Es
ist kühl. Viel zu kalt, für einen
Maitag. Schlaf liegt über der Stadt, die
aber in weniger als einer Stunde zum Leben erwachen wird. Sie sitzt da, ohne
jegliche Bewegung. Den Blick starr geradeaus. Sie ist alleine. Die Hauwände sind
grau, so grau wie ihre Haare, die ihr ungekämmt in das Gesicht fallen. Über
einer der Hausdächer steigt die Sonne als roter Ball in den Himmel. Sie
spiegelt sich in den Augen der Frau wider, klar und rot, in den hellen, blauen
Augen. Das Einzige, was ihr noch von damals geblieben ist.
Viele
Sonnenaufgänge hat sie schon gesehen.
Ein
Windstoß. Reklameblätter werden ihr vor die Füße geweht. Bunt und unruhig sind
sie, so wie alles in ihrer Welt. Die Kirchturmuhr schlägt sechsmal. Es ist
sechs Uhr. Sechs Uhr am Morgen.
Eine
Tür, drei Häuser weiter wird aufgestoßen. Es ist eine junge Frau mit einem
Baby. Sie kennt die Frau, jeden Morgen sieht sie Sie zur Arbeit gehen. Jeden
Morgen um sechs. Die Sonne steigt höher.
Der
Himmel wird in ein Hauch von rosa getaucht. Ein blaues Auto fährt vorbei. Darin
sitzt ein älterer Mann, im schwarzen Anzug und einer roten Krawatte. Er wird
vorne am Kiosk halten, sich eine Zeitung und ein Käsebrötchen mit extra viel
Tomate kaufen, so wie er es immer viertel nach sechs macht
.
Gelb
färbt sich nun der rote Feuerball. Eine Gruppe junger Mädchen geht an ihr
vorbei. Sie sind geschminkt und modern gekleidet. Laut reden sie miteinander.
Zu laut! Ihre Stimmen hallen von den engstehenden Häuserwänden zurück.
Sie
erinnert sich an ihre Jugend. Schön war sie. Blond, hoch gewachsen und von
vielen bewundert.
Ihre
hellen, blauen Augen leuchten, wenn sie daran denkt. Ihre Augen, die ihr als
einziges von damals noch geblieben sind.
Die
Mädchen entfernen sich, sie werden jetzt zur Schule gehen. Warme Strahlen
wärmen sie.
Vielleicht
wird es heute doch noch schön. Ein Hund, der an der Leine geführt wird, läuft
auf der rechten Seite an ihr vorbei. Sie weiß, dass er sein Geschäft am zweiten
Baum verrichten wird.
Die
Kirchglocke schlägt zweimal. Es ist halb sieben. Halb sieben am Morgen.
Sie
richtet ihren Blick nach rechts. In zwei Minuten wird sich eine dicke Dame,
beladen mit Einkaufstüten durch den Hauseingang, vier Häuser weiter, schieben
und sich auf den Weg zum Laden in der Rosenstraße machen. Die Sonne steigt noch höher.
Geblendet
von den Sonnenstrahlen schaut sie zu Boden. Er ist grau, so grau wie ihre Haut.
Kaugummi, Zigarettenstummel, Zeitungspapier und allerlei Schmutz bedecken die
Pflasterstraße.
Sie
hört Schritte, weite und nahe. Sie gehören vier Frauen, zwei alten Männern und
vielen Jugendlichen. Blaue, rote, schwarze, große und kleine Schuhe laufen an
ihr vorbei. Gehetzt, durch sich selbst. Niemand beachtet sie.
Sie blickt nach links. Kinder
mit schweren Taschen stehen am Kiosk. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen wird sich zwei Lakritzstangen
kaufen. Sie sieht das Kind. Sieht sich. Sie hatte als Kind auch immer Zöpfe,
nur Lakritzstangen konnte sie sich nie kaufen.
Die
Sonne brennt auf ihrem Gesicht. Sie schaut nach vorne auf die andere
Straßenseite. Sie erschrickt. Dort ist etwas anders. Anders als sonst. Es sind
nicht die Menschen, die in aller Eile ihren Weg entlanghetzen. Das tun sie
jeden Morgen um kurz vor sechs. Nein, es ist etwas kleines, etwas graues, das
sich durch einen Spalt im aufgesprungenen Teer geschoben hat. Ein zarter
Stängel, mit Blättern trägt ein großen grauen Kopf, einen Kopf, der eigentlich
gelb sein müsste. Sie sieht die Pflanze. Sie ist grau, so grau wie sie.
Schritte eilen vorbei, vorbei an ihr und vorbei an dem Pflänzchen. Die Schritte
gehören einem Mann. Er ist Lehrer. Niemand beachtet sie.
Der
Kirchturm schlägt sieben mal. Es ist sieben Uhr. Sieben Uhr am Morgen.