Sven Später

Still, mein schreiendes Herz

Das Erste, das er sah als er die Augen aufschlug, war diese undurchdringliche Finsternis. Eine perfekte Schwärze von morbider Reinheit. Und sein erstes Gefühl nach dem Erwachen war Schmerz. Kein körperlicher Schmerz. Nein, seine Seele schien vor Qualen zu schreien. Er wusste ganz genau wo er war und es gefiel ihm keineswegs. Hier war es so eng, so stickig. Die Erinnerung an modrigen Geruch gaukelte seiner Nase vor, er sei noch in der Lage etwas zu riechen.
All die Sinneswahrnehmungen bestanden nur mehr aus Erinnerungsfetzen, die seinem Geist Eindrücke vermittelten. Sie gaben ihm zu verstehen, wie es sich anfühlen musste, wenn man knapp zwei Meter tief unter der Erde lag.
Eingeschlossen in eine Holzkiste, die seine letzte Ruhestätte hätte sein sollen, versuchte er die Lungen mit Luft zu füllen. Für einen toten Körper nicht mehr als das Ausführen vergangener Gewohnheiten, die nicht so leicht abgelegt werden konnten.
Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er, dass über ihm einige Blumen in die Erde gepflanzt worden waren. Sie sollten ihn ehren, ihm bis in alle Ewigkeit Trost spenden. Früher hatte er an den Gräbern derer, die er geliebt hatte, ebenso gehandelt. Tote blieben üblicher Weise tot. Was hier mit ihm gerade geschah, hatte nichts mehr mit dem normalen Lauf der Dinge zu tun. Es war falsch – aber es geschah.
Seit einem halben Jahr lag sein Körper schon hier unten. Ein langer Schlaf, aber nicht endgültig. Die Seele war in den verfaulenden Körper zurückgekehrt um ihm die Möglichkeit zu geben, einige Dinge zu richten, die seinen Geist nicht ruhen ließen. Erst dann, wenn alles erledigt war, würde der ewige Schlaf ihm Frieden schenken können.
Sechs Monate, in denen er einer anderen Ebene aus hatte mitansehen müssen, wie sinnlos doch sein Tod gewesen war. Wie unsinnig die Entscheidung, noch vor seiner Zeit gehen zu wollen. Aus freien Stücken, durch die eigene Hand.
Damals hatte ihn niemand ernst genommen. Sie alle hatten es ihm ausreden, ihn zur Vernunft bringen wollen. Doch eines Nachts, in der die Einsamkeit und der Schmerz einer verlorenen Liebe ihn zu erdrücken drohten, hatte er sämtliche Zweifel mühevoll erstickt und zu einer Rasierklinge gegriffen. Wie schrecklich doch der Schmerz gewesen war, doch er hatte bei weitem nicht die Pein in seinem gebrochenen Herzen übertreffen können.
Er dachte an den Blutstrom, der sich aus seinen Handgelenken ergossen hatte. Erinnerte sich an das Gefühl als sein Geist langsam aus dem Körper gewichen war.
Warum konnte er nicht einfach weiterschlafen? Hatte es denn niemals ein Ende?
Doch.
Sobald seine Arbeit getan war, durfte er schlafen und musste niemals wieder zurückkehren.
Langsam stieg auch wieder der alte Hass in ihm auf, der für sein Ableben mitverantwortlich gewesen war. Unglaubliche Wut ergriff von ihm Besitz, ließ sein Fleisch wiederkehren, seine Organe, seine Haut. Angetrieben von einer dämonischen Kraft bewegte er langsam seine rechte Hand, ballte sie zur Faust und hämmerte damit gegen den Deckel des Sarges. Bald darauf schloss sich auch die Linke dem beständigen Schlagen an und nach einer Weile hörte er das Holz splittern.
Durch das kleine Loch ergoss sich Erde in das Innere der Kiste. Er schrie, tobte. Das Brüllen und Fauchen eines unnatürlichen Wesens drang aus der Erde, doch niemand hörte es auf dem menschenleeren Friedhof. Die Laute klangen nicht menschlich, denn er war kein Mensch mehr. Er war ein Geschöpf der Nacht. Eine Kreatur, die nur von dem Gefühl der Rache angetrieben wurde.
Er wollte nur eines: hinaus in die Nacht und diejenigen zu finden, die für alles, was mit ihm geschehen war, verantwortlich waren. Sie sollten langsam sterben. Er würde jeden einzelnen Schrei genießen und jede einzelne Seele, die den dazugehörigen Körper verließ, würde ihn der ewigen Ruhe einen Schritt näher bringen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis sich seine Finger durch den Schlamm gebohrt hatten um die kühle Nachtluft zu erreichen. Es musste ganz einfach Nacht sein, obwohl noch nichts zu erkennen war. In der Vergangenheit war er überzeugt davon gewesen, dass die Toten nur in der Dunkelheit aus ihrem Schlaf erwachen konnten.
Immer weiter gruben sich die Hände in Richtung Oberwelt. Er zerriss Würmer und schmeckte Erde in seinem Mund als sich sein Körper nach oben drückte.
Endlich ließ der Widerstand an den Fingerspitzen nach und er wusste, dass die Barriere durchbrochen war. Die letzte Grenze zwischen der realen Welt und des Schattenreiches. Die Hand schob sich weiter und erreichte einen harten Gegenstand. Mühevoll begann er damit, sich daran hochzuziehen. Als sein Kopf schließlich das nun lockere Erdreich durchbrach, wurde er von grellem Licht geblendet. Zuerst glaubte die Kreatur es handele sich um starke Scheinwerfer, die aus irgendeinem Grund den Friedhof beleuchteten. Aber bald erkannte er die Wirklichkeit: Es war helllichter Tag.
Nachdem sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er die Blumen auf seiner Ruhestätte und den Grabstein.
William M. Holding stand dort in goldfarbener, verzierter Schrift. Lediglich eine bedeutungslose Aneinanderreihung von Buchstaben. Für ihn war es nicht mehr wichtig wie er hieß. Racheengel brauchten keine Namen. Sie waren nichts anderes als menschliche Spielereien, einfach uninteressant und lächerlich.
Unter den Buchstaben standen Zahlen und Zeichen, die er nicht mehr zu deuten wußte:
*1967 +1993.
Was immer das auch heißen mochte, diejenigen, die ihn hier besuchten, würden es schon wissen.
Er drehte den Kopf in alle Richtungen und sah eine Welt, die vor langer Zeit sein Zuhause gewesen sein musste, aber seine Seele hatte fast alles verdrängt. Besucher aus dem Reich der Toten waren hier nicht willkommen. Sie hatten auf dieser Existenzebene nichts verloren.
Die Bäume waren kahl und der Himmel hatte eine graue, trübe Farbe angenommen. Trotz der Kargheit nahm er das Gefühl von Leben wahr, das ihn umgab. All die Pflanzen schliefen nur. Allein seine Anwesenheit war das wahrhaftig Tote weit und breit.
Wie hieß doch gleich diese Jahreszeit? War es nun Frühling oder Herbst? Er überlegte angestrengt und kam zu dem Schluss, dass es Herbst sein musste. Diese Jahreszeit hatte er über alles geliebt und da selbst jetzt ein Hauch von Romantik in ihm aufstieg und seinen kalten Körper zu wärmen versuchte, konnte alles andere ausgeschlossen werden.
Direkt vor ihm lag eine welke Rose und ein Brief. Er nahm mit steifen Fingern die Blume und schaute sie eingehend an. Dann griff der Leichnam nach dem Kuvert und versuchte es aufzureißen. Es war schwierig, aber er schaffte es. Seine Seele bemühte sich, die Buchstaben auf dem darin befindlichen Blatt Papier zu deuten:

Ich vermisse dich, William. Du wirst diese Zeilen niemals lesen können, aber ich musste sie einfach schreiben. Vielleicht kannst Du sie dort, wo Du nun bist, doch sehen.
Mir ist nach all der Zeit vieles klar geworden. Ich war vielleicht zu blind um Dich wirklich zu sehen, um dich verstehen zu können. Ich weiß, Du meintest es nur gut. Wir hatten eine so wunderbare Zeit. Eine Freundschaft, die mir viel, sehr viel bedeutet hatte, auch wenn es am Ende anders ausgesehen haben mochte.
Damals brauchte ich einfach meine Freiheit, war verwöhnt und egoistisch. Ich habe zu spät erkannt, dass Du mich wirklich und ehrlich geliebt hast. Jetzt ist alles vorbei und ich kann Dir nur noch in diesem Brief mitteilen, wie sehr Du mir fehlst.
Ich habe gelernt und ich habe verstanden. Du warst verletzt, gekränkt und ich hatte kein Mitgefühl, spielte mit Deiner Liebe. Es tut mir so leid.
Bitte verzeih mir.
Seitdem Du gegangen bist, ist mein Leben kalt und leer. Ich werde Dich bald besuchen können, da ich mit dieser Schuld nicht mehr weiterleben kann. Finde Deine verdiente Ruhe und sollten wir uns in Deiner Welt nicht wiedersehen, möchte ich Dich wissen lassen, dass ich Dich trotz allem geliebt habe.
In Liebe
Clarissa!
Smallhill, 10-20-1995

Er zerknüllte das Blatt und schluchzte, aber es glich mehr einem tiefen Röcheln. Seine Augen wurden trübe. Er glaubte salzige Tränen zu riechen, die ihm über die bleichen Wangen rannen.
Clarissa. Was war mit ihr? Der Brief konnte noch nicht so alt sein. Sie schrieb von ihrem Ende. Wollte sie sich etwa selbst töten, so wie er es getan hatte? Nein, das durfte nicht sein. Seine Erinnerungen reisten weit zurück und er sah sie vor sich. Sah, wie sie ihn liebevoll ansah, wie sie ihn anlächelte, ihm das Gefühl gab, gebraucht zu werden.
Oh ja, er hatte sie geliebt. Sie und keine andere, aber Clarissa hatte ihn nicht verstanden, hatte ihn ausgenutzt und belogen. Ihretwegen war er zurückgekommen. Ihretwegen hatte er den Ort verlassen, an den sie ihn verbannt hatte. Ihretwegen und wegen diesem falschen Freund, der sich zwischen ihn und Clarissa gestellt hatte. Ein arroganter Fiesling, verdorben bis ins Mark und unehrlich. Dumm und eitel, obwohl er nichts hatte bieten können. Ein Blender, dem es nicht einmal Spaß bereitete, wenn er Menschen verletzte, weil ihm selbst zu einer solchen Genugtuung der Verstand fehlte. Ungehobelt. Unfähig Liebe zu geben und zu empfinden, sofern es sich nicht um bloße körperliche Lust handelte.
Der Rückkehrer hatte sich an ihm und ihr Rächen wollen, aber nun entschied er, dass es wohl keine wirkliche Lösung sein konnte. Nicht, nachdem er diese Zeilen gelesen hatte. Der Brief offenbarte ihm Clarissas wahre Gefühle. Also hatte er ihr doch etwas bedeutet. Sie durfte nicht sterben, nicht so. Seine Seele sollte Ruhe finden, aber wenn sie sich selbst etwas antat, obwohl sie Reue gezeigt hatte, würde das für alle Ewigkeit unmöglich sein.
Clarissa musste am Leben bleiben, sie musste wissen, dass er ihr verzeihen konnte.
Ron würde sterben, daran führte kein Weg vorbei. Der Judas, der sich in sein Leben geschlichen hatte damals, durfte nicht ungeschoren davonkommen. Sein Hass auf diesen abscheulichen Idioten war so stark wie nie zuvor.
Warum hatte Ron nicht auf das Mädchen aufgepasst? War sie ihm etwa schon langweilig geworden?
Sein letzter Gedanke als Sterbender hatte den beiden Menschen gegolten, die ihm die Möglichkeit genommen hatten, mit dem Dasein an sich fertig zu werden. Sie hatten ihn beraubt, hatten ihm die Fähigkeit zu lieben gestohlen und nun sollte der Initiator dieser Diebestour teuer dafür bezahlen.
Im Gegensatz zu den typischen Zombie-Filmen, die er früher regelrecht verschlungen hatte, konnte sich William nach einer Weile wieder recht normal bewegen. Seine Schultern hingen nicht schlaff herab und er hatte auch nicht diesen seltsam schleppenden Gang. Weder Stöhnen, noch Röcheln drangen aus seiner Kehle. Er sabberte nicht und er hatte auch keine Lust auf Menschenfleisch. Seine Seele sagte ihm, dass dies ja auch die Realität sei und keine Fiktion einiger phantasiebegabter Regiesseure.
Er bemerkte den langen dunkelgrauen Mantel, der seine Gestalt einhüllte und die restliche Kleidung, in der er nicht beerdigt worden war. Ihm war es vollkommen egal, wie so etwas möglich sein konnte. William sah nicht aus wie ein wandelnder Leichnam, sondern glich dem Tod höchstpersönlich. Eine menschenähnliche Manifestation des Sensenmanns, der sich auf die Suche nach neuen Seelen machte.
Der Friedhof lag außerhalb der kleinen Stadt und es würde ein langer Fußmarsch werden, doch William erinnerte sich immer wieder daran, dass er sich beeilen musste. Der Brief konnte noch nicht sehr lange an seinem Grab gelegen haben, so war seine Liebste noch nicht verloren. Er spürte es. Clarissa hatte es nicht verdient, auf diese Weise zu sterben. Nicht, nachdem sie ihre Schuld eingesehen und ihn nachträglich um Vergebung gebeten hatte.
Hätte er sie überhaupt töten können, auch ohne diesen Brief?
Er zweifelte daran, denn seine Liebe zu ihr war stärker als die Wut in den eigenen blutleeren Adern..
Wie erwartet war das Tor nicht verschlossen. Hier gab es keine Vandalen, die Gräber schändeten.
Er sah noch einmal zurück und entdeckte ein Grab, an dem er viele Nächte verbracht hatte, an dem er unzählige Tränen vergossen hatte. Dort drüben, nahe der blattlosen Weide, lag seine Mutter, die ihn nach der Geburt hatte verlassen müssen. Zuerst dachte William einen kurzen Augenblick darüber nach umzukehren und einen Augenblick bei dem verwitterten Gedenkstein zu verweilen. Einfach nur um sich in seinen alten Träumen zu verlieren, aber die Angst um Clarissa hielt ihn davon ab.
Seltsam, es waren weder Autos, noch Menschen unterwegs. Alles schien so verlassen, einfach unwirklich. Die Straße schlängelte sich einsam nach Westen und in der Ferne konnte man die ersten Häuser erkennen. Clarissa wohnte am anderen Ende der Stadt, doch er hatte keine Angst von irgend jemandem gesehen zu werden. William wusste, dass heute alle Menschen in ihren Wohnungen bleiben würden und selbst nicht den Grund dafür kannten. Vielleicht lag es an dem seltsamen Geruch in der Luft. Nein, das war kein Geruch, es handelte sich eher um die Atmosphäre. Sie verbreitete Trauer, Schwermut und Furcht. Furcht vor dem, der kommen und sich an den Schuldigen rächen würde.
Rechts und links von ihm säumten Sträucher und kleine Bäume den Weg. Es wirkte sehr romantisch, düster und bedrohlich zugleich. Der Wind verfing sich in seinen langen, dunklen Locken und spielte mit ihnen.
Jeder Schritt brachte ihn näher an Clarissa heran, und jeder Schritt glich einem Messerstich in sein schreiendes Herz, das sich nach Frieden sehnte.
Die andere Welt hatte ihm besser gefallen. Dort gab es keine Jahreszeiten, wenn man sich keine wünschte. Dort wehte ein ewiger Wind, der so kalt war wie im November und so heiß wie im August. Alles war eins, alles war das Universum - alles war Gott und Teufel zugleich. Er suchte nach Worten, diese Welt in Gedanken zu beschreiben, stellte aber fest, dass es mit irdischen Dingen nichts gemein hatte.
Es war eine Dimension, die für die Lebenden einfach unvorstellbar schön und grausam war. Weder Engel, noch Dämonen störten das Bild dieser perfekt abstrakten Ebene. Sie gehörten allesamt in das Reich der Phantasie. Sie waren Traumgebilde und erfundene Gestalten. Das Paradies war ein Nebel aus schwebenden Seelen, die durch das Weltall reisen konnten, wenn ihnen danach zumute war. Die Seelen konnten ihre Träume leben, ihre eigenen Welten erschaffen und darin eine Weile glücklich sein. Sie hatten die Ewigkeit und die Ewigkeit war ein Spielplatz mit unzähligen Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Tausend Jahre waren wie ein Tag. Man durfte in Gedanken vorwärts und rückwärts reisen. Hinein in eine mögliche Zukunft und in eine alternative Vergangenheit. Alles war gleich und verschieden.
Doch blieben den ruhelosesten Seelen die wahren Freuden des Nachlebens vorenthalten. Wer keinen Weg fand, seine innere Ruhe zu finden, blieb unzufrieden. Gequälte Seelen wurden von Alpträumen gejagt.
Momentan spielte dies alles keine Rolle. Jetzt, da sich William wieder in der Welt der Lebenden befand, war es sinnlos mit menschlichen Gedanken die Unendlichkeit ergründen zu wollen. Ein gutes Stück entfernt wartete Clarissa unwissentlich auf ihren dunklen Engel, der sie retten würde und der bereit war ihr zu verzeihen.
Was sie wohl gerade tat? Lag sie auf ihrem Bett und weinte? Stand sie im Badezimmer und betrachtete sich eingehend die scharfe Klinge, so wie er es seinerzeit getan hatte? Oder ergoss sich ihr roter Lebenssaft bereits aus ihren geöffneten Adern und bedeckte den Boden?
Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Gefühle verändern können, dachte William. Noch vor wenigen Minuten hatte er vorgehabt, sie zu bestrafen. Und jetzt - abgrundtiefer Hass war unendlicher Liebe gewichen. Er hatte eine schreckliche Angst um sie.
Die Zeit schien dahin zu rasen. Seltsam für diejenigen, die im Grunde die Ewigkeit ihr Eigen nennen konnten. Aber für die Lebenden herrschten Tag und Nacht; Stunden, Minuten und Sekunden über Leben und Tod.
Was würde geschehen, wenn er zu spät kam? Würde er ihren leblosen Körper in seine kalten Arme schließen und weinen? Konnte er denn überhaupt noch aufrichtig weinen? Diese kleinen Tränen, die aus seinen Augen getreten waren als er den Brief gelesen hatte, bestätigten seine Vermutung: mit der Rückkehr in die reale Welt waren auch die üblichen Gefühle wiedergekehrt.
Endlich hießen ihn die ersten Häuser willkommen. Sie ragten gespenstisch in den grauen Himmel, der sich rasch verdunkelte. Aus einigen Fenstern fiel gelbliches Licht auf die Straße, die sich scheinbar endlos vor ihm erstreckte. Vermutlich saßen einige Leute vor dem Fernseher und fragten sich, warum sie Angst hatten, vor die Tür zu gehen. Ahnten sie sein Kommen? Konnten sie es spüren? Er fühlte ihre Furcht vor dieser einen Nacht.
Fast bedächtig schritt er aufrecht durch die Straße, die auf beiden Seiten von Vorgärten und kleinen Häusern eingerahmt war. Aus einer Seitenstraße hörte William ein Geräusch, das seltsam hohl klang.
Bumm. Bumm. Bumm.
Er konnte dieses Geräusch nicht einordnen und beschloss, der Sache nachzugehen. Auf einmal war Clarissa vergessen. Nur noch dieser Laut fesselte seine Sinne, zog ihn an. Die Gasse, in die William einbog um dem Ursprung des Geräusches auf die Spur zu kommen, lag verlassen und dunkel vor ihm. Ein Lebender hätte sich vor den vielen Schatten gefürchtet und wäre oft stehen geblieben. Ein Lebender hätte sich Gewissheit verschaffen müssen, dass ihm niemand folgte. Doch William ängstigte sich nicht. Warum denn auch? Was konnte ihm schon passieren? Er war tot.
Bumm. Bumm. Bumm.
Immer wieder dieser dumpfe Klang. Mit jedem Schritt wurde er lauter und forderte den Untoten auf, näher zu kommen.
Nach und nach wurde die Gasse breiter, bis sie in einem runden Hof endete, umgeben von einer hohen Mauer aus verwitterten und mit Moos bewachsenen Steinen. Inmitten dieses Platzes stand ein Mädchen mit dem Rücken zu ihm. Es hatte blonde Zöpfe, trug ein blaues Kleidchen und ließ immer wieder einen Ball auf den Boden fallen, der dort abprallte und den sie wieder auffing.
Bumm. Bumm. Bumm.
Mittlerweile war es dunkler geworden und die schmutzigen Straßenlaternen spendeten nur wenig Licht. William aber sah, dass dieses Mädchen kein gewöhnliches Kind war. Es freute sich nicht bei seinem Spiel. Gleich einer Maschine ließ es den runden Ball fallen, fing ihn auf, ließ ihn fallen.
Als er etwa vier Schritte von dem Mädchen entfernt stehen blieb, hielt dieses inne und drehte sich um. William erschrak, obwohl er es absurd fand, sich vor irgend etwas zu fürchten. Dieser Anblick, der sich ihm bot, ließ selbst seinen toten Körper frösteln. Das Kind hatte kein Gesicht. Die Augen waren kleine, runde Knöpfe, der Mund eine schmale Öffnung, ohne Lippen. Da war keine Nase, keine Wangenknochen, Lider, Wimpern, Augenbrauen. Eine glatte Fläche mit Knopfaugen und eben dieser Öffnung, die so aussah als hätte man in ein rundes Stück Fleisch einen Schnitt gemacht. Ein richtiges Mondgesicht, so wie man es als Schulkind malte.
Aber dieses Mondgesicht lächelte nicht, zeigte keine Emotionen.
Dann begann das Mädchen mit hallender, piepsiger Stimme zu sprechen: “Sie wird dich nicht um Vergebung bitten, William. Sie wird dich auslachen, so wie sie es schon immer getan hatte.”
William wurde von unglaublicher Wut gepackt. Wie konnte es dieses Balg wagen so von Clarissa zu reden? Er hätte sie gerne genommen und gegen eine Wand geschleudert, aber er widerstand diesem Drang und fragte: “Warum bist du dir so sicher? Wer bist du eigentlich?”
“Ich bin ein Teil von dir und Clarissa. Das heißt, ich wäre es geworden, wenn sie dich gewählt hätte. Ich bin eine unfertige, verlorene Seele. Ihr wart füreinander bestimmt, aber sie hat dich in den Tod getrieben, bevor meine Zeit gekommen war.”
William konnte mit diesen Worten nichts anfangen. Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken - da war es wieder, dieses Paradoxon: Zeit für einen, der alle Zeit des Universums zur Verfügung hatte - und wollte nur noch zu Clarissa. Der Rückkehrer wandte sich um, ohne weiter auf das gesichtslose Kind zu achten und hörte es noch ihm nachrufen: “Du wirst deinen Frieden finden, Papa. Du wirst Mama töten.”
Jetzt verstand er. Die Kleine war sein Kind. Nein, sie wäre seine Tochter geworden, hätte Clarissa ihn erwählt. Doch der letzte Satz war schwachsinnig. Er konnte Clarissa gar nichts mehr antun. Immerhin hatte sie sich entschuldigt. Oder etwa nicht?
Das Elixier der Toten pulsierte in seinen Adern. Pures Gift für Menschen, aber ungefährlich für die Dahingeschiedenen, die zurückkommen wollten. Es schien zu kochen. Er wurde nervös und wusste, dass jede Sekunde zählte.
Clarissa, hallte es in seinen Gedanken der Seele wieder. Clarissa. Immer wieder dieser eine Name. Sein Herz schien zu schreien und er versuchte, sich zu beruhigen. Doch selbst Tote konnten nichts gegen unbestimmte Ahnungen unternehmen, die einfach so auf sie einstürzten.
Wenn das Mädchen recht behalten sollte, hätte Clarissa ihn selbst nach seinem Ableben betrogen und ausgelacht.
Das konnte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht sein.
Ganz gleich, was William vorfinden würde, er musste zu ihr. Musste sich selbst davon überzeugen, dass dieses Kind die Unwahrheit gesagt hatte. Die Gesetze der Rückkehrer verboten es, einen anderen Rückkehrer zu belügen. Dennoch konnte er den Worten des ungeborenen Mädchens keinen Glauben schenken. Er kannte diese Sturheit ganz genau. Sie hatte ihn am Ende zerstört. Für ihn war allein Clarissa in Frage gekommen. Niemals hätte er seine Liebe einer anderen Frau schenken können oder wollen.
Sein Schritt beschleunigte sich immer mehr.
Schnelles Gehen.
Laufen.
Rennen!
William wunderte sich darüber, denn es wurde in der jenseitigen Ebene angenommen, ein Rückkehrer könne sich gar nicht beeilen, da es nicht seiner Natur entsprach. Ein Wettrennen gegen die Zeit zu starten war sinnlos, da sie keine Macht mehr hatte. Nun, selbst die körperlosen Seelen konnten sich irren.
Nebel stieg auf, versteckte die Häuser hinter dem grauen, feuchten Dunst. Das Zeug war so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, aber William folgte nicht den menschlichen Sinneseindrücken, sondern seinem Instinkt.
Endlich, nach einem endlos scheinenden Lauf, erreichte er das Haus, in dem Clarissa und Ron zusammen lebten. Ja, sie hatte dieses Gebäude gekauft und den Taugenichts von einem Verräter einziehen lassen. Diese verfluchte Made, diese immer wieder nehmende Ratte, die nie etwas gab.
Stimmen waren im Innern zu hören. Die süße, glasklare Stimme von Clarissa und die helle, an einen Idioten erinnernde Stimme von Ron. Er lachte und sie stimmte mit ein. William bemühte sich, mehr von der Unterhaltung aufzuschnappen und stellte sich in den Schatten einen Baumes, nahe dem hell erleuchteten Fenster.
“Warum hast du ihm diesen Brief geschrieben? Er kann ja jetzt doch nichts mehr damit anfangen.” Rons Frage war so hirnlos, wie es zu erwarten war von einem, der nichts in seinem Leben erreichen würde.
Clarissa antwortete belustigt: “Es erleichtert mein Gewissen, weißt du. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für seinen Tod. Auch wenn es sich ein wenig irre anhören mag, aber man soll selbst mit Toten seinen Frieden machen.”
“Das ist doch albern, Clarissa. William war schon immer schwach gewesen und die Welt hat ja nichts Großartiges an ihm verloren.”
“Hey, sprich nicht so von ihm. Vielleicht steht er da draußen und hört uns zu.”
“Und heult still vor sich hin, wie früher”, meinte Ron und äffte ein Schluchzen nach.
Beide begannen wieder zu lachen. Sie lachten über ihn. Sie machten sich über einen Toten lustig, kannten keinen Respekt.
Williams Wut flammte von Neuem auf. Oh sicher, alle beide hatten es verdient zu sterben. Alle beide hatten es tausendfach verdient.
Er ging zur Vordertür und konzentrierte sich. Hinter ihm begann der Nebel zu leuchten und man konnte den Wiederkehrer nur mehr als bedrohlichen Schatten in der Finsternis erkennen. Dann zersplitterte eine Fensterscheibe. Eine weitere zerbarst unter lautem Klirren, bis alle Fenster des Hausen in unzählige Scherben zersprangen.
“Was ist denn da los”, hörte er Ron erschreckt aufschreien. Ein stinkender Feigling, der sich wohl hinter Clarissa versteckte. Kurz darauf schwang die Vordertür auf, obwohl sie fest verschlossen war. William erkannte seinen Gegner, den hinterlistigen Hund, der ihm alles genommen hatte. Er stand einfach da und starrte den Schatten ungläubig und mit großen Glotzaugen an. Wie immer machte er ein reichlich blödes Gesicht, weil er es nicht verstehen konnte. Ron hatte so seine Schwierigkeiten, die leichtesten Dinge des Lebens zu verstehen. Er war einfach dumm.
Wie erwartet stand Clarissa vor ihm und schrie als William einen Schritt näher kam und sich somit zu erkennen gab. Das Geplärre hätte die gesamte Nachbarschaft aufgeweckt, aber der unnatürliche Nebel verschluckte jeden Laut. Er war Williams Verbündeter in dieser Nacht und würde ihm einen ungestörten Akt der Rache garantieren.
Der Untote wies mit dem Finger auf Ron und sagte mit donnernder Stimme: “Du wirst dir wünschen tot zu sein. Du wirst dir wünschen, Clarissa folgen zu können.”
Ron dachte nicht weiter über die Erscheinung und die drohenden Worte nach und stürzte sich blindlings auf die vor ihm aufragende Gestalt. Nicht, um den Eindringling von Clarissa fern zu halten, sondern um das eigene Heil in der Flucht zu suchen. In seiner Panik und Idiotie hatte er wohl den Hinterausgang vergessen. William ergriff mit blitzartiger Geschwindigkeit die Hand des Feiglings, drehte sie und riss sie ihm vom Arm. Der Bastard schrie aus Leibeskräften, betrachtete sich kurz den blutenden Stumpf und wollte zu Boden sinken. Doch der Schatten hielt ihn an den Haaren fest. Er fuhr mit der freien Hand in Rons Mund und zerdrückte ihm die verräterische Zunge zu einer breiigen Masse. Danach stach William zwei Finger tief genug in die Augen des Feindes um ihn für immer zu blenden. Zuletzt zerschmetterte er mit Tritten Rons Knie und brach beide Knöchel oft genug, dass sie kein Arzt der Welt mehr richten konnte. Endlich hatte er sich ausgetobt und ließ den Mann, der sein Leben lang ein bemitleidenswertes Geschöpf sein würde, einfach liegen.
Nun war Clarissa an der Reihe.
Sie quietschte und wimmerte. Bat ihn, sie zu verschonen und doch lieber Ron zu töten.
“Du bist die falscheste Schlange, die mir je unter die Augen gekommen ist“, fauchte William. „Clarissa, du hast mich umgebracht! Aber ich verzeihe dir, obwohl du es nicht verdient hast. Dir wird Rons Schicksal erspart bleiben. Du sollst mich begleiten und für immer bei mir bleiben. So ist es dir bestimmt.”
Bevor sie ein Wort sagen konnte, war William schon bei ihr und stieß seine Faust in ihren Leib hinein. Er lächelte zufrieden, als er sich den Weg durch ihre Gedärme zum Herzen bahnte. Dann öffnete er sich seinen eigenen Brustkorb und brüllte: “Hörst du mein Herz schreien? Hörst du es schreien, Clarissa? Du bist mein und mein schreiendes Herz wird nun endlich still sein.”
Das Mädchen hustete ein letztes Mal Blut und dann verließ die Seele ihren Körper, um dem zu folgen, für den sie bestimmt war.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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