Angelika Röhrig
März-Fragmente
Es geht dir nicht gut. Auf
deinem inneren Acker sind die Furchen aufgebrochen. Du spürst die Jahreszeiten
im Blut - wieder ein neues Beginnen - zwischen den braunen Schollen sammeln
sich Krähen. Worauf warten sie?
Fern vom Fluss nähern sich Möwen, denn es wird schon gesät.
Du bist lustlos, hast schon so viele Jahre hinter dich gebracht, bist jedem
Frühling mit offenen Armen entgegen gelaufen.
Vor deinem inneren Augen gräbt sich eine Grube in den Acker. Was wird sterben,
fragst du dich, und was wird neu geboren?
*
Der Tod trat mir entgegen. Auf dem braunen Acker des jungen Frühlings vernahm
ich sein knöchernes Scheppern, hörte das Hohnlachen. Ich hätte ihn gerne
aufgehalten, doch er schritt einfach durch mich hindurch, ohne eine Spur zu
hinterlassen. Ich war nicht gemeint. Auf den inneren Bühnen gestalten sich
dramatische Szenarien, und makabre Tänze poltern übers Holz. In meinem Rücken,
hinter der Bühne mit den geschlossenen Vorhängen schlägt er eiskalt zu.
Auf verschlungenen Wegen traf ich eine Mutter, die um ihr Kind nicht mehr
weinte,
alle Tränen waren vergossen. Eine zierliche Frau vom Alter mir nah, wie eine
Schwester - sie, mir noch unbekannt, suchte sich festzuhalten an meinen Armen -
ganz vorsichtig und sensibel, als sei ich aus zerbrechlichem Porzellan. Dabei
war es sie, die gläsern ihre Trauer trug unter der dünnen Haut.
Vielleicht, um über das Berühren zu verstehen, was noch unfassbar ist.
Vielleicht um sich selbst in mir zu halten. Dieser Zustand, wenn man keine
Tränen mehr hat und doch noch längst nicht begreift, muss wie das Fegefeuer
sein:
ein Hängen zwischen Himmel und Hölle.
An trockene Schluchzer aus traurigen Träumen denke ich und den Schmerz, den sie
körperlich verursachen, weil ein Gleitmittel fehlt und sich alles wund reibt.
Und, wie schmerzhaft es war - damals, als ich dich aufgeben musste, alle Tränen
längst vergossen waren, und ich immer noch liebte und nicht wusste, wohin mit
dieser Liebe und der Sehnsucht nach Nähe, Umarmung und Kuss.
Noch frage ich mich, wie kann ich Schmerz und Trauer beschreiben mit Worten,
die doch nach Gesten verlangen, die halten und trösten sollen, jene Zeichen
eben, die hinter den Worten liegen.
Es muss möglich sein:
*
Immer, nicht nur in diesen Tagen, trage ich meine persönliche Karwoche mit mir
herum. Innere Gräber sind zu betrauern, bevor sich unter den Erdschichten neues
Leben regen kann, damit sich zu Ostern
das Versprechen von Wachstum durch zunehmende Wärme und Licht erfüllt.
Bevor etwas wächst braucht es Tränen und Regen, damit die Verhärtungen in Boden
und Seele aufweichen können.
Ich schaue zum Fenster hinaus. Allmählich legt sich der Regen und es wird
heller.
*
Vor mir auf der Verkaufstheke liegen Stoffbahnen. Sie changieren in den Farben
des Meeres und schimmern wie chinesische Seide. Ich möchte das Tuch mit meinen
Händen berühren und mein Gesicht darin verbergen, seine Glätte auf meiner Haut
spüren. Ein Duft hängt darin, der mich an wohltuende Pflanzen erinnert, die
bizarr im Wind schaukeln. Ich schließe die Augen und drapiere das Tuch in
Gedanken um eine weibliche Figur. Wie der Stoff fällt und sein Faltenwurf sich
bauscht, sehe mich schließlich selbst in diesem Gewand um mich herum drehen.
Wie ein Karussell schwingt das ungemein leichte Gebilde, gibt jeder Bewegung
einen zusätzlichen Kick. Ein Kleid zum Verlieben, gemacht für warme Sommernächte
unter südlichen Himmeln. Ich werde Silber und Perlmutt dazu kombinieren und die
langen dunklen Haare mit den rötlichen Strähnen offen und ungebändigt tragen.
Ich höre Musik, die zum Tanzen einlädt, sehe kleine bunte Lichter unter dem
Abendhimmel in den Bäumen schaukeln.
*
Was tut am Ostersonntag ein weißes Reh in einem braunen Rudel, mitten im Schnee
in dem Schlosspark einer weißen Stadt, deren Schloss nicht mehr steht, die leer
wirkt und unbewohnt? Wie ein Museum, dass man betreten kann und dessen
Schönheit einem fast den Atem verschlägt? Diese Harmonie der Architektur - fast
- ein Hauch zu schön! Selbst die riesige astronomische Uhr im Garten des
Uhrenmuseums steht still. Ihre Figuren mit den Engelflügeln hinter gläsernen
Wänden erstarrten in der Bewegung. Nur die alten Bäume in ihrer Vielfalt
scheinen der Erstarrung zu widersprechen.
Was tut eine Nebelkrähe zwischen den Möwen an einem Sandstrand, an dem
bilderbuchblaue Wellen mit lichtweißen Schaumkronen den Sand überspülen und
abgerissene Muschelstränge - ein Meer aus perlweiß - zurück lassen, während am
babyblauen Himmel weiße Schäfchenwolken ihre Segel blähen und an der
Strandpromenade weiße Häuser mit hölzernem Zuckerwerk an Balkonen, Fenstern und
Giebeln von oben zuschauen, als sei das Meer der Lieblingsspielplatz, auf dem
sich das Leben im Kleinen lebt, und scheinbar heiter darüber wachen, dass der
Kreislauf von Leben und Vergehen nicht unterbrochen wird.
Zwillinge in bunten Plastiklatzhosen und gelben Gummistiefeln, die gerade eine
Sandburg gebaut und mit Vater Kanäle angelegt haben, wehren sich mit Händen und
Füßen, weil es nach Hause geht, während ein fröhlicher Wolfspitz mit
intelligenten Augen - am liebsten hätte ich ihn geklaut - aufgeweckt zum
Frauchen rennt, und sich anleinen lässt.
Ein Junge bekommt nasse Füße, doch er merkt es nicht, so versonnen schaut er in
die Wellen.
Fast wäre am Abend die Sonne als roter Ball im Meer versunken, aber ein paar
Wolken verzerrten die perfekte Sicht.
Und die Nebelkrähe verrät sich durch ihr KrahKrah. Die Möwen allerdings
ignorieren sie. Sie suchen weiter nach bewohnten Muscheln, und der Rabenvogel
kopierte ihr Verhalten exakt.
*
Es sind viele Stufen - breit, verziert, flach - gewendelt hinauf in den Turm,
ein Schneckenhausturm, von unten hinauf geschaut, eine Spirale ins Unendliche.
Zwischendurch Flure mit runden Nischen an den Ecken. Es ist zauberhaft, denn
hinter den hohen Fenstern wirbeln Schneeflocken. Wo ich stehe, fühlte ich mich
fern von allem und erhaben über alltägliches Gedankengut.
Auch ein wenig einsam, nicht jetzt im Augenblick, den ich nicht teilen mag,
sondern in der Vorstellung, wie es sei, hier zu leben.
Eben noch war der Himmel blau und eine kühle Sonne warf ihr Licht auf das rosa
Schloss mit den vier Ecktürmen - ließ es erstrahlen.
Jenseits des Platzes wird der Wald weiß wie die Buschwindröschen, die sich
heute hier und da aus der Erde heraus getraut haben. Hohe Baumstämme
verschwammen im Dunst, wirkten wie schmale tragende Säulen des Himmels, denn
die Zweige sieht man nicht mehr. Unterwegs im Schloss finde ich Bilder von
Künstlern der Romantik, lese Texte und Biographisches.
Auf dem Heimweg wieder aufklarender Himmel in blauer Streifenpracht mit weißen
Wolkenschiffen, die dem Horizont entgegen strebten und sich während ihrer Reise
auflösen, dazu das Gold der sinkenden Sonne, die sich in den trockenen Gräsern
fängt und im Wasser spiegelt. Alleenbäume schneiden Gesichter, scheinen
miteinander zu sprechen, sich im Tanz zu berühren, sich mit unzähligen
filigranen Ausstülpungen ineinander zu verflechten.
Ich wünsche mir einen Aquarellkasten herbei, der all diese Blaus; die Jade -und
Grautöne; das Silber und dieses besonders matte warme Gold enthält. Ich will
eine geometrische Landschaft aus Blau und Grün malen, in die tropfenförmige
Goldpunkte fallen. Den Rand will ich mit Winterbaumspitze einfassen.
Eine ganze Symphonie aus Klängen steckt in dieser Farbkomposition.
Und dann - viel viel später - will ich den Bäumen die Worte entlocken. Noch
säuselt es nur, aber ich werde meine Ohren spitzen.
*
Wen sahest du hinter den Wolken, während die Bäume dir ein Lied sangen?
Es war der Wind. Er trug die Form eines pausbäckigen Engels, der auf der Stirn
die tiefen Furchen der unablässig Denkenden trug. Du spürtest nur seinen
unendlich sanften Flügelschlag, als warte er ab. Nichts brauste, denn der Tag
war himmelblau und golddurchwirkt, und im Wasser spielten die Möwen. Die Wellen
mit ihren Meerschaumspitzen wogten neugierig in den Sand.
Fast konnte man meinen, dass sie sich im Takt mit dem Lied der Bäume bewegten -
wie die weißen Wolken, die dem Horizont zu strebten, sich zu Rauch
verflüchtigten und in den Himmeln verloren.
@angelika röhrig
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2008.
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