Jessica Fischer

Die Sicht des Lebens

Es gibt Tage, an denen läuft man ohne Kopf durch die Welt. Man schaut sich um, sieht alles wie durch einen Bildschirm, wie ein Film, durch den man läuft. Eigentlich gehört man dort gar nicht hin, man hat dort keine Aufgabe, aber vielleicht ist es gerade das, was einen dort hinverschlagen hat: man soll sehen. In diesen Momenten sieht man alles um sich herum aus einer anderen Perspektive, man kommt zu anderen Schlüssen auf ewige Fragen. Dort – hast du es gesehen? – die Frau mit dem Kinderwagen, wie sie hektisch nach links und rechts schaut und dann eilig über die Straße geht. Und gleichzeitig der Typ in dem alten dunkelgrünen Corsa, da drüben rechts, mit der „coolen“ Mucke von vor 3 Jahren und dem Handy im Gesicht. Mit wem er wohl telefoniert? Vielleicht macht er gerade einen Treffpunkt mit seinem Dealer aus, oder er diskutiert mit seiner Freundin. Er scheint nicht gerade entspannt zu sein. Sieh dich um. In welchem Film bist du? In einem Liebesfilm? Eine Komödie oder gar Tragikkomödie? Vielleicht in einem Drama oder einem Horrorfilm? Es wäre auch möglich, dass gleich Meteoren in diese alltägliche, friedliche Welt stürzen. Immerhin wüsstest du dann, dass das hier ein Actionfilm ist, oder zumindest einer, indem mal wieder die Welt untergeht. Aber tut sie das nicht ständig? Schau, die Frau in dem Café auf der anderen Straßenseite. Schau genau hin. Siehst du ihre Augen? Sie sieht übermüdet aus. Oder hat sie geweint? Weint sie vielleicht seit Tagen? Ist ihre Liebe zerbrochen oder hat ein geliebter Mensch sie für immer verlassen? Sieh doch, sie trägt schwarz! Wahrscheinlich kommt sie gerade von einer Beerdigung. Ist dort drüben im Café die Welt etwa nicht bereits ein kleines Stückchen untergegangen? „Haste vielleicht ne Kippe für mich?“ Ein Mädchen, keine Achtzehn, mit Kapuzenshirt steht vor dir. Sie schaut dich nicht mal an. Ist dir ihr Blick nicht eine Zigarette wert? Wie sie da kauert, gib ihr eine. Hast du das kurze Blitzen in ihren grünen Augen gesehen? Was mit ihr wohl geschehen ist… Anscheinend ist sie keine Freundlichkeit gewohnt. Also: wo sind wir? Siehst du jetzt, wo du bist? Warum DU JETZT HIER bist? Erkennst du das Leben? Erkennst du die Geschichten? Die „Filme“? Alles passiert, ständig, immer. Wie viele Menschen laufen hier wohl tagtäglich lang? Hm, was meinst du? Drei-, Vierhundert? Mehr vielleicht? Was meinst du, wie viele davon sehen? Wie viele hin schauen und wirklich sehen, was das Leben ist und was es ausmacht? Du hast die gestresste Mutter gesehen, die trauernde Frau, das hoffnungslose Mädchen. Aber siehst du denn immer noch nicht? Es geht hier nicht um Schönheit oder eine Pointe. Das hier ist real. Jeder durchlebt sein Schicksal. Jeder formt es. Jeder kann alles. Selbst die Frau in Schwarz. Was meinst du, könnte sie jetzt tun? Sie könnte sich in einem Loch verkriechen und sich fettfressen. Sie könnte aber auch einfach Abschied nehmen, vielleicht Glauben an das Wiedersehen im Jenseits schenken, und mit einer neuen Sicht der Dinge das Leben von einem anderen Standpunkt aus weiterführen. Einen Neustart in einer endlosen Ellipse. Sie kann. Du etwa nicht?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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