Annika Albe

Morgendämmerung

Es ist  kühl. Viel zu kalt, für einen Maitag. Schlaf liegt  über der Stadt, die aber in weniger als einer Stunde zum Leben erwachen wird. Sie sitzt da, ohne jegliche Bewegung. Den Blick starr geradeaus. Sie ist alleine. Die Hauwände sind grau, so grau wie ihre Haare, die ihr ungekämmt in das Gesicht fallen. Über einer der Hausdächer steigt die Sonne als roter Ball in den Himmel. Sie spiegelt sich in den Augen der Frau wider, klar und rot, in den hellen, blauen Augen. Das Einzige, was ihr noch von damals geblieben ist.   Viele Sonnenaufgänge hat sie schon gesehen.   Ein Windstoß. Reklameblätter werden ihr vor die Füße geweht. Bunt und unruhig sind sie, so wie alles in ihrer Welt. Die Kirchturmuhr schlägt sechsmal. Es ist sechs Uhr. Sechs Uhr am Morgen. Eine Tür, drei Häuser weiter wird aufgestoßen. Es ist eine junge Frau mit einem Baby. Sie kennt die Frau, jeden Morgen sieht sie Sie zur Arbeit gehen. Jeden Morgen um sechs. Die Sonne steigt höher.   Der Himmel wird in ein Hauch von rosa getaucht. Ein blaues Auto fährt vorbei. Darin sitzt ein älterer Mann, im schwarzen Anzug und einer roten Krawatte. Er wird vorne am Kiosk halten, sich eine Zeitung und ein Käsebrötchen mit extra viel Tomate kaufen, so wie er es immer viertel nach sechs macht . Gelb färbt sich nun der rote Feuerball. Eine Gruppe junger Mädchen geht an ihr vorbei. Sie sind geschminkt und modern gekleidet. Laut reden sie miteinander. Zu laut! Ihre Stimmen hallen von den engstehenden Häuserwänden zurück.   Sie erinnert sich an ihre Jugend. Schön war sie. Blond, hoch gewachsen und von vielen bewundert. Ihre hellen, blauen Augen leuchten, wenn sie daran denkt. Ihre Augen, die ihr als einziges von damals noch geblieben sind.     Die Mädchen entfernen sich, sie werden jetzt zur Schule gehen. Warme Strahlen wärmen sie. Vielleicht wird es heute doch noch schön. Ein Hund, der an der Leine geführt wird, läuft auf der rechten Seite an ihr vorbei. Sie weiß, dass er sein Geschäft am zweiten Baum verrichten wird. Die Kirchglocke schlägt zweimal. Es ist halb sieben. Halb sieben am Morgen.   Sie richtet ihren Blick nach rechts. In zwei Minuten wird sich eine dicke Dame, beladen mit Einkaufstüten durch den Hauseingang, vier Häuser weiter, schieben und sich auf den Weg zum Laden in der Rosenstraße  machen. Die Sonne steigt noch höher.  Geblendet von den Sonnenstrahlen schaut sie zu Boden. Er ist grau, so grau wie ihre Haut. Kaugummi, Zigarettenstummel, Zeitungspapier und allerlei Schmutz bedecken die Pflasterstraße. Sie hört Schritte, weite und nahe. Sie gehören vier Frauen, zwei alten Männern und vielen Jugendlichen. Blaue, rote, schwarze, große und kleine Schuhe laufen an ihr vorbei. Gehetzt, durch sich selbst. Niemand beachtet sie. Sie blickt nach links. Kinder mit schweren Taschen stehen am Kiosk. Ein Mädchen mit  blonden Zöpfen wird sich zwei Lakritzstangen kaufen. Sie sieht das Kind. Sieht sich. Sie hatte als Kind auch immer Zöpfe, nur Lakritzstangen konnte sie sich nie kaufen.   Die Sonne brennt auf ihrem Gesicht. Sie schaut nach vorne auf die andere Straßenseite. Sie erschrickt. Dort ist etwas anders. Anders als sonst. Es sind nicht die Menschen, die in aller Eile ihren Weg entlanghetzen. Das tun sie jeden Morgen um kurz vor sechs. Nein, es ist etwas kleines, etwas graues, das sich durch einen Spalt im aufgesprungenen Teer geschoben hat. Ein zarter Stängel, mit Blättern trägt ein großen grauen Kopf, einen Kopf, der eigentlich gelb sein müsste. Sie sieht die Pflanze. Sie ist grau, so grau wie sie. Schritte eilen vorbei, vorbei an ihr und vorbei an dem Pflänzchen. Die Schritte gehören einem Mann. Er ist Lehrer. Niemand beachtet sie.  Der Kirchturm schlägt sieben mal. Es ist sieben Uhr. Sieben Uhr am Morgen.    

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Annika Albe).
Der Beitrag wurde von Annika Albe auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Annika Albe als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Kriminalfälle der Ms. Kicki: Die dunklen Geheimnisse von "Rose Violet" von Ramona Benouadah



Ms. Kicki ist mit Leib und Seele Kommissarin. Zusammen mit ihrem Freund und Assistenten Harry löst sie mit Herzblut und Charme spannende Kriminalfälle in der englischen Provinz "Rose Violet". Sie werden jetzt sicherlich denken, dass dies ein ganz normaler und langweiliger Krimi ist, aber da muss ich Sie enttäuschen...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Annika Albe

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Zonen von Annika Albe (Trauriges / Verzweiflung)
Hoffnung...und Schicksal... von Rüdiger Nazar (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Bunte Strände von Rainer Tiemann (Beobachtungen am Strand)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen