Carrie Winter

Bitte frag mich!

Langsam ließ sie ihre langen Fingernägel über ihre Hand gleiten. Sie erhöhte den Druck etwas und fuhr hinunter zu ihrem Handgelenk. Dort hielt sie inne und presste ihre Nägel fest in ihre weiße Haut. Blut trat unter ihnen hervor und färbte ihre Fingerspitzen glänzend rot.
Auf ihrem Gesicht lag ein leichtes Lächeln.
Sanft kratzte sie über ihren Unterarm und beobachtete fasziniert, wie sich rote Striche bildeten, die von mal zu mal dunkler wurden. Ihre Haut war richtig heiß geworden durch das ständige auf und ab. Aber sie ließ sich dadurch nicht stören. Ihre Bewegungen wurden schneller, der Druck gegen ihre Haut höher. Sie spürte, wie in Zeitlupentempo ein Blutstropfen an ihrem Arm hinunter lief und auf die weiße Fließe unter ihr tropfte.
Ihm folgte noch einer, und noch einer, bis sie sich in einer kleinen Pfütze aus Lebenssaft wieder fand. In ihrem Kopf war auf einmal eine wunderbare Leere. All die Gedanken, die sie quälten, waren auf einmal weg. Keine lästigen Stimmen mehr, die ihr sagten, das sie versagen würde. Eine bezaubernde Ruhe. Als wäre sie vom Rest der Welt abgeschirmt.
Ihr Lächeln wurde breiter. Schließlich musste sie sogar lachen. Es war so befreiend!
Ihre Nägel spielten immer noch dieses wunderschöne Lied des Schmerzes auf ihrer Haut.
Jede Note war ein Kratzer mehr, brachte einen Ton heraus und trieb ihre Gefühle davon.
Sie war frei. Musste sich nicht darum kümmern, was andere von ihr dachten. Wie sie den Tag überstehen würde. Was für einen Sinn das Leben hatte. Sie war einfach sie selbst.
Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren.
„Courtney! Bist du immer noch da drin? Beeil dich! Andere müssen auch noch ins Bad!“
„Ja, Mom.“ Antwortete sie ruhig und grub gleichzeitig ihre Nägel in ihre Haut.
Sie sank auf die Knie und begann das Blut vom Boden aufzuwischen und ihren Arm zu säubern. Nachdem sie das erledigt hatte, warf sie noch einmal einen kurzen Blick auf ihren vernarbten Arm und sperrte dann die Tür auf.
„Na endlich!“ empfing ihre Mutter sie. „Wir fahren heute übrigens mit den anderen ins Schwimmbad. Also pack dein Badezeug ein.“
„Ich kann nicht mit.“ Sagte sie schnell und blickte auf den Boden.
„Aber wieso denn nicht?“ fragte ihre Mutter verblüfft. „Früher bist du doch so gerne schwimmen gegangen!“
„Ich muss noch was für die Schule machen...“
„Na dann nicht.“
Traurig sah sie ihrer Mutter nach, wie sie ins Badezimmer ging. Sie hatte nicht nachgefragt.
Sie hatte nicht gefragt, warum sie keine T-shirts anzog, obwohl es so heiß war.
Sie hatte nicht gefragt, was sie unter den langen Ärmeln ihres Pullovers versteckte.
Und dabei war doch ihr größter Wunsch, das endlich jemanden kommen und sagen würde, das sie damit aufhören kann...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Carrie Winter).
Der Beitrag wurde von Carrie Winter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Carrie Winter als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Dem Leben entgegen von Monika Wilhelm



Zwei sensible Frauen, die sensible Gedichte schreiben. Beide schürfen tief. Da bleibt nichts an der Oberfläche. Beide schöpfen aus ihrem emotionalen Reichtum und ihrem souveränen Umgang mit Sprache. Dabei entfalten sie eine immer wieder überraschende Bandbreite: Manches spiegelt die Ästhetik traditioneller formaler Regeln, manches erscheint fast pointilistisch und lässt viel Raum für die eigenen Gedanken und Empfindungen des Lesers. Ein ausgefeiltes Sonett findet sich neben hingetupften sprachlichen Steinchen, die, wenn sie erst in Bewegung geraten, eine ganze Lawine von Assoziationen und Gefühlen auslösen könenn. Bildschön die Kettengedichte nach japanischem Vorbild! Wer hier zunächst über Begriffe wie Oberstollen und Unterstollen stolpert, der hat anhand dieser feinsinnigen Texte mit einem Mal die Chance, eine Tür zu öffnen und - vielleicht auch mit Hilfe von Google oder Wikipedia - die filigrane Welt der Tankas und Rengas zu entdecken. Dass Stefanie Junker und Monika Wilhelm sich auch in Bildern ausdrücken können, erschließt an vielen Stellen eine zusätzliche Dimension [...]

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (6)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Carrie Winter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Rein interessehalber... von Carrie Winter (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
EINSAMKEIT von Christine Wolny (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Biographie eines Knoppers von Katja Klüting (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen