Lucie Flebbe
Sperrmüll
Verloren steht die
alte Kommode an der Straße.
Allmählich
wäscht der Regen den Staub von ihrem glänzend roten Lack.
Beim Abstellen auf dem Asphalt ist ein Fuß abgebrochen.
Ich stehe am
Fenster und beinahe tut es mir leid, dass ich das sperrige, alte Ding
endlich entsorge.
Dabei ist das Teil
älter, als ich selbst. Es ist kaputt, zerkratzt und klobig und
auch der rote Anstrich kann nichts am schrottreifen Zustand ändern.
In meinen sauberen und eher spärlich eingerichteten Zimmern
wirkt das Ungetüm so fehl am Platz, wie ein Oger in Barbies
Schloss.
Die Kommode passt
einfach nicht mehr zu meiner Wohnung.
Sie passt nicht zu
meinen aufgeräumten Ikea-Regalen. Zu meinem polierten Glastisch.
Zu meinem gut sortierten Kleiderschrank.
Sie passt nicht
mehr zu mir.
Ich habe keine
Ü-Ei-Sammlung glücklicher Plastiknilpferde, die ich in
einer der knarrenden Schubladen verstauen könnte, keine uralten
Jeans, die ich aufhebe, obwohl ich nie wieder in Größe 36
passen werde, keine hässlichen Häkeldeckchen, die ich
hervorkramen müsste, wenn sich die handarbeitsbegeisterte Tante
Hilda ankündigt.
Tatsächlich
ist meine Wohnung eine der wenigen, in denen es keine Gerümpelecken
gibt. Ich habe keinen Schrank, den man nicht öffnen darf, weil
man unter einer Mülllawine begraben werden könnte. Keinen
Abstellraum, dessen Tür schnell geschlossen wird, wenn Besuch
kommt. Keinen Wäscheberg im Badezimmer, über den ich ein
Laken werfen muss, bevor jemand meine Toilette benutzen darf.
Die Kommode selbst
ist das letzte Gerümpel, das ich noch nicht entsorgt habe.
Es wird Zeit, dass
sie verschwindet.
Wie lange stand sie
im Keller?
Zwei Jahre?
Oder schon drei?
Ich weiß es
nicht mehr.
Ich weiß es
wirklich nicht mehr.
Merkwürdig,
dass ich mich nicht daran erinnere.
Denn sonst erinnere
ich mich an alles.
Ich erinnere mich
an das Quietschen der untersten Schublade, die schon immer klemmte.
An das Knarren der Deckplatte, wenn man sich darauf stützte. Und
an die Holzwurmlöcher in der Rückwand.
Ich erinnere mich
an den staubigen Duft der feinen Sägespäne, als ich die
Kanten rund geschliffen habe, damit man sich nicht daran verletzen
kann. Und an den Geruch des knallroten Lacks, der dickflüssig
die Löcher der Holzwürmer verschloss.
Ich erinnere mich
an jedes Schubfach.
Die schmalen,
kleinen Fächer in der obersten Reihe, in die ich Socken,
Strumpfhosen und Mützen einsortiert hatte.
Die größeren
Fächer darunter für Hosen und Pullis.
Die breite, untere
Lade, die nach frischer Wäsche duftete, sobald man sie aufzog.
Die
Bärchen-Bettwäsche aus weichem Frottee darin.
Die Schuhchen, bei
deren Anblick ich mich jedes Mal gefragt habe, ob ein Fuß
wirklich so winzig sein kann.
Die Strampelanzüge,
nicht länger als mein Unterarm.
Ich erinnere mich
an das neue Plastik der Wickelunterlage auf der Kommode, an das
Plüschmobile, an dem Teddys in Flugzeugen über dem
Wickelplatz kreisten, an die plingende
„Weißt-du-wieviel-Sternlein-stehen?“-Melodie der
mondgesichtigen Spieluhr.
Aber ich weiß
nicht, wann ich das letzte Mal mit meinen Eltern telefoniert, wo ich
den heiligen Abend verbracht oder mit wem ich den letzten Sex gehabt
habe.
Ich erinnere mich
nicht, wie lange ich schon am Fenster stehe.
Ich erinnere mich
nicht, wie lange es schon regnet.
Und ich erinnere
mich nicht, wie lange ich die alte Kommode schon nicht mehr brauche.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.03.2008.
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