Trockenheit liegt über dem Land. Die Sonne brennt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel auf die verdorrte Erde hinunter. Wiesen und Felder sind bereits gelb geworden. Brunnen und Bäche ausgetrocknet. Schon seit Wochen lässt der Regen auf sich warten und es herrscht eine Schwüle, die kaum mehr zu ertragen ist. Das Grundwasser ist knapp geworden und seit acht Tagen herrscht überall im Land Wassernotstand. Gärten dürfen nicht mehr bewässert, Autos nicht gewaschen werden. Auch das alltägliche Vergnügen der Kleinen im Planschbecken ist verboten. Freibäder sind geschlossen. Unzufriedenheit und Aggressionen haben sich im Alltag der Menschen breit gemacht.
Einsam und gebeugt, einen Stock in ihrer linken Hand und einen Stoffbeutel in der Rechten, geht eine alte Frau die staubige Dorfstrasse entlang. Unter ihrem langen, grauen Rock und der weiten Bluse ist es ihr so heiß, wie in einer Sauna, doch sie wandert unbeirrt voran. Zum Schutze vor den sengenden Sonnenstrahlen trägt sie ein Kopftuch. Jeder Schritt bedeutet für die Neunzigjährige eine Qual, die sie jedoch gerne auf sich nimmt, um zur letzten Ruhestätte ihres Mannes zu gelangen. Heute fällt ihr der weite Weg dorthin aber besonders schwer, denn sie fühlt die Anzeichen einer keimenden Grippe in ihren ohnehin schon sehr müden Gliedern. Ab und zu bleibt sie stehen, um wieder etwas Kraft zu tanken und weil es ihr leicht schwindelig ist. Aus ihrer Rocktasche holt sie ein zerknülltes Taschentuch und wischt sich damit über das Gesicht.
Wenn nur diese Hitze endlich vorüber wäre, denkt sie. Jedes Jahr wurde sie schlimmer und es fiel der alten Frau immer schwerer, sie zu ertragen.
Sie denkt an ihren Enkel Michael, der am frühen Morgen angerufen und sie zum wiederholten Male bedrängt hatte, doch endlich zu ihm und seiner Familie zu ziehen. Dann wäre sie auch nicht mehr so allein und ein schönes, großes Zimmer würde sie bekommen. Er besitzt ein Haus, vollständig abisoliert, sodass selbst bei drückender Hitze eine angenehme Temperatur im Innern herrscht. Dazu noch einen Garten mit Teich, Blumen und Bäumen, die reichlich Schatten spenden. Dort könnte sie in aller Ruhe ihren Lebensabend im Kreise ihrer Lieben verbringen. Aber Michael wohnt weit über hundert Kilometer entfernt.
Fast siebzig Jahre lebt die alte Frau nun schon hier in diesem idyllischen Ort, in dem es trotz längerer Regenpause noch niemals an Wasser mangelte. Ausgetrocknete Brunnen sind ihr fremd.
Sie kennt hier jedes Haus, jeden Stein. Die Menschen sind ihr so vertraut und sie weiß um deren Sorgen und Nöte. Freud und Leid hatte sie in vielen glücklichen Ehejahren mit ihrem Herbert geteilt. Als ihr einziges Kind, eine Tochter, im Kindbett starb, schenkten sie dem Enkel Michael ihre ganze Liebe. Vor fünf Jahren war Herbert von ihr gegangen und seitdem ist kaum ein Tag verstrichen, an dem sie nicht sein Grab aufsucht, bei Bedarf frische Blumen pflanzt, gießt und ihm all die großen und kleinen Neuigkeiten von der Familie oder aus dem Dorf erzählt. Von hier fortziehen? Nein, das bringt die alte Frau nicht übers Herz. Einen alten Baum zu verpflanzen hieße, ihn zu fällen.
Die alte Frau richtet ihren Blick plötzlich gen Himmel und sieht in der Ferne dunkle Wolken heranziehen.
Freuen kann sie sich nicht darüber, denn schon viel zu oft in letzter Zeit sah es aus, als wolle es endlich regnen, doch nichts dergleichen geschah. So würde es auch diesmal wieder sein, vermutet sie.
Endlich erreicht sie den Friedhof und öffnet das Eisentor. Es quietscht in seinen Angeln, doch sie stört sich nicht daran, längst ist ihr dieses Geräusch zur Vertrautheit geworden. Langsam geht sie die schmalen Reihen zwischen den Gräbern hindurch. Da auch hier nicht mehr gegossen werden darf und kann, weil selbst diese Brunnen versiegt sind, ist außer ihr niemand zu sehen. Dann steht sie vor Herberts Grab. Die Erde ist zwar ausgetrocknet, aber die Blumen sind, Dank eines Schattenspendenden Baumes, noch gut erhalten.
Aus dem Stoffbeutel holt die Alte jetzt eine Flasche des kostbaren Wassers und beginnt, liebevoll die Blumen zu begießen, bis auch der letzte Tropfen die Erde berührt. Sie tut dies, als gäbe es für sie keine schönere Aufgabe mehr. Zuletzt zupft sie ein paar welke Blüten ab und steckt sie in ihre Stofftasche.
„Mein Herbert“, sagt sie mit zittriger Stimme, ihre Mundhöhle ist genauso ausgetrocknet, wie ihr ganzer Körper, „der Junge meint es gut, wenn er mich bittet, zu ihm zu ziehen. Doch ich gehöre hierher, zu dir. Wenn es doch nur endlich regnen würde. Überall im Land ist das Wasser knapp und ich spare schon, damit ich dir immer etwas davon mitbringen kann. Die Hitze ist so unerträglich.“ Die alte Frau muss plötzlich husten und sie bekommt einen Schwindelanfall. Sie sinkt langsam neben Herberts Grab nieder und ein Lächeln umspielt ihre spröden, blassen Lippen….
In dem Augenblick, als die ersten dicken, heißersehnten Regentropfen den ausgetrockneten Boden berühren, schließt die Greisin wie erlösend die Augen.