Melanie W.

War es doch meine Schuld? - In Erinnerung an Janine

Es ist 5:30 Uhr. Ich stehe auf, zeihe mich an und gehe ins Bad, schaue in den Spiegel. Alles, was ich sehe sind dunkle Augenringe und verheulte Augen.
 
Es ist 6:00 Uhr. Ich gehe mit meinem Hund, um diese Zeit überlegte ich meistens, was wir heute wieder anstellen werden. Jetzt ist es 6:45 Uhr. Ich steige in den Bus und setze mich auf irgendeinen freien Platz.
 
Bisher habe ich mich im Bus immer schon auf den Moment gefreut, wenn wir uns wiedersehen.
 
Ich sitze von 7:30 bis 15:00 Uhr in der Schule, lasse die Erklärungen vom Lehrer und seine Aufgaben an mir vorbeirauschen.
 
Dann wird ein Kurzvortrag oder eine Ausarbeitung angekündigt. Sobald ich mein Thema höre, die Aufgaben dazu notiert habe, schalte ich wieder auf Durchzug. Meistens haben wir unsere Aufgaben gemeinsam erledigt.
 
Die Schule ist vorbei und ich fahre in die Stadt, schlendere durch einzelne Läden, in denen wir immer waren.
 
Egal, wohin ich gehe, überall sind Erinnerungen an dich.
 
Es ist 18:25 Uhr, ich sitze im Bus, auf dem Weg nach Hause - um diese Zeit saßt du immer im Zug nach Schwarzenberg.
 
Ich komme zu Hause an, erledige meine Aufgaben und Hausaufgaben, bereite die Schulsachen für den nächsten Tag vor.
 
Ich zünde mir 2-3 Kerzen an, lege meine Lieblings-CD ein, lege mich auf mein Bett und starre dein Bild an, welches vom Flackern der Kerzen leicht erhellt wird......und alles beginnt sich von vorn in meinem Kopf abzuspielen.
 
 
 
Es war im November 1997 als deine Eltern nach Zwickau zogen und du zu uns in die erste Klasse kamst.
 
Die Lehrerin hatte dich neben mich gesetzt. Wir verstanden uns von Anfang an.
 
Es dauerte nicht lange und wir waren die besten Freundinnen.
 
Es vergingen die Wochen, Monate und schließlich auch die Jahre. In dieser Zeit wuchs unsere Freundschaft immer mehr. Nach der Schule erledigten wir gemeinsam unsere Hausaufgaben und hingen anschließend bis späten Nachmittag zusammen ab. So verging die Zeit. Schließlich begann das zweite Halbjahr der vierten Klasse und wir mussten uns entscheiden welche weiterführende Schule wir besuchen sollten.
 
Beide gingen wir dann auf die Puschkinschule und hatten auch das Glück wieder in eine Klasse zu kommen.
 
Auch dieses Mal saßen wir bis zur sechsten Klasse zusammen, haben uns in den Klassenarbeiten gegenseitig geholfen.
 
Dann kam das Angebot uns aufgrund unserer Leistungen aufs Gymnasium zu schicken.
 
Nur weil ich das Einverständnis meiner Eltern nicht bekommen habe, hast du darauf verzichtet.
 
Ab der siebten Klasse saßen du und ich zwar nicht mehr zusammen, aber Kurzvorträge, Hausarbeiten und Gruppenarbeiten haben wir immer gemeinsam gemacht.
 
So vergingen auch diese Jahre.
 
In all diesen Jahren sind wir gemeinsam aufgewachsen, haben jeden Mist zusammen mitgemacht, uns gegenseitig wieder aufgebaut, wenn mal was schief gelaufen ist.
 
Von dem Herumgezicke von den anderen Weibern haben wir uns auch nicht beeindrucken lassen.
 
Als dann aber die Probleme bei mir zu Hause immer größer wurden, konnten wir nicht mehr wie gewohnt lernen, unsere Freizeit verbringen und uns gegenseitig wieder auf die Beine helfen.
 
Du hast dich dann mit der Zeit ebenfalls angefangen zu verändern.
 
Du wurdest immer aggressiv sobald du mal eine 3 in Mathe bekommen hattest, wobei dich das nie sonderlich störte.
 
Am Anfang dachte ich mir nichts dabei, vielleicht hattest du mal wieder so eine Schlecht-Laune-Phase.
 
Später wusste ich dann, was los war.
 
Auch deine Eltern, hauptsächlich deine Mutter hatten sich verändert. Es war nicht mehr diese Liebe bzw. das Gefühl der Vertrautheit und des Verständnisses zwischen euch. Stattdessen breitete sich Hass und Kälte zwischen euch beiden aus. Deine Mutter stellte immer mehr Vergleiche zwischen dir und mir auf.
 
Sobald du auch nur eine Zwei Minus mit nach Hause gebracht hast, bekamst du nur Verbote.
 
Zwar wurdest du nicht geschlagen, aber die Einschränkungen deiner Freizeiten waren wie eine Qual für dich.
 
Mit Beginn des zweiten Schulhalbjahres der neunten Klasse wurden deine Noten immer schlechter.
 
Abends saßt du nicht mehr wie gewohnt vor deinen Heftern und Schulbüchern oder hast mich angerufen.
 
Stattdessen war bei dir nur noch Draußenherumtreiben und Party angesagt. In der Schule bist du dann früh immer fast eingeschlafen, deine Augenringe wurden immer dunkler, im Unterricht bist du kaum noch mitgekommen. Das alles nur wegen diesem Kerl, dein sogenannter "Freund". In dieser Zeit verlor ich fast den Draht zu dir, ich habe mir immer mehr Sorgen um dich gemacht, mich gefragt, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe.
 
Am Ende der neunten Klasse warst du dann Versetzungsgefährdet, erst nachdem deine Eltern und ich pausenlos auf dich einredeten, hast du erkannt, was du dir eigentlich die ganze Zeit geleistet hattest. Die nächsten bzw. letzten fünf Arbeiten waren entscheidend für deine Versetzung. Von früh ab in der Schule bis späten Nachmittag saßen wir zusammen und haben den versäumten Stoff nachgeholt. Manchmal sogar abends übers Telefon noch.
 
Die Arbeiten waren bei dir ein reiner Erfolg während meine miserabel ausfielen, weil ich mit dir alles aufgeholt hatte.
 
Dieses Mal waren wir nicht, wie gewohnt die Klassenbesten am Ende des Schuljahres. Dieses Jahr schmückten zwei andere Bilder die Tafel der Jahrgangsbesten, aber das war mir egal. Die Hauptsache war, dass du versetzt wurdest.
 
Die Sommerferien verbrachten wir nur an den Wochenenden gemeinsam. Was war mit uns passiert? Wir waren bisher immer unzertrennlich, verbrachten jede freie Minuten gemeinsam.
 
Jetzt hatten wir sogar schon Geheimnisse voreinander. Immer häufiger stritten wir uns über belanglose Dinge und vertrugen uns nicht mehr so schnell hinterher wie sonst.
 
Ich bin dann vermehrt ins Spielhaus gegangen, während du dich mit deinem Freund vergnügt hast. Manchmal war ich sogar ein wenig eifersüchtig. Andererseits hattest du dich so sehr verändert seitdem du mit ihm zusammen warst.
 
Dort fand ich Ruhe zum Lernen, Ruhe vor dem ganzen Ärger zu Hause mit meiner Mutter.
 
Seitdem mein Vater, als ich 13 war, ausgezogen war, wurden die Probleme immer größer. Ich lebte mit meinen drei anderen Geschwistern und meiner Mutter zu Hause. Ständig nörgelte sie an mir herum, warum ich soviel lerne, warum ich mir nicht mal einen Freund suchen wollte, warum ich nicht so sein konnte, wie meine große Schwester: immer duckmäusern, zu allem ja und amen sagen, zu Hause bleiben und mich am Familienleben beteiligen. Das alles wollte ich nicht. Das, was sie Familienleben nannte war keines. Jeder ging seiner Aktivität nach, alle waren in anderen Zimmern, gemeinsam gegessen wurde auch nicht mehr. Die zwei Kleineren bekamen 19:00 Uhr ihr Abendbrot und saßen allein in der Küche. Wir zwei großen aßen, wann es uns gerade passte. Als mein Vater noch da war, gab es so etwas nicht. Da wurde gemeinsam gegessen und feste Zeiten gab es auch. Der Grund, weshalb mein Vater auszog, war, dass er Alkoholiker war und es deswegen immer wieder Streit gab. Er war kein Unmensch, er war ein herzensguter Mensch, zumindest solange er nüchtern war. Immer war mein Papa mein Vorbild, immer wollte ich so sein bzw. werden wie er. Das hat sich dann im Laufe der Jahre geändert. Meine Eltern stritten sich nurnoch. Er begann meine Mutter zu schlagen, sie zu bedrohen, nur noch betrunken nach Hause zu kommen, sich zu beschweren, dass das Essen nicht schmecke usw..
 
Natürlich ist es nicht einfach vier Kinder allein großzuziehen, aber das ist auch kein Grund ein Kind so zu behandeln als wäre es nur Dreck. Ich weiß nicht ob es daran liegt, dass ich meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten bin, oder ich nicht immer ihrer Meinung bin sondern meine eigene habe bzw. bilde oder ob ich mich einfach zu sehr von meinen Geschwistern unterscheide.
 
Als du mit ihr einmal ins Gefecht kamst, musste ich hinterher auch alles ausbaden, obwohl ich nichts dafür konnte, was auch immer der Grund für euren Streit war.
 
Ständig wurde ich für irgendetwas verantwortlich gemacht, wegen Kleinigkeiten fast verprügelt, was dich angefangen hatte ziemlich mitzunehmen.
 
Im Spielhaus war eine ABM, die Christine hieß, zwischen ihr und mir wuchs eine Freundschaft, die dann auch irgendwann das Private verband. Ihr vertraute ich mich an. Du konntest sie von Anfang an nicht ausstehen. Durch sie bekam ich auch eine Ferienarbeit beim Cateringservice. Diese Arbeit brachte dich und mich immer weiter auseinander. An den Wochenenden an denen wir eigentlich schon etwas geplant hatten, musste ich dann arbeiten. Eigentlich war ich für sogut, wie Nichts arbeiten, weil ich über die Hälfte meines verdienten Geldes meiner Mutter geben musste. Als du dich damals mit ihr darüber gestritten hattest, wusste ich nicht ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Als die
 
Schließlich blieb es nicht nur bei der Ferienarbeit und es zog sich bis in die Schulzeit hinein. Es fiel mir immer schwerer überhaupt noch etwas vom Unterricht mitzubekommen, weil ich total müde war oder die Nacht durchgearbeitet hatte und früh gleich zur Schule gegangen war. Zwar konnte ich meine Leistungen halten, aber wir hingegen zickten uns nur noch an. Trotzdem hielten wir noch zusammen wie Pech und Schwefel. Manchmal frage ich mich, wie wir das geschafft haben.
 
Als ich diese Arbeit dann letzten Endes doch aufgab, wurden meine Leistungen wieder besser.
 
Du wurdest immer ärgerlicher, wenn ich meine nächste eins bekam, was ich nicht verstand, da wir uns bisher immer füreinander gefreut hatten.
 
In den Weihnachtsferien freundete ich mich langsam mit der Chefin vom Spielhaus, Sylvia an, die ich anfangs abgöttisch gehasst habe. Die ABM-Zeit von Christine war in der Zwischenzeit auch ausgelaufen, wodurch der Kontakt schließlich auch allmählich abbrach, was dich richtig freute.
 
Deine Probleme zu Hause und meine wurden zwar nicht besser, aber wenigstens verstanden wir uns wieder immer besser.
 
Du hast bemerkt, wie ich mich verändert habe und ich muss eingestehen, dass ich es selbst mitbekam.
 
Ich bin immer ruhiger geworden, hab nur noch in kurzen Sätzen mit dir gesprochen, habe es nichteinmal mehr auf die Reihe bekommen mit dir ein Thema richtig auszudiskutieren, was dich verständlicher Weise immer wütend machte. Ein Satz von dir klingt mir noch richtig im Ohr: "Es kotzt mich an, dass du dich immer mehr in dich zurückziehst!“
 
Es war nicht, dass ich dir nicht mehr vertraut hätte, nein! Aber in den letzten Monaten, hatten wir uns nie über private Probleme vertieft unterhalten und ich habe es dann irgendwie verdrängt bzw. mir war dann alles egal, alles ist mir am Arsch vorbeigegangen. Es war mir egal, was meine Mutter von mir dachte, wie sie mich behandelte, ich begann alles auf die leichte Schulter zu nehmen.
 
Als du dich dann aber mit mir darüber unterhalten wolltest, hatte ich wie einen Kloß im Hals, der mir jeglichen Ton bzw. Atemzug abnahm und mir Tränen in die Augen drückte- und du weißt, wie sehr ich es hasse vor anderen zu heulen.
 
Irgendwann hat es Sylvia dann geschafft sich einen Weg zu mir durchzubahnen. Die erste Zeit war so verdammt schwierig. Es ging mir nicht in den Kopf - eine mir eigentlich wildfremde Frau brachte mich zum Reden, die Frau, die ich so gehasst habe. Sie war es aber, die mir beigebracht hat über Probleme zu reden, was es heißt Vertrauen zu haben. Nach und nach hat sich dann der Kloß in meinem Hals wie von selbst aufgelöst.
 
Sylvia zeigte mit, was das für ein Gefühl ist geliebt zu werden. So wuchs die Freundschaft zwischen uns und das Vertrauen wurde immer größer.
 
Anfangs dachte ich es würde dich nicht weiter stören.
 
Dann begannen die Vorprüfungen. Dieses Mal hatten wir nicht gemeinsam gelernt. Obwohl die Ergebnisse relativ gut ausfielen, warst du mit deiner Leistung nicht zufrieden. Wobei du die einzige Zwei hattest.
 
Danach hast du ständig angefangen, wie deine Mutter Vergleiche anzustellen, vorallendingen im schulischen Sinne. Als die Englischvorprüfungsergebnisse bekanntgegeben wurden, ging es wieder los:
 
 
 
                                                                "Du bist viel besser als ich!!"
 
                                                                "Warum bist du besser und ich nicht?!"
 
"Ich verstehe es einfach nicht! Ich hab' im Gegensatz zu dir alle  Zeit der Welt um zu lernen, habe nicht solche Probleme, wie du und bekomme schlechtere
Noten als du!"
 
 
 
Dann, kurz vor der Englischprüfung lag ich im Krankenhaus, du warst sauer, weil wir nicht zusammen lernen konnten. Am Morgen der Prüfung wurde ich entlassen und bin auch gerade noch pünktlich erschienen.
 
Trotz, dass ich keine wirkliche Prüfungsvorbereitung hatte, habe ich meine Eins mit voller Punktzahl und alles Zusatzpunkten geschafft. Als wir uns nach der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse unterhielten, konnte ich dir deine Wut anmerken.
 
Ich wusste nicht warum, aber alles hatte sich in unserer Freundschaft verändert.
 
Alles musste nach deinem Kopf gehen; in der Schule warst du immer anders als privat.
 
Wenn wir Pläne für die Ferien gemacht haben, musstest du immer deinen Willen durchsetzen. Sonst immer entschieden wir alles gemeinsam.
 
Die Prüfungen waren bereits vorbei und die Klassen- bzw. Abschlussfahrt nach Binz stand an. Die ganze Fahrt über wechselten wir kein Wort miteinander. In der Jugendherberge begann dann unserer Streit, der sich schon Wochen zuvor anbahnte. Dieser Streit war heftiger, als die, die wir zuvor ausfochteten.
 
Nach unserem Streit sprachen wir zwei Tage nicht miteinander, erst als wir über irgendeinen dämlichen Witz lachen mussten, ging es langsam wieder.
 
Die restlichen Tage sind richtig schön gewesen. Wir waren weit weg von dem schulischen Stress, du weit weg von deinem Freund, was dir nichteinmal was auszumachen schien (das war auch der Zeitpunkt, an dem ich begann mit ernsthafte Sorgen um dich zu machen), und ich weit weg von meiner Mutter.
 
Der schönste Tag war für mich der, an dem so ein Wellengang herrschte und wir trotz Badeverbotes von der Brücke sprangen, kaum das wir dann mit den Köpfen wieder aufgetaucht waren, bedeckten die heranbrausenden Wellen sie auch gleich wieder. Von der Kraft der Wellen ganz zu schweigen. Auch als wir am letzten Morgen extra früh zeitig aufstanden um am Strand entlang zu spazieren und nebenbei Muscheln zu sammeln. Wie groß war die Freude, als wir zu Hause dann die Briefe für unsere Aufnahme am Wirtschaftsgymnasium in den Händen hielten.
 
In den darauffolgenden Sommerferien sahen wir uns sogut wie nie. Du warst in Spanien und ich die meiste Zeit im Spielhaus. Auch in dieser Zeit wuchs das Vertrauen zwischen Sylvia und mir immer mehr. Es war auch die Zeit, in der ich begann meine Mutter zu hassen und sie als Fremde, als Monster ansah, aber nicht als meine Mutter. Stattdessen sah ich Sylvia als Mutter an. Sie kümmerte sich um mich als wäre ich ihre Tochter, sie übernahm die Aufgaben, die meine Mutter eigentlich hätte übernehmen müssen.
 
Wenn sie mich um einen Gefallen bittet, dann nehme ich das als wie eine Art höfliche Aufforderung auf, es ist ein Gefühl, als käme der Gefallen von meiner Mutter, so wie ich sie ansehe, also tue ich ihr diesen Gefallen. Sagt bzw. gibt meine Mutter mir eine Aufgabe, dann erfülle ich diese zwar auch, aber es ist nicht das Gefühl, als ob meine Mutter das zu mir sagt, sondern von einer Fremden. Vielleicht verstehst du, was ich meine.
 
Der erste Schultag nach den Sommerferien an der neuen Schule war nervenaufreibend.
 
So viele neue Schüler standen vor der Turnhalle, in der die Klassenzusammensetzungen bekanntgegeben und die einzelnen Klassenlehrer und anderen wichtigen Personen, wie z.B. die Schuldirektorin und der Stellvertretende Schulleiter des Gymnasiums vorgestellt wurden.
 
Dann begannen die einzelnen Lehrer nacheinander die Namen der Schüler aufzurufen, die in einer Klasse waren. Langsam wurde die Anzahl der noch verbleibenden Schüler immer weniger und die Reihen begannen sich zu lichten.
 
Drei Lehrerinnen standen noch vor uns auf der Matte. Dann waren es nur noch zwei. Während wir uns fast die Hände abgedrückt hätten, wurden schließlich unsere Namen aufgerufen. Erst deiner, ich dachte mein Herz müsste stehen bleiben, und dann auch meiner. Wieder einmal Glück gehabt. Auf ein Neues dachten wir. Dieses Mal für drei weitere Jahre.
 
Wir saßen in unserem Klassenzimmer, hörten uns zahlreiche Belehrungen an, erhielten sämtliche Unterlagen und Daten und mussten uns schließlich vorstellen.
 
Für uns beide war die Klasse neu und alles ungewohnt, wie für die anderen auch.
 
Es vergingen die Wochen, nach der fünften Schulwoche wurde die erste LK angekündigt. Diese lief zwar gut aber dafür war die darauffolgende Klausur alles andere als zufriedenstellend gelaufen. Dann wurde auch schon die erste Hausarbeit in Auftrag gegeben.
 
Als wir diese anfertigten, warst du ungewöhnlich schnell fertig mit deinem Teil. Erst bei der Bewertung wusste ich weshalb. Das wichtigste hattest du herausgelassen und die Aufgaben nur oberflächlich bearbeitet. Ich dachte mir nichts dabei, kann immerhin passieren. Allerdings "passierte" das bei den folgenden Arbeiten ebenfalls. So vergingen die ersten vier Monate bis zu den Weihnachtsferien. In dieser Zeit stellten wir sehr wohl fest, dass das Gymnasium kein Vergleich zur Mittelschule ist.
 
In den Monaten des ersten Schulhalbjahres, bemerkte ich eine Veränderung bei dir. Deine Noten wurden immer schlechter und du bist abends wieder durch die Straßen gezogen oder eine Party nach der anderen gefeiert obwohl am anderen Tag wieder Schule angesagt war, manchmal sogar eine Klausur.
 
Eine Woche vor den Weihnachtsferien hatte ich dann meinen Unfall. Ich bekomme es bis heute nicht in meinen Kopf, warum meine Mutter als erstes gefragt hat, ob mein Fahrrad sehr viel Schaden genommen hat. Ist das eine Mutter? Wie es mir ging hat sie gar nicht interessiert.
 
Du bist fast gestorben vor Sorge als du es erfahren hattest. Die Weihnachtsferien waren der Horror. Die ganze Zeit lag ich im Krankenhaus und auch die erste Schulwoche. Alle dachten ich hätte nach wie vor mit meiner Lungenentzündung zu kämpfen. Nur du und ich wussten den eigentlichen weiteren Grund.
 
Eine gebrochene Rippe, Prellungen und blaue Flecke waren das Ergebnis des Streits zwischen meiner Mutter und mir. Ich dachte wirklich, dass du es nicht gesehen hättest, wie sie mich die Treppen hinuntergestoßen hat.
 
Dann konnte ich endlich wieder zu Schule gehen. Die nächsten drei darauffolgenden Wochen sollten anstrengend werden. Den ganzen versäumten Schulstoff nachholen und dann die ganzen Klausuren und LK's. Du hast gemeint, du würdest das mit links machen.
 
Ständig hast du dich dann wieder angefangen aufzuregen, weil ich allein gelernt habe und zu dir kein Vertrauern mehr hätte. Es war nichts gegen dich, dass ich begann vermehrt allein zu lernen, aber du warst immer darauf aus Party zu machen. Wenn ich außerdem allein lernte, waren meine Noten auch besser. Keine Ahnung, woran das lag.
 
Du brachtest dann wieder alles mit Sylvia in Verbindung, genau wie meine Mutter. Du meintest sie würde mich dir wegnehmen. Ich weiß bis heute nicht, wie du so etwas denken konntest. Es stimmt, sie ist mir wichtiger als alles andere, ich für sie alles aufgeben würde, ich ihr mehr vertraue und sie mich besser kennt als irgendjemand anderes. Auf sie kann man sich verlassen. Sie ist für mich zurzeit die einzige Stütze. Aber das ist trotzdem kein Grund so eifersüchtig zu sein.
 
Durch Sylvia ist mein Selbstbewusstsein und meine Kraft bzw. mein Mut immer stärker geworden und ich möchte sie und auch DICH nie mehr missen. Das einzige worüber wir uns fast nur noch unterhielten waren die Schule und deine Noten. Als die Klassenarbeiten geschrieben und benotet waren, stand für dich fest, dass dein Zeugnis miserabel ausfallen würde, meins war aber auch nicht sehr viel besser. Als dann die endgültigen Halbjahresnoten feststanden und bekanntgegeben wurden, warst du zu meiner Überraschung ziemlich gefasst.
 
Nach der Schule war es dann endlich soweit. Es war der Tag, an dem du deinen Mopedführerschein bekommen solltest bzw. haben wolltest. Dein Moped hattest du ja schon am Tag zuvor bekommen.
 
Wie sehr hab ich mich für dich gefreut. Aber irgendetwas hielt dich an deiner Freude zurück.
 
Du hieltst den Führerschein in der Hand, als wäre es ein Trostpreis vom Rummel. An dem Tag verhieltst du dich anders, wie sonst.
 
Als wir dann mit deiner Mum zu euch nach Hause gefahren sind, bist du immer stiller geworden und hast dann eine zeitlang gar nichts mehr gesagt. Als wir uns über deinen Geburtstag unterhielten, der ja schon nächste Woche war, kam deine Mutter herein und meinte das Essen würde noch ein Stück dauern.
 
Du bist dann wie eine angestochene aufgesprungen und wolltest mit unbedingt deinen neuen Stolz zeigen.
 
Das erste, was du aus der Garage holtest war dein altes Fahrrad und an den Zaun gelehnt.
 
Und dann....ganz langsam... dein neues Moped. Stolz hast du mir erzählt, was für eine Marke es war, wie schnell es fährt usw. Ich habe zwar kein Wort von all dem verstanden, es aber schön das Leuchten in deinen Augen zuzuschauen. Dann wolltest du losfahren...ganz ohne Helm..
 
Mehrmals habe ich dich darauf hingewiesen, deinen Helm aufzusetzen. Strikt geweigert hast du dich, weil du "zu faul" warst erst noch mal ins Haus zu gehen um ihn zu holen.
 
"Du bist zu ängstlich!" hast du zu mir gesagt. "Es passiert schon nichts!"
 
Als du den Motor gestartet hast und losgedonnert bist, dachte ich wirklich du seiest sicher beim Fahren, trotz, dass du kein Helm aufgesetzt hast und noch Anfänger warst.
 
Du bist die Straße hinaufgefahren und urplötzlich an der Kreuzung stehen geblieben.
 
Das Geräusch deines Motors war auch nicht mehr zu hören. Ich dachte schon irgendetwas war mit deinem Moped. Ich ahnte ja nicht von deinem Vorhaben, als du mir zu gewunken hast.
 
Als du dann den Motor wieder gestartet und an der Kreuzung in Richtung bergab gewendet hast, war ich innerlich richtig aufgeregt.
 
Dann bist du den Berg hinuntergedonnert als wärst du auf der Flucht... dann hast du die Kontrolle verloren. Als ich sah, wie du gestürzt bist, habe ich nicht lange überlegt und bin dir mit dem Rad, das am Zaun gelehnt stand hinterher gerast. Zu spät habe ich erst mitbekomme, dass das Rad keine Bremsen mehr besaß. Als ich kurz vor dir war, und versuchte irgendwie abzubremsen, stürzte ich über irgendetwas, das auf der Straße lag und krachte mit voller Kraft auf dich drauf, schlitterte aber trotzdem noch ein paar Meter weiter.
 
Mir tat alles weh, als ich dann aber so liegen sah, vergaß ich das und rannte zu dir.
 
Überall war Blut, überall lagen Einzelteile von deinem Moped herum. Ich nahm dich in meine Arme und versuchte die klaffende Wunde an deiner Schläfe mit einem Taschentuch zu stillen.
 
Ich sah, wie deine Augen sich mit Tränen füllten...mit deiner blutigen Hand hast du versucht mein Gesicht zu berühren und mir etwas zuzuflüstern...dann bist du bewusstlos geworden.
 
Dein Puls wurde immer schwächer...dein Atmen immer weniger...
 
Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten, ich machte mir solche Vorwürfe und schrie so laut es nur ging.
 
Deine Eltern hatten bereits mitbekommen, was passiert war. Ich bekam gar nicht mit, dass dein Vater versuchte mich zu beruhigen, deine Mutter stand regungslos hinter uns ehe sie einen Krankenwagen rief, der viel zu lang brauchte ehe er da war. Was ich aber nicht verstand, war, dass deine Mutter keine Polizei wollte.
 
Die ganze Nacht war ich bei dir im Krankenhaus.
 
Um 22:00 Uhr warst du das erste Mal Hirntot, erst nach 20 minütigen Reanimationsversuchen hat dein Gehirn wieder angefangen zu arbeiten. Um 2:37 Uhr gab dein Herz auf...erst nach zwei Stunden fing es wieder an zu schlagen. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht, saß neben deinem Bett oder vor deinem Zimmer. Dein Vater und dein Bruder haben die ganze Zeit versucht mich zu beruhigen, aber keine Chance - zu groß war die Sorge um dich.
 
Eine Infusion nach der anderen wurde dir verabreicht...eine Spritze folgte der nächsten, nur um deinen Kreislauf zu stabilisieren. Als es bereits 5:00 Uhr war, baten mich die Ärzte nach Hause zu fahren. Aber ich fuhr nicht nach Hause, sondern zur Schule. Nicht einmal im Zug konnte ich ein Auge zumachen.
 
Drei Klausuren haben wir an diesem Tag geschrieben, und alle drei habe ich total vermasselt. Ich bemerkte erste im Laufe des Vormittages, dass ich noch immer den völlig blutverschmierten Pullover trug. Jetzt klärte sich auch die Frage, warum mich alle so anstarrten, aber das war mir egal.
 
Nach der Schule ging ich ins Spielhaus, nicht nach Hause. Erst nachdem ich alle begrüßt hatte, realisierte ich, was überhaupt so richtig passiert war. Ich verkroch mich ins Büro und konnte meine Tränen dann auch nicht mehr zurückhalten.
 
Sylvia kam dann herein und frug, was los war. Es war richtig seltsam:
 
Keiner im Krankenhaus konnte mich beruhigen...sie konnte es mit einer einzigen Umarmung.
 
Die ganze Zeit sah ich auf mein Handy, ob endlich eine SMS oder ein Anruf ankäme...NICHTS!!
 
Ich weiß nicht ob es Zufall war. Um 16:00 Uhr hatte ich, wie einen Stich ins Herz.
 
Nur kurzzeitig bekam ich keine Luft.
 
Eine halbe Stunde später kam dann die SMS von deinem Bruder, dass dein Herz endgültig aufgehört hat zu schlagen.
 
Genau 16:00 Uhr, als ich auch diesen Schmerz verspürte. Sollte das ein Abschied sein?
 
Ich war einfach nur fertig mit den Nerven. Sylvia versuchte zwar mich zu trösten, aber das half mir für den Moment auch nicht weiter. Alles war mir urplötzlich egal.
 
Die darauffolgenden Tage und Wochen waren die Hölle. Deine Mutter machte mir Vorwürfe ich mache mir noch immer Vorwürfe...ich hätte dich daran hindern sollen auf dieses dämliche Moped ohne deinen Helm zu steigen. Wäre ich nicht auf dich draufgeknallt, hättest du vielleicht nicht so viele Verletzungen erlitten.
 
Eine Woche später, am 25.02.2008, hättest du Geburtstag gehabt. Dein Geburtstagsgeschenk hätte dir bestimmt gefallen. Am darauffolgenden Montag, hatte ich die Aufgabe, der Klasse mitzuteilen, dass du nicht mehr kommen würdest. Es war nicht einfach.
 
Nachdem dies erledigt war, durfte ich nach Hause gehen. Die Projektarbeit, die wir beide bearbeiten sollten, durfte ich nun allein auf die Beine stellen.
 
Aufgrund der Umstände, durfte ich zwar eher gehen, trotzdem half mir das nicht sehr viel weiter.
 
Am Dienstag wurdest du schon beerdigt. Ich durfte sogar eine Rede halten.
 
Irgendwie konnte ich mich auf meine Arbeit überhaupt nicht konzentrieren. Ständig hatte ich das Bild vor Augen, als du gestürzt warst. Ständig habe ich während meiner Arbeit gemerkt, dass du fehlst.
 
Dann endlich standen die Ferien an.
 
Jeden Tag war ich im Spielhaus, nur um mich irgendwie abzulenken.
 

 
Am Mittwoch erhielt ich dann das, was ich niemals im Leben von dir gedacht hätte - deinen Abschiedsbrief.
 
Dieser Brief war niederschmetternd. Ich empfand ihn als Kränkung, aber nicht als Erklärung für dein Handeln. Nie hätte ich gedacht, dass ich dich mit der Freundschaft zu Sylvia so dermaßen verletzen würde. Auf der anderen Seite aber konnte man deine ganze Eifersucht herauslesen. Es waren zum Teil Gründe, über die man hätte reden können. Es waren jedoch keine Gründe für einen Selbstmord. Natürlich mache ich mir Vorwürfe, auch dass ich nicht mitbekommen habe, wie schlecht es dir wirklich ging. Es war klar, dass dein Zeugnis so dermaßen schlecht ausfallen würde, aber selbst die Lehrer haben doch gesagt, dass man dies mit der Umorientierung bzw. Anpassung an die Gymnasialstufe von der Mittelstufe entschuldigen könne.
 
Totales Unbehagen überkam mich zur Übernachtung. Der erste Teil des Abends verlief eigentlich ganz gut, aber dann kam ich allmählich zur Ruhe - alles kam wieder hoch und spielte sich noch einmal in meinem Kopf ab. Nachts konnte ich es dann nicht mehr zurückhalten.
 
Jetzt sind zwei Monate vergangen. All die Dinge, die an unsere Freundschaft erinnert haben sind weggeschmissen bzw. vernichtet worden. Unsere Mütter haben diesen Entschluss gefasst. Es wäre angeblich nur zu meinem besten.
 
Jedes Mal, wenn ich in der Schule sitze, muss ich an dich denken.
 
Daran denken, wie wir die Lehrer zur Weißglut gebracht haben, gespannt abwarteten, wann unsere Arbeiten zurückgegeben wurden.
 
Wenn ich jetzt bei einer Aufgabe hängen bleibe, schaue ich wie gewohnt neben mich...
 
Doch alles, was ich da sehe, ist mein Rucksack auf dem Stuhl, auf dem du eigentlich sitzen solltest...
 
Immer haben wir uns gegenseitig geholfen, wenn wir irgendwo festhingen...
 
 
 

 
                                                        ES FEHLT EINFACH!!!
 
                                                                                DU FEHLST!!!!
 
 
 
Du hast geschrieben: "Weißt du noch, wie wir uns das Versprechen gegeben haben, wenn eine 
 
                                         uns stirbt, dass es dann nicht lange dauert und wir sind wieder vereint??
                                                                    Deshalb sage ich nicht Goodbye
 
                                                                    sondern BIS BALD!"
 
 
 
Es ist nicht meine Art Versprechen zu brechen, aber dieses erfülle ich dir nicht, das habe ich jemandem versprochen.
 
 
 
 
 

 
Abends versuche ich zu schlafen bzw. schließe die Augen und immer wieder spielt sich der Film von vorn ab....wieder..und wieder...und wieder.....

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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