Volker Kalski
Behindert wird man und ist es nicht
Leidenschaftlich behindert -
Holger Kilsak wurde nach Krebs behindert, geschieden, sensibel, aufmerksam und offen. Die kurze Rente nach der strapaziösen Therapie konnte gut genutzt werden, um sich gegen Attacken von Gegnern zu wappnen und vorbereiten auf den neuen Beruf in der Großstadt Stuttgart. Der kleine feiste Herr Vogler am Hbf während dem zweiten Vorstellungsgespräch:
„So wie Sie aussehen, können wir Sie unmöglich auf unsere Kundschaft loslassen!“
Der energische diskriminierende Einwand des Bahnhofsmanagers schmerzte mehr, als der fürchterliche Krebs, der Holgers linkes Gesicht zerstörte. Der zur Vorstellung zwingend anwesende Gesamtschwerbehindertenbeiratsvorsitzende Meinert sagte nichts und seufzte nur. Holger bemühte sich seine Hektik zu verbergen: „Ich bin gut versorgt, als behinderter Mensch voll motiviert, gesellschaftsfähig und stolz Eisenbahner zu sein. Ich akzeptiere mich, wenn ich keine Probleme mit mir habe, muss auch mein Gegenüber keine zulassen.“ „Aber Sie sind eben doch behindert und scheinen nicht zu wissen, auf was Sie sich einlassen wollen.“ „Behindert ja, aber auch motiviert, nicht nur um die Quote zu erfüllen. Den 10%igen Verlust „voller Verfügbarkeit“, den mir der Krebs genommen hat, kompensiere ich mit Freizeit!“
Die Luft wurde Holger etwas dick. Herr Vogler nippte in einer Kunstpause an seinem Kaffee, als die Tür aufging. Regionaldirektor Seibold, ein baumlanger schmaler Mensch, trat ein. Es schien lächerlich, wie sich Vogler vor seinem Vorgesetzten aufbaute, sprang auf ohne wesentlich größer zu werden.
„Schauen Sie sich den mal an, sollen wir ihn wirklich eingestellt lassen?“
fragte er, während er seinen Zeigefinger in Holgers Gesicht streckte. Der empfand wie Schlachtvieh. „Natürlich bleibt Herr Kilsak eingestellt!“ erwiderte Herr Seibold gar nicht von oben herab.
„Der hat ja nichts mehr mit Ihnen zu tun!“
raunte Vogler Kilsak mit dünnen Lippen zu, als Seibold wieder draußen war.
Meinert zu Holger:
„Gell, ist ja besser, wenn wir uns auch nicht mehr sehen.“
Holger freute sich, sich anscheinend durchgesetzt zu haben.
Seit Erwerb seines auffälligen Defektes fühlte Holger oft interessant zu sein. Glotzer, nonverbale und verbale Angriffe wusste er stets zu ignorieren. Aber für Einige ist er eben noch interessanter. So bemerkte er zwar die ständigen unbewussten Diskriminierungen im Dienst am Bahnhof, wenn z.B. ein Reisender entschied lieber den Kollegen neben ihm zu konsultieren, als Holger etwas zuzutrauen. Trotzdem wurde es auch mal heftiger:
„Nun machen Sie schon! “ wetterte der feine Herr, bestrebt den lauten Bahnhof zu übertönen.
„ich habe es eilig und du anscheinend kein Interesse an der Arbeit!!“
Wenn Holger von links angesprochen wurde, musste er sich kurz nach rechts drehen um den Computer zu bedienen.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, ich habe schon Interesse, das kann ich nur nicht zeigen, wie ich es gerne möchte. Mir ist die Gesichtsmimik abhanden gekommen und…“
„Dann bleib zu Hause, wenn du behindert bist! Schlimm was einem hier zugemutet wird.
„Ich bin nicht behindert, sondern werde. Wie gerade von Ihnen, nämlich daran Ihnen eine Auskunft zu geben. Und eine Zumutung ist es lediglich, dass ich von Ihnen geduzt werde.“
Mit hochrotem Kopf schnappte der feine Herr nach Luft und seiner dünnen Aktentasche, eilte davon, ohne seine Zugauskunft abzuwarten. Bewundernd wie Holger mit seiner Behinderung und Menschen umging rief die junge Kollegin zu ihm rüber:
„Der Ewald hat sich angemeldet… holst du ihn ab? Bestimmt bist du froh, wenn Du aus dem Käfig raus kommst!“
Lächelnd nahm Holger an. Sowieso wurde er immer als Erster genommen, wenn es um die Betreuung behinderter Menschen ging. Ewald war blind und auf dem großen Bahnhof mit täglich 200 000 Reisenden auf Führung angewiesen. Holger bot Ewald an, sich unterzuhaken und tat es nicht einfach.
„Ach, Holger bist du es?“ fragte Ewald, wissend, dass er nicht immer so zuvorkommend behandelt wurde. „Ja ich bin es“, bestätigte Holger.
„aber bitte komm auf meine rechte Seite, du weißt ja, dass ich einäugig bin, sonst kommen wir uns ins Gehege.“ Ewald gab sich schlagfertig:
„Bin ich aber froh, dass ich damit nichts zu tun habe!“
Beide lachten herzlich und bewegten sich Richtung S- Bahn. Auf jedem Großstadtbahnhof ist es laut. Holger empfand diesen hektischen Lärm stets als romantischen Weltanschluss. Zehn Meter waren es noch mit der Rolltreppe zu überwinden, als der Lautsprecher schrie:
„Es hat Einfahrt die S- Bahn…“
Das Ende der Rolltreppe war noch nicht erreicht, da rauschte der kleine Zug schon heran und hielt Sekunden später mit ohrenbetäubendem Lärm am noch fast leeren Bahnsteig.
„Das gibt es nur in der Großstadt“
bedeutete Holger Ewald, weil der die Freude in Holgers zerstörtem Gesicht nicht sehen konnte. Schmatzend lösten sich die Gummilippen der Türen voneinander. Die S- Bahn spie ihre menschliche Fracht aus. Plötzlich war der Bahnsteig dunkel von Menschenmasse.
„Also mach es gut Ewald, man sieht sich…“
Holger hob grüßend die Hand, während Ewald einstieg. Trotz der vielen Leute sah Holger wie sich Ewald mit der einen Hand auf einen Schenkel klopfte und mit der anderen den Zeigefinger in die vermutliche Richtung von Holger wies. Jetzt erst wurde Holger bewusst, was er sich da gerade leistete. Wieder schmatzend fielen die Türen zu, eine Sekunde später verließ der Zug scheppernd die Röhre.
„So kurz vor dem Feierabend lohnt es nicht mehr, im Service – Point Dienst aufzunehmen...“, dachte Holger. „…Dann drehe ich noch eine Runde über den Bahnhof und ziehe mich um.“
Die S- Bahn ruckte über die Gleise. Eine junge Mutter mit ihrer Tochter stieg ein und setzte sich Holger gegenüber. Die blonden Zöpfe von Sophie wirbelten herum, als sie Holger erblickte und aufgeregt, mit beiden Händen zappelnd, fragte:
„Mama, was hat der…? Blitzschnell und grob hatte Mama schon den Mund von Sophie verschlossen.
„So was fragt man nicht!“ zischte sie nah an Sophies Ohr
„Warum nicht?“ fragte Holger offen, lebte aus was Viele nicht für möglich hielten.
„Ihre Tochter hat doch einen natürlichen und vernünftigen Informationsbedarf.“
Inzwischen war Sophies Mund wieder frei. So wand sich Holger an Sophie direkt, mit Unterton auch an die Mutter:
„Nur wenn Du fragen darfst, wirst Du erfahren, was ich oder andere haben. Nur dann kannst Du später Deinen Kindern richtige Antworten geben.“
Erklärte Holger während er sich zu Sophie runter beugte. Triumphierend blickte Sophie ihre Mutter an, die verlegen lächelte.
„Also, was ist es, was hast Du da?“ drängte Sophie ungeduldig.
„Vor langer Zeit, da warst Du noch nicht auf der Welt, musste ich operiert werden, da ich sehr krank war. Weil hier nichts mehr nachwächst, musste so ein „Kunststück“ her. Das was Du jetzt siehst.“
„Kannst Du mit diesem Auge sehen?“
„Nein…“ lachte Holger. „..aber ich sehe sehr viel mit dem Anderen.“
Holgers Haltestelle wurde angesagt.
„Bleib wie Du bist“, verabschiedete sich Holger und blickte verständnisvoll zur Mutter.
Kaum aus der S-Bahn tippte Holger von hinten jemand auf die Schulter.
„Wer ist denn das?“
dachte Holger, während er langsam einen Schritt nach vorne trat und sich gleichzeitig umdrehte.
„Tach Rainer“, grüßte Holger freudig überrascht, seinen Kameraden wieder zu treffen.
„Komm, gehen wir einen trinken.“
Holger wandte sich schon zum Gehen, als ihn Rainer am Arm festhielt. Rainer konnte kaum sprechen. Der Krebs hinterließ bei ihm Spuren, die noch mehr einschränkten als Holger. Beide kannten sich aus der Selbsthilfe.
„Was ist?“ bat Holger fordernd, „du warst doch sonst immer dabei…“
Nur Erfahrene, die Rainer schon länger kannten, konnten ihn verstehen:
„du weißt ja“, gab Rainer undeutlich zu bedenken,
„dass ich bei unseren Treffen nur Kaffee getrunken habe…“
„ich möchte jetzt auch sonst nichts anderes“ unterbrach Holger.
Rainer hob beschwichtigend die Hand:
„Ich kann aber nur mit Strohhalm. Letztens war ich in einem Cafe. Alleine. Die lachten mich aus, weil ich nur gestikulierend meine seltsamen Wünsche äußern konnte“
„Ach komm schon, ich bin doch jetzt dabei…“ Holger lag viel an dieser Freundschaft.
Energisch wies Rainer Holger in seine Schranken:
„Für mich ist das nichts mehr. Früher hatte ich noch Freude daran, spontan wegzugehen, vor allem wenn Du uns in der Gruppe dazu motiviert hast. Aber wenn man dann so ein Mist erleben muss… vielleicht sehen wir uns so mal.“ Resignierend trottete Rainer davon.
„Wenn ich ihm jetzt nachgehe,“ überlegte Holger,
„belaste ich Rainer noch mehr, gehe ihm auf die Nerven und irgendwann resigniere ich auch. Das darf aber nicht sein, weil ich dann nicht mehr offen wäre mich Anderen zu widmen.“
Es fing an zu nieseln, so dass sich Holger den Kragen seiner Jeansjacke ein wenig hochstellte. Andere hatten ruck zuck ihren Schirm aufgespannt, oder flüchteten unter die Arkaden. Ungefähr 100 Meter weiter erkannte Holger Elisabeth im Rollstuhl. Passanten hasteten an dem Rolli entlang, dass Elisabeth manchmal verwirbelt wurde. Von niemandem beachtet, verharrte Elisabeth traurig in ihrem „Hilfsmittel für Mobilitätseingeschränkte Menschen“ Die Menschen hetzten nun mit ihren Tüten und Taschen schneller hin und her, weil es stärker regnete.
„Ich gehe jetzt einfach zu ihr hin,“ dachte Holger, und frage ob ich helfen darf. Schon oft konnte Holger ihr am Bahnhof behilflich sein, Reisewünsche umzusetzen. So viel glaubte Holger sie zu kennen, dass sie keinen anhalten und bitten würde, den kleinen Stich hoch zu kommen. Viel zu oft wurde sie schon enttäuscht. „Hallo Herzblatt Lissy,“
rief Holger aus ein paar Metern entfernt zwischen der Menge Mensch hindurch und winkte. Deutlich konnte Holger in Elisabeths Gesicht Tränen von Regenwasser unterscheiden. Immer noch verzagt grüßte sie, als sie Holger erkannte:
„Willst du zum Bahnhof hoch?“ fragte Holger ohne Hektik.
„Ja“ nickte Elisabeth mit dem Kopf und fragte mit bebenden Lippen:
„Aber Sie haben doch keinen Dienst hier, oder?“
„Mensch Meier Lissy, wie oft muss ich Dir denn noch erklären, dass du „du“ zu mir sagen sollst? Ob ich im Dienst bin oder nicht.“
„Es ist so schwer jemandem zu vertrauen!! Weißt du, Herr Eisenbahner, vorhin habe ich einen jungen Mann gebeten, ob er mich mit hoch nehmen könnte. Der hat gar nicht geantwortet, mich nur kurz angeguckt und ist weiter gegangen.“
Mit dem Handrücken fuhr sich Elisabeth an der Nase vorbei und schluchzte, machte so auch Holger fast bewegungslos. Er legte seine breite Hand auf ihre schmale Schulter. Der Regen machte nicht wirklich etwas aus. Regentropfen tanzten mit dem wenigen nassen Laub im Wind.
„Rollstuhl ist gar nicht schlimm“, fuhr Elisabeth fort.
„Regen, der Hügel und dass ich meinen Zug verpasste, aber ich fühle mich so wertlos. Das Schlimmste ist, dass die alle gar nicht wissen, dass ich hier war. Und wenn mich dann mal jemand bemerkt, vielleicht wenn die Sonne scheint, muss ich mir vorwerfen lassen, dass ich nicht so verbittert sein soll, wenn ich z. B. von heute erzähle. Für uns Behinderte wird doch schließlich alles getan!“
„Ich weiß Lissy, ich erfahre das ja auch täglich“, versuchte Holger zu trösten.
„Du weißt ja, dass ich auch behindert werde, habe aber die seltene Fähigkeit entwickelt an jeder Attacke zu wachsen. Jetzt packen wir es aber!? Darf ich dir denn helfen?“
„Ja, schieb mich bitte hoch.“
Jetzt huschte ein leises Lächeln über Elisabeths nasses Gesicht.
„Tschüß Lissy,“
Holger neigte sich dem Rolli entsprechend herunter, nachdem der Service Point erreicht wurde. Wo die beiden standen bildete sich bereits eine kleine Wasserlache.
„bis zum nächsten Mal, vielleicht hier.“
„Danke Ihnen… dir auch alles Gute und vielen Dank für eben!“
Grüßend winkte Holger ab und ging wieder in die Stadt. Das Allerschlimmste wird sein, dass Elisabeth und viele andere behinderte Menschen nicht nur im Regen stehen gelassen werden. Nicht nur in der großen Stadt Stuttgart.
„Ich würde so gerne von meinen Erfahrungen und Fähigkeiten abgeben…“,
dachte Holger nach, während er das erste Mal an dem heißen Kaffee nippte,
„…so dass behinderte Menschen davon profitieren könnten. Aber wie soll das gehen, ich als kleines Nichts ohne „Vitamin B“ in einer Gesellschaft wo immer nur von „Behinderten“ gesprochen wird und so vergessen lassen, dass auch auffällige Menschen, Menschen sind. Wie könnte ich nur verdeutlichen dass Behinderung nicht nur am Rolli oder Blindenstock festzumachen ist, allzu oft von oberflächlicher Bevölkerung ausgeht? “
Die anscheinend nette und aufmerksame Wirtin hatte gut zu tun. Holgers Kaffee war fast alle, als neben ihm ein junger Mann auch etwas bestellen wollte:
„Bi…, bi…, biiiittee ei… ei… M…Mi…“
Die Wirtin schaute theatralisch auf ihre Armbanduhr und stellte fest:
„So wird das nix! Ich lese dir jetzt die Karte vor, wenn was für dich dabei ist, nickst du mit dem Kopf. Das geht mit Sicherheit schneller.“
Einige an der Theke lachten laut. Andere schauten peinlich berührt in verschiedene Richtungen.
„Nein!“ mischte sich Holger energisch ein.
„wenn Sie auch viel zu tun haben, soviel Zeit sollte sein, dass alle Gäste zu Ende bestellen können. Wenn nicht gehen Sie, ich nehme die Bestellung auf und gebe die an Sie weiter.“
Abschätzend schaute sie Holger an, vorwiegend in seine linke Gesichtshälfte, verzog schnippisch den Mund und zuckte mit der Schulter.
„Was hättest Du denn gerne?“
fragte Holger den jungen Mann, und vermied es bewusst, ihm in die Augen zu schauen. Der Blick zur Uhr oder ungeduldig an die Decke darf ebenfalls nicht sein. Problemlos kam klar die Antwort:
„Ein Mineralwasser hätte ich gerne“ Als Holger zustimmend nickte und ihn ansah,
„…I…i..ch hei… h.. .“ guckte Holger wieder weg.
„Ich heiße Stefan!“
„Und ich bin Holger!“ Und zur Wirtin:
„Ein Mineralwasser, aber ein bisschen zackig, Stefan hat es eilig!“
rief Holger der Wirtin zu. 20 Sekunden später hatte Stefan sein Wasser.
„Aber ich habe es doch gar nicht eilig!“ flüsterte Stefan Holger zu, nachdem sich die Wirtin entfernte.
„Die Wirtin das nächste Mal auch nicht!! Tschüß Stefan.“
„Tschüß und danke!“
Schon an der Tür, winkte Holger freundlich ab.
„Werter Herr Hoffmann, liebe KollegInnen, ich freue mich sehr, Euch auf Bedürfnisse behinderter Menschen hinweisen zu dürfen…“
Hoffmann war für die Fortbildung zuständig und räumte Holger das Recht ein, von seinen Erfahrungen zu berichten, um so Kollegen einmal mehr zu sensibilisieren, zu öffnen für künftige Aufträge im Sinne behinderter Menschen.
Bereits mit dem ersten Satz schienen die Kollegen überrascht:
„Meinst du nicht, dass Du Deine Kompetenzen überschreitest…“, rief Kollege Herbert einfach dazwischen.
„…wenn du hier als Oberlehrer auftrittst und unsere Arbeit in Frage stellst?“
„Nö“ sagte Holger scheinbar gleichgültig und fuhr stark verunsichert mit seinem 10minütigem Vortrag fort.
„Ich finde es saublöd, wenn man nur noch mit Behinderten kann“,
meckerte Herbert und ging als Erster.
„Das war es ja dann doch nicht“, resümierte Hoffmann.
„Nee, nicht wirklich“, bemühte sich Holger weiter.
„aber ich habe bereits ein Seminar geschrieben, das würde ich Ihnen gerne vorstellen.“
„Herr Kilsak, Sie hatten Ihre Chance! Tut mir leid“
„Die Kollegen, die sich das nicht anhören wollen, kommen nicht klar mit sich selbst. Wenn die mich als Kollegen akzeptieren würden, empfänden sie ebenfalls als nicht vollwertig.“
„Tja“, Hoffmann zuckte gleichgültig mit den Schultern
Von nun an wurde es für Holger immer schwieriger sich dienstlich für benachteiligte Menschen einzusetzen. Stets sah er sich zusätzlichen Diskriminierungen von Seiten der „Kollegen“ ausgesetzt.
Der bequeme Sessel konnte Holger die Spannung nicht nehmen. Er wartete schon 15 Minuten auf Herrn Vogler, der ihn zu diesem Termin bat. Nervös nestelte Holger mit einem Taschentuch entlang seines Defektes um nicht vorhandene Vaseline abzuwischen.
„Nun Herr Kilsak…“, lärmte Vogler Furcht einflößend von der Tür her, bevor er sich setzte.
„…da gab es eine Beschwerde von einem Reisenden, der erzählte, dass so einer mit einem komischen Ding im Gesicht zugegen war. Was sagen Sie dazu?“
„Nichts! Beschwerden nehmen wir als Service-Personal mehrfach täglich entgegen. Weder schreiben wir uns das auf, noch sehen wir uns genötigt dies mitzuteilen. Also weiß ich nicht was das soll.“
„Soll heißen, dass Sie nicht nur auffällig sind, sondern auch anfällig für Beschwerden.“
„Und das soll heißen, dass es genügt, behindert zu sein um als leichte Beute herzuhalten? Ich muss noch nicht einmal was getan oder unterlassen haben, bei Ihnen einen Termin zu bekommen. Doch möchte ich die Gelegenheit gerade wahrnehmen um mich zu beschweren.“
„Sie erleben gerade nur das, was ich Ihnen voraussagte!“ grinste Vogler mit Schweinsäuglein
„Toll, dass Sie schon wissen um was es geht. Ich erlebe das nur, weil es Ihnen nützt, werde auch von Ihnen nicht ernst genommen. Am Besten, ich stelle Versetzungsantrag.“
„Das bleibt Ihnen unbenommen.“
Holger musste ansehen, wie sich Vogler innerlich die Hände rieb.
In Kaiserslautern war es kaum besser. Behindertenvertreter Kürschner:
„Nein, einen Job nur mit Behinderten können wir auch hier nicht schaffen!“
„Sie meinten wohl „behinderte Menschen“, berichtigte Holger lächelnd.
„Klar“, Kürschner verzog missmutig das Gesicht.
„aber wir könnten noch Entlastung in der Vertretung vertragen.“
„Na das ist doch schon mal wenigstens was. Mach ich!“
„Dann müssen Sie aber auch ein einwöchiges Seminar absolvieren.“
„Mach ich auch!“ Holgers Herz klopfte bis zum Hals. „obwohl ich das nicht wirklich brauche.“
Das Luxushotel am Stadtrand Münchens war selbstverständlich „behindertengerecht“.
Genau wie die Bahnhöfe der Großstädte versuchte man auch hier Rollstuhlfahrern und blinden Menschen zu entsprechen. Im Seminar selbst wurden nur graue Theorie, langweilige Juristerei und ungeeignete Maßnahmen erläutert, wie man Behinderten begegnen könnte. Holger machte sich einen Spaß daraus bei dem für ihn sinnlosen Stoff immer „Menschen“ hinzuzufügen. Nach Ende des ersten Seminartages erkundigte sich Holger nach den Frühstückszeiten:
„Ich möchte auf dem Zimmer frühstücken…“
„Das kostet fünf € extra!“ unterbrach der schwarz gewandete Herr an der Rezeption.
„Wieso…, unterbrechen Sie mich bitte nicht noch mal, das ist doch ein behindertenfreundliches Hotel, ich besuche das Seminar zu diesem Thema…“
„So behindert kann keiner sein, um auf dem Zimmer frühstücken zu müssen.“
Verächtlich verzog der eifrige Dienstmann einen Mundwinkel. Der Empfangschef Stellte sich neben ihn und mischte sich ein:
„Wenn Sie die fünf € nicht leisten wollen, frühstücken Sie wie jeder andere im Saal!“
„Kompetent scheinen Sie auch nicht zu sein“, entfuhr es Holger.
„Wie wäre es denn mit dem Hotelmanager?“
„Mit solchen Lappalien gibt der sich nicht ab!“ kam es hochnäsig zurück.
„Keineswegs liegt es in meinem Interesse, mehr als eine Lappalie daraus zu machen, aber wenn ich morgen früh mit offenem Defekt in Ihrem Saal Platz nehme, werden Sie einen wunderschönen Tumult in Ihrem feinen Hotel haben.“
Gleichgültig wiegten Beide etwas den Kopf.
„Wollen Sie das verantworten?“ fragte Holger Kilsak, während der Empfangschef nach dem Telefonhörer griff und Direktor Hilbert verlangte. Drei Minuten später war der da.
„Kilsak ist mein Name und ich würde gerne als behinderter Mensch zeitsparend und ohne weitere Kosten auf dem Zimmer frühstücken und halte es eben so unzumutbar Sie damit zu behelligen, wie ich mich drum kümmern muss.
„Was berechtigt Sie dazu?“
„Wenn Sie wollen, mein Schwerbehindertenausweis sowie Ihre Orientierung entsprechender Klientel. Zugleich haben Sie eine gute Möglichkeit einen täglichen Aufruhr in Ihrem Frühstücksraum zu vermeiden, möglicherweise auch nur einmal, weil anschließend niemand mehr mit mir frühstücken möchte. Ob die dann alle fünf € mehr bezahlen ist stark zu bezweifeln.“
Holger lehnte lässig mit einem Ellenbogen auf dem eleganten Tresen, während Hilbert stramm vor ihm stand.
„Das grenzt ja an Erpressung!“ empörte sich Direktor Hilbert.
„Erpressen kann man nur jemand der Dreck am Stecken hat…!“
Holger war selbstbewusst und schlagfertig, wie selten.
„…jedem Ihrer Gäste Ihres tollen Hotels werden Sie gerecht, blasen jedem Zucker in den Hintern, nur mir als behindertem Menschen muten Sie zu, mich derart kümmern zu müssen. Ich möchte Sie nicht erpressen, sondern behindertenfreundlich auf dem Zimmer frühstücken, weil ich während dieser Zeit meinen Defekt lüften kann und so eine Stunde länger schlafen könnte. Es geht schon lange nicht mehr um Beträge, sondern um die Schwerfälligkeit in diesem exzellenten Hotel!“
„Warum sagen Sie das denn nicht gleich?“
Hilbert verkürzte eifrig die Distanz, nahm Holgers beide Hände in seine, die Holger verweigerte.
„Selbstverständlich frühstückt Herr Kilsak auf dem Zimmer!!“
donnerte Hilbert, dass die Beiden nun auch stramm standen.
Ich möchte Euch eine kleine Geschichte erzählen, die mir gestern Nachmittag passierte…?“
Startete Holger unaufgefordert am zweiten Tag.
„…die alle Themen hier vergessen lässt.“ Holger erzählte von der Begegnung am Vortage.
„Glauben Sie wirklich Herr Ratzinger, Sie könnten hier mit absolviertem Jurastudium intervenieren? Ich stelle das gerne zur Diskussion.
Niemand sagte etwas. Alle schauten ein wenig belämmert aus der Wäsche, wissend dass Sie mit diesem Seminar lediglich eine leidige Pflicht erfüllten.
„Ich wollte mich nicht beschweren, sondern praxisnah diskutieren. Mit den Vertretern für behinderte Mitarbeiter. Dass ihr das nicht so wollt, bestätigt meine Meinung.“
In Kaiserslautern meldete sich Holger telefonisch zurück:
„So Herr Kürschner, das Seminar ist, wenn auch völlig überflüssig, erfolgreich abgeschlossen, ich freue mich schon auf Kontakt mit entsprechenden Kollegen. Wie geht das weiter?“
fragte Holger gespannt aber freundlich.
„Sind Sie scharf auf meinen Posten? ...“donnerte es vom anderen Ende der Leitung.
„…Vergessen Sie es!!“ Tüt, tüt, tüt,
„Die 2500,- € alleine für mein Seminar hätte man wirklich sinnvoller anlegen können.“, seufzte Holger enttäuscht.
„Dort werde ich mein Glück machen und mich im Sinne behinderter Menschen entsprechend durchsetzen können“, dachte Holger Kilsak nach dem er den kleinen Hinweis in der Tageszeitung seiner Heimatstadt las: „Saarbrücker Behindertenbeirat tagte“ Holger erkundigte sich wie er dazu stoßen könnte und überwand zunächst unzählige bürokratische Barrieren.
„Heute sollten wir zu einer Entscheidung kommen, welche zwei Haltestellen eine schiefe Ebene erhalten, das Geld dafür steht bereit.“ leitete der Vorsitzende die Sitzung ein.
Holger war es leid schon fünf oder sechs mal das Gleiche als Auftakt zu hören zumal es 500 Haltestellen im Stadtgebiet gab:
„Ich wüsste einen sehr viel effizienteren Weg wirklich etwas für Benachteiligte zu erreichen, ohne großen Aufwand…Seminare dazu habe ich bereits geschrieben…“
Holger stand auf und kam wie immer ohne Mikrofon aus.
„…Nämlich Sensibilisierung und Aufklärung der Bevölkerung um das Weltbild Betroffener zu Recht zu rücken! Dazu braucht es kein Geld sondern Engagement“
„Herr Kilsak, Sie wissen ja dass Sie hier gerne willkommen sind, aber als Nichtmitglied im Behindertenrat haben Sie weder Stimmrecht noch eine Möglichkeit etwas zu initiieren. Hat noch jemand von den Anwesenden aus seinen Verbänden und Selbsthilfe zu bemerken.
„Nee, Nee…“, kam es einhellig von den Tischen zurück.
„…bei uns ist alles in Ordnung!“
Alle, außer Holger wurden weiterhin eingeladen und kassierten Sitzungsgeld. Holger Kilsak, der Unbequeme mit außerordentlichem Interesse an behinderten Menschen und dem Rat dazu, nicht. Nach der quälenden Sitzung, wollte Holger noch einen trinken gehen. In Saarbrücken hatte sich in den paar Jahren viel getan, dass er sich nicht mehr 100%ig auskannte. So verirrte er sich in eines dieser schnieken Lokale der Großstadt Saarbrücken.
„Ist ja alles nur vom Feinsten, bestimmt so eine Yuppie-Kneipe mit After-Work-Party`s usw.“
überlegte Holger, als er die massive schwere Türe aufstieß und sich ihm eine exklusive Einrichtung in dem leeren Lokal bot.
„Sie werden bestimmt Verständnis haben, dass ich Ihnen keinen Service bieten kann!“
Der Topgestylte Kellner stützte sich nur mit den Fingerspitzen beider Hände auf dem mächtig breiten Tresen ab.
„Nöö, eigentlich nicht,“
stellte sich Holger dumm, während der elegante Beau die Fliege zurecht rückte und an seiner Weste imaginäre Fussel entfernte.
„Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass S I E überall bedient werden, wir erwarten hier ein spezielles Publikum, das nicht mit Ihnen rechnet.“
Angewidert verzog er sein geschminktes Gesicht.
„Wo ich wollte wurde ich bisher bedient, aber seit 10 Sekunden gibt es ein Lokal, in dem ich mich nicht mehr blicken lasse, es sei denn Sie haben frei und fieser als Sie kann kein Publikum sein.“
„Na dann ist ja alles geregelt“
näselte der Kerl ölig. Holger drehte sich zur Tür und dachte:
„Natürlich steht es jedem Wirt und Kellner frei zu entscheiden, wer zu bedienen ist. Aber nicht zu bedienen, weil jemand nicht komplett oder auffällig ist, ist schon ein grober Verstoß gegen die Menschenrechte. In dieser Gesellschaft bin ich systemfremd, sprenge alle gesellschaftlichen Normen, bin nicht willkommen, weil scheinbar asozial. Was nützt mir die Barrierefreiheit, wenn ich als Mängelwesen nicht ernst genommen werde?“
Verärgert, dass er seine vielfältigen Erfahrungen nicht an den Mann bringen konnte, steckte Holger beide Hände in seine Jeans und stapfte traurig nach Hause. Traurig und enttäuscht aber keineswegs resignativ.
Holger Kilsak ging weder an Krebs noch den Folgen zugrunde, sondern an der großstädtischen Gesellschaft.
Wenn überhaupt.
- wird man und ist es nicht
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2008.
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