Nora Runge

Kindermund

Unser Sohn Stefan war gerade drei Jahre alt, als ihm das Malheur passierte.
Er spielte friedlich in seinem Zimmer.
Plötzlich schreckte mich sein Schreien auf.
Ich lief ins Kinderzimmer und sah unseren Sohn unter seinem Bett liegen. Nur zappelnde Beine guckten noch hervor. Er weinte jämmerlich.
Ich hob den Steppke hoch und sah in ein kummervolles, schmerzverzerrtes Gesichtchen.
Schluchzend hielt er mir seinen Daumen entgegen.
Da sah ich, was ihn so erschreckt hatte. Eine Wespe, die sich unter seinem Bett verkrochen hatte, hatte ihn in den Daumen gestochen. Ausgerechnet in seinen Nuckeldaumen!
Ich versuchte mit einer Pinzette den Stachel herauszuziehen, was mir aber nicht gelang, da er sein Händchen immer wieder zurückzog.
Der Daumen schwoll in kürzester Zeit enorm an. Deshalb entschied ich mich, mit unserem Sprössling unseren Hausarzt aufzusuchen.

Unser Kleiner marschierte tapfer an meiner Hand neben mir her. Seinen lädierten Daumen hielt er weit von sich gestreckt in die Höhe.

Als wir in die Praxis kamen, erzählte er der Arzthelferin von der 'bösen Wespe' und wurde entsprechend bedauert.
Das Wartezimmer war zum Glück fast leer. Nur eine ältere Dame saß dort und las in einer Illustrierten.
Ich setzte mich auf einen der Stühle und versuchte, Stefan auf meinen Schoß zu ziehen.
Aber er wollte nicht, lief lieber im Zimmer umher, kramte in der Spielzeugkiste herum und blätterte in den Bilderbüchern, die auf dem Tisch lagen. Dabei vergaß er aber nicht, seinen Daumen immer schön hoch zu halten.

Die ältere Frau sah seinem Treiben schmunzelnd zu.
„Was hast Du denn mit Deinem Daumen gemacht?“
„Da hat mich eine böse Wespe gestochen“, kam die Antwort.
„Ach, Du armes kleines Mädchen!“
Unser Sohn wurde einige Zentimeter größer und funkelte die Frau böse an:
„Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein großer Junge!“
Die Frau konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, sagte dann aber ganz ernst:
„Wie konnte ich Dich bloß für ein Mädchen halten. Es ist doch nicht zu übersehen, dass Du ein Junge bist! Da muß ich mich wohl bei Dir entschuldigen ...“
Sie streckte ihm die Hand entgegen, die Stefan aber beleidigt übersah.
Er drehte sich stumm um, kam zu mir und krabbelte auf meinen Schoß.

Ich muß dazu sagen, dass es nicht das erste Mal war, dass er für ein Mädel gehalten wurde. Er hatte zu dieser Zeit noch den ganzen Kopf voller blonder Locken, die ihm fast bis auf die Schulter fielen.

Also Stefan saß auf meinem Schoß und lauschte dem Gespräch zwischen der Dame und mir.
Die Frau hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. Auf der Oberlippe wuchs ihr ein dunkler Damenbart.
Auch waren ihre Arme und Beine recht behaart.
Mich störte es nicht. Ich fand sie sehr sympathisch.

Unser Junge sah das wohl etwas anders. Er ließ sie nicht aus den Augen.
Mir schwante Fürchterliches. Ich nahm ein Bilderbuch und las ihm daraus vor. Aber er ließ sich nicht ablenken. Er fixierte unser Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen.

Plötzlich rutschte er von meinen Knien.
Er baute sich vor der Dame auf, sah sie an und rief:
„Mami, warum hat der Mann denn ein Kleid an?“

Ich hätte im Erdboden versinken mögen und entschuldigte mich bei der Frau.
Sie lachte nur und sagte: „Junge Frau, das muß Ihnen nicht peinlich sein! Das passiert mir öfter.“

Als die Sprechstundenhilfe sie aufrief, sagte sie: „Gehen Sie mal zuerst zum Doktor hinein, damit Ihr Junge versorgt wird. Der kleine Daumen tut ihm bestimmt sehr weh.“
Sie hatte dem Kleinen seine Retourkutsche nicht übel genommen.

Der Arzt entfernte den Stachel aus dem Daumen und verpasste unserem Sohn einen dicken Verband. Stolz wie Oskar hielt er diesen seinem Papi am Abend unter die Nase und erzählte wortreich, was er alles erlebt hatte an diesem Tag..
Am nächsten Morgen war alles vergessen: Der Verband war ab. Stefan hatte seinen Daumen in der Nacht gesund 'genuckelt'.
 
©  Nora Runge

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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