, meine kleine Schwester hatte Tiger zu Memory verdonnert und meine Mutter quatschte unterdessen von einem italienischen Gemüseauflauf, den sie unbedingt mal wieder kochen wolle. Ich kitzelte Tiger am Rücken, während dieser vergeblich versuchte, wenigstens ein quietschbuntes Bilderpaar zu erwischen. Es war so wunderschön, so harmonisch und friedlich, dass ich schon beinahe glaubte, die Welt sei wieder in Ordnung.

 
„Wo hast du eigentlich deine ganzen Sachen gelassen? Du hast keinen Rucksack oder so dabei.“ stellte meine Mutter nach einer Weile fest und sah Tiger fragend an. „Die sind in guten Händen.“ antwortete er knapp. Meine Mutter zeigte sich unermüdlich: „Wo schläfst du denn zur Zeit?“ „In Kreuzberg.“ Er versuchte möglichst konzentriert auf das Spiel zu wirken, aber man merkte, dass ihn die Fragerei ziemlich durcheinander brachte. „Und wo in Kreuzberg?“ fragte Mama weiter. Tiger entschuldigte sich kurz und verschwand im Badezimmer. Meine Mutter wandt sich mir zu. „Weißt du, wo er schläft? Er kann doch auch wirklich bei uns bleiben, nachts ist es ziemlich kalt draußen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung wo er schläft“ erwiderte ich, „aber bei uns kann er nicht bleiben, sagt er. Das kann er erst, wenn er 18 ist. Und ich glaube, er will es auch gar nicht.“ „Wieso erst wenn er 18 ist? Wird er dann nicht mehr gesucht?“ Meine Mutter sah etwas ungläubig aus. „Weiß ich nicht so genau. Aber dann muss er nicht mehr ins Heim zurück, wenn er nicht will.“ Tiger kam wieder, setzte sich und räumte zusammen mit Nora das Spiel weg. „Meine Sachen hab ich bei einem Bekannten. Bei dem penne ich auch hin und wieder. Und wenn das nicht geht, penne ich in einem besetzten Haus in der Görlitzer Straße.“ Wir schwiegen einen Moment. Tiger wich meinem verdutzten Blick aus. „Habt ihr denn da Strom und fließend Wasser!?“ fand meine Mutter als erste die Sprache wieder. „Ja, also Licht haben wir. Aber Wasser nicht, da kann man auch nicht auf Klo und so.“ Ich verzog das Gesicht. „Das muss doch scheißekalt sein…“ murmelte ich. „Man kann sich ja warm anziehen!“ lachte Tiger. Doch witzig fand das keiner von uns, nicht einmal er selbst. „Du weißt, dass du jederzeit hier wohnen kannst, Marc. Und du kannst auch zum essen und duschen kommen, das ist gar kein Problem.“ sagte meine Mutter im liebevollen Glucken-Ton. „Ich weiß“ antwortete Tiger etwas peinlich berührt, „ich krieg das schon hin.Trotzdem danke.“ „Ich glaube, wir gehen jetzt langsam m! al schla fen“ entschuldigte ich Tiger und mich und zog ihn mit in mein Zimmer, wo wir uns ein gemütliches Schlaflager herrichteten. Nachdem Tiger kurz auf dem Balkon noch eine Zigarette geraucht hatte, schmiss er sich in mein Bett und kuschelte sich ein. „Geiles Ding…“ säuselte er leise. „Was denn?“ fragte ich. „Das Bett, die Decke, und du…“ Ich lachte und warf mich neben ihn. Einen Moment lang sahen wir uns tief in die Augen, dann küssten wir uns. Ich hoffte, alles würde so schön bleiben wie es jetzt gerade war. Es konnte ja eigentlich nur besser werden… Oder?

 
Später am Abend – wir hatten inzwischen eine Doppelfolge Golden Girls und eine äußerst interessante Domian-Sendung hinter uns, zog ich meinen kuscheligen Schlafanzug an und ging Zähneputzen, da ich mittlerweile wirklich müde geworden war. Auch Tiger war beim Fernsehen immer wieder kurz neben mir eingenickt. Als ich wiederkam, lag er bereits in T-Shirt und Boxershorts da und wartete auf mich. Aber irgendwas war anders… Er wirkte nervös und unruhig, fast ein bisschen verwirrt. „Was ist los?“ fragte ich besorgt. „Nichts, was sollte denn sein?“ Er klang nur bedingt überzeugend. Dennoch ließ ich es gut sein, löschte das Licht und legte mich neben ihn. Im Dunkeln streichelte ich ihn unter der Bettdecke, strich mit der Fingerkuppe vorsichtig über seine Arme. Ich spürte die erhabenen Narben und wunderte mich, dass er es zuließ, dass ich ihn an seinen Armen überhaupt berührte. Doch bald merkte ich, wie gleichmäßig er atmete – Tiger war längst eingeschlafen. Ich wollte zum Einschlafen meine Füße um seine legen und strich langsam mit dem großen Zeh über seine Unterschenkel. Und da spürte ich es: Tiefe Schnitte in der Haut, spürbare Wunden, zwei oder drei Pflaster. Ich zog meinen Fuß ruckartig weg, blieb noch einige Zeit grübelnd und traurig wach liegen und schlief schließlich erschöpft ein.

 
Ich wurde aus der tiefsten Traumphase geweckt, als Tiger gerade auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, wenige Minuten später wieder zurück kam und sich neben mich legte. Ich hielt die Augen geschlossen und tat, als hätte ich nichts gemerkt. Vielleicht war er nur auf der Toilette. Aber eines war seltsam: Warum roch er plötzlich nach Grass? Der Geruch war unverkennbar; streng und beißend.

 
Als ich am nächsten Morgen aufwachte war Tiger fort.

 
 

 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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