Ulrike Niemann

Im Schatten - Ismene, Schwester von Antigone

Die Stille im Haus ist unerträglich. Jeder Tod raubte eine geliebte Stimme: Erst verstummte die des Vaters, später die der Mutter, dann die der streiten-
 
den Brüder Eteokles und Polyneikes. Nun ist auch die letzte Stimme verklungen und Schweigen füllt die leeren Räume. Mich liessen sie zurück in dieser Lautlosigkeit. Manchmal besucht Kreon mich und wir sprechen über vergangene Zeiten. Wir sind allein und doch vereint in unserer Schuld. Was würde Antigone sagen, liebende, rebellische Antigone, wenn sie mich mit Kreon sähe? Kreon, den sie am Ende so sehr hasste.
*
 
Blutrot färbte die Sonne den Himmel. Antigone und ich sassen auf der Terrasse und hörten in der Ferne das unbarmherzige Aufeinanderprallen von Schwertern. Theben war im Krieg. Unsere Brüder waren im Krieg. Polyneikes führte das angreifende Heer, Eteokles war Theben treu geblieben und stand dem eigenen Bruder feindlich gegenüber. Antigone sprang auf und starrte über die Dächer der Stadt in die Ferne, unruhig die braunen Augen in alle Richtungen lenkend.
„Ismene, was passiert denn bloss? Warum können wir nicht auch dort sein? Welchen Sinn hat es hier tatenlos zu sitzen?“
Ich schwieg und mit ungeduldigem Stöhnen liess sich Antigone auf der Bank neben mir nieder. Heftiges Klopfen am Haupttor schreckte uns auf. Ein Bote trat ein, verschwitzt und blutig, als käme er direkt vom Schlachtfeld zu uns geritten. Er brachte schreckliche Nachrichten: Eteokles und Polyneikes seien im Kampf gefallen. Eteokles Leichnam solle bestattet werden. Kreon, Thebens neuer König, habe aber Polyneikes Bestattung unter Todesstrafe verboten. Antigone geriet ausser sich. Die Trauer um die beiden Brüder mischte sich mit ihrer Wut über diese unbarmherzige Entscheidung. Tränen strömten über ihr Gesicht und sie glitt zu Boden.
 
*
Natürlich trauerte ich um Polyneikes. Aber Kreons Wort war Gesetz: Einem Feind Thebens durfte das Bestattungsritual nicht gewährt werden. Diesem Gesetz hatten wir uns zu fügen. Warum musste sich Polyneikes auch gegen die Stadt stellen? Der strahlende, talentierte, mutige Polyneikes stellt sich gegen sein eigenes Volk und greift die Stadt an, die sein Bruder verteidigt. Antigone wollte von meinen Argumenten nichts hören:
„Ismene, er ist unser Bruder. Seine Leiche liegt dort draussen ungeschützt. Wie soll Polyneikes in den Hades aufgenommen werden, wenn wir unsere Pflicht den Göttern gegenüber nicht erfüllen?“
Ich versuchte, sie zur Vernunft zu bringen: „Kreon wird dich bestrafen, Antigone.“
„Die Götter werden mich beschützen.“ 
„Denk an Haimon.“
„Haimon liebt mich und wer liebt, versteht.“
*
 
An manchen Tagen spricht Kreon von Haimon. Wunderschöner geliebter Haimon! So gross war seine Liebe zu Antigone. Wir erinnern uns an die Zeit, als Haimon um Antigone warb und lächelnd gesteht Kreon, wie gut er die Wahl seines Sohnes verstehen konnte. Sie alle, auch seine Frau Eurydike, hätten Antigone geliebt.
 „Du hast sie umgebracht, Kreon.“ 
 „Ich habe im falschen Moment Recht gesprochen. Ein grosser Unterschied, Ismene. Ich ha-be dafür bezahlt, meinst du nicht?“
*
 
Noch liess der Nebel die Sonne blass erscheinen, als wir am nächsten Morgen vor das Haus traten. Stundenlang hatte ich auf Antigone eingeredet, sie angefleht, ihre Entscheidung zu ändern, doch sie wollte nicht auf mich hören. Sie sei egoistisch, warf ich ihr vor, woher nehme sie die Dreistigkeit, sich gegen Kreon zu stellen, warum wolle sie ihr Leben gefährden und sich wie eine Märtyrerin aufführen, warum denke sie nicht auch an mich? Es war aussichtslos. Schweigend suchte sie einige Dinge zusammen und verliess das Haus. Am Tor holte ich sie ein.
„Ich will nicht, dass du mit mir gehst, Ismene. Du hast deinen Standpunkt deutlich gemacht. Ich brauche deine Hilfe nicht.“
Schweigend folgte ich ihr. Ich wollte nicht allein zurückbleiben.
*
Über staubige Strassen führte unser Weg, vorbei an schlafenden Hunden und Häusern mit geschlossenen Fensterläden, die ihre Bewohner vor dem Ungeheueren, das sich dort draussen abspielte, schützen wollten. Bald lag die Stadt hinter uns und vor uns erstreckte sich das einst blühende Tal, dessen grüner Boden jetzt mit einer blutroten Kruste überzogen war.
*
 
Ängstlich blickte ich mich um, als wir uns der Leiche unseres Bruders näherten. Blutüberströmt lag Polyneikes am Boden, die starren Augen in den Himmel gerichtet. Tränen liefen mir über die Wangen, als Antigone sich niederkniete. Sie hockte mit dem Rücken zu mir, entschlossen, meine Anwesenheit zu ignorieren. Mit zitternden Händen schloss sie Polyneikes Augen. Aus ihrer Tasche holte sie eine kleine Glasflasche, öffnete sie und goss sich braunes Öl auf die Handfläche. Behutsam strich sie das Öl auf Polyneikes’ Gesicht, über seine Arme und Beine. Die leere Flasche legte sie neben sich und griff nach einem Lederbeutel, nahm eine Handvoll weisses Pulver und streute es über den Körper unseres Bruders. Zuletzt legte sie eine gol-dene Münze auf Polyneikes Augenlid.
*
Der Frühnebel hatte sich gelichtet und gab den Blick frei auf ein Meer von Leichen, das sich bis zum Horizont zu erstrecken schien. Ein kalter Schauer ergriff mich und ich wollte nur noch fliehen. Da vernahm ich hinter mir Schritte. Ein Wächter Kreons kam auf uns zu, blieb vor Antigone stehen und forderte sie mit gezogener Waffe auf, ihm zu folgen. Schweigend erhob sie sich. Angst überkam mich, lähmte meinen Körper, meine Gedanken, meine Zunge. Habe ich es nicht gewusst, wollte ich sie anschreien. Habe ich dich nicht gewarnt? Doch ich blieb stumm. Der Wächter schob Antigone mit der Spitze seiner Waffe vor sich her durch die Stadt Richtung Palast. Wir bahnten uns den Weg durch die Menge der Tempelbesucher, Marktverkäufer und Soldaten, die versuchten, nach dem schrecklichen Kampf den Alltag in Theben wieder aufleben zu lassen. Neugierige Blicke folgten uns, denen ich mit gesenktem Kopf zu entgehen versuchte, während Antigone sich ihnen furchtlos stellte. Die Menschen ließen ihre Arbeit liegen und schlossen sich unserer kleinen Prozession an. Antigone habe gegen das Gesetz verstossen, machte es bald die Runde. Antigone habe sich Kreon widersetzt und ihren verräterischen Bruder beerdigt. Antigone sei tapfer gewesen, nein, Antigone sei dumm und verdiene Strafe. Antigone hoffe auf Gnade, schliesslich sei sie mit Haimon verlobt. Antigone sei schon immer rebellisch gewesen... ANTIGONE, ANTIGONE, ANTIGONE! Was war mit mir? War ich nicht auch dabei? Hatte ich nicht geholfen, beraten, versucht, das Schlimmste abzuwenden? Hatte ich sie nicht vor all dem beschützen wollen? Was war mit mir, Ismene?
*
 
„Du warst eifersüchtig auf Antigone“, stellt Kreon fest. Seine grauen Augen mustern mich, erwarten aber keine Antwort. „Selbst als sie vor mir stand und zitternd auf ihr Urteil gewartet hat, und erzähle mir nicht wieder, sie hätte keine Angst gehabt, die hatte sie, glaub mir, selbst in dieser Situation hast du sie um die Aufmerksamkeit, die sie hervorgerufen hat, beneidet. Kaum hatte ich das Urteil gesprochen, diese verdammten Worte, die ich für alles in der Welt ungeschehen machen möchte, hattest du nichts besseres zu tun, als das gleiche Urteil für dich zu verlangen. Du hast mir leid getan, Ismene.“ Ich stehe auf und trete ans Fenster. Ich will nicht diskutieren. Wie soll ich Kreon erklären, dass die Angst vor meiner Einsamkeit nach Antigones Tod mich so handeln liess?
*
 
Einmauerung im Felsengrab. Ich griff nach Antigones Hand, doch sie rührte sich nicht. Kreon gab ein Zeichen, Antigone wegzuführen, da schrie sie auf: „Wer bist du denn, Kreon, dass du mir vorschreiben willst, was ich zu tun oder zu lassen habe? Mein geliebter Bruder ist tot und du verbietest ihn zu bestatten? Was für ein Mensch bist du? So herzlos, so arrogant, so grausam! Du stellst dein Recht über das der Götter? Ich verachte dich, Kreon!“ Er blickte Antigone einige hoffnungsbringende Momente lang an, so wie ein Kind einen bunten Schmetterling anblickte, der unerwartet auf seiner Hand gelandet íst. Doch die Hoffnung verging. Das Kind tötete den Schmetterling. Mit einem Kopfnicken ordnete Kreon an, dass man Antigone abführe. Noch am gleichen Abend wurde das Urteil vollzogen. Viele Schau-lustige waren gekommen, die sich sensationslüstern um den besten Platz stritten, um keinen Moment der Hinrichtung zu verpassen. In ein weisses Kleid gehüllt stand Antigone allein am Eingang des Grabes und sah auf die schneebedeckten Spitzen der Berge. Sie hatte keinen Abschied von mir genommen. Ich ging, bevor sie ihren ersten Schritt in die Felskammer machte. Ich hatte keine Tränen mehr.
*
Ich betrat das Haus, das mich von nun an bis zu meinem Ende schweigend empfangen würde, und ergab mich der Stille, die mich erbarmungslos verschlang. In der folgenden Nacht überzeugte ein blinder Seher Kreon, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Doch als Kreon das Grab am nächsten Tag öffnen liess, war das Schreckliche bereits geschehen: Zwei Leichen lagen vor seinen Augen, Antigone und Haimon, der mit ihr in den Tod gegangen war.
*
 
Er wird sich selbst nie verzeihen. Er kommt zu mir und sucht Vergebung. Vergebung! Ich klage ihn nicht an. Er hat mich nicht allein gelassen. Sie hat es. Sie hat mich zurückgelassen, um als Märtyrerin in die Geschichte einzugehen. Ihr werde ich nie verzeihen. Vielleicht erlaube ich Kreon deshalb, mich zu besuchen. Manchmal auch nachts, denn seit Eurydike sich das Leben nahm, vergeht er vor Einsamkeit.
 
Antigone, siehst du mich? Dein Mörder liegt bei mir. Ich trockne seine Tränen. Ich gebe ihm die Hilfe, die du nie wolltest. Er braucht mich. Jemand braucht mich. Endlich.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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