Josef G. Broßmann

Die Rolle

Sie sehen sich in der engen Wohnung eines Studentenpaares. Jeweils mit anderen Begleitern gekommen, su-
chen sie das gemeinsame Gespräch. Er meint, dass es ihm Spaß machen könne, mit ihr Rollentexte zu lernen. Ei-ne Rolle braucht sie gleich nächste Woche und so verabreden sie ein Treffen für übermorgen. An diesem Abend kehren sie mit denen heim, mit denen sie gekommen waren.
 
'Ein seltsamer Typ', denkt sie, 'ob der so bleibt: zuneigend und zurückhaltend zugleich?' Sie hatte es schon ein-mal mit einer dieser Studentenfiguren probiert, doch wurde der schnell zudringlich und wollte nur noch knut-schen. '... und womöglich mehr!' ergänzt sie gallig in Gedanken, 'na, wir werden ja sehen!'
 
Am anderen Morgen fällt die letzte Vorlesung für diesen Tag aus. Draußen, an der Haltestelle, kommt ein Thea-
terbus vorbei. Es ist nicht seine Linie, doch steigt er kurz entschlossen ein. Vor dem großen Freiplatz mit Glasbau verlässt er ihn wieder. Allmählich findet er sich darin zurecht. "Öffentliche Probe "Der gute Mensch... u.a." steht auf dem Wegweiser. Im großen Rund des Parterres verlieren sich die paar Zuschauer hinter der ausgebauten Regiestellung weit vorne.
 
Er will aber trotzdem von niemanden gesehen werden, weshalb er einen Klappstuhl nimmt und sich am Rand in
eine dunkle Ecke setzt. Zufrieden stellt er fest, dass sie auf der Bühne agiert. 'Diesen Text kann sie ja bereits!' stellt er beruhigt fest, 'wenngleich die Regie noch mächtig an ihr auszusetzen hat.' Um eins ist Schluss und der Paladin des Regisseurs erinnert die Gruppe auf der großen, öden Bühnenfläche noch schnarrend daran "nächs-tens ist die Stuart dran! Bitte nicht vergessen und dran denken!" Artig stellt er das klapprige Stühlchen zurück und huscht aus einem Seiteneingang. -
 
"Ey! Du kennst wohl unseren Regisseur!?" ist sie verblüfft, als er ihr schon in den ersten Aufzügen darstellerisch
etwas vormacht. Sie hat sich entschlossen, ihm diesmal ein bisschen taktil entgegen zu kommen. Zögernd, ja geradezu schüchtern, geht er darauf ein. In manchen Szenen gerät er aber richtig aus dem Häuschen, lebt im Stück und reißt sie quasi mit. So, wie er es tut, könnte es auch vom großen Dirigenten am Regiepult stammen und es macht ihr bald Spaß, mit diesem Studenten hier zu lernen.
 
Um zwei Uhr nachmittags hatten sie begonnen. Als sie sich abends um elf neben ihn setzt und sich ein wenig  
an ihn drängt, spürt sie Unbekanntes in ihm: Erregen wie in großem Glück. Zögernd zart legt er den Arm um sie, 
was sie erleichtert denken lässt, 'na, aus Holz ist er glücklicherweise nicht!' Nach der zweiten Tasse ergibt sich ein scheuen Kuss und dann der Abschied. Dem jungen Mann bleibt draußen die Freude auf ein Wiedersehen in
drei Tagen.
 
Am Ende der Lernzeit schmusen er und sie ein wenig. Es fasziniert sie, wie "himmelhoch jauchzend" dieser uner-
fahrene Junge da doch sein kann. Das Erstaunlichste aber ist, dass sie ihre Rolle "drin" hat! Ja, es ist nicht nur die, sondern das ganze Drumherum. Ob dies auch so richtig ist, wird die Stellprobe zeigen. Allmählich gefällt ihr auch die spröde Zärtlichkeit, mit der er sie als Frau anfasst. Bevor nicht die Stellprobe vorbei ist, bestimmt sie kein Treffen mehr mit ihm.
 
Dies ist mittwochs der Fall. Schon nach dem zweiten Einsatz merkt sie, dass sie den Zettelsalat, den sie da in  
den Händen hält, gar nicht mehr braucht. Forsch gestaltet sie ihre Sprache und beginnt verhalten, sich zu bewe-gen. "Sagen Sie mal, Frau Klemperer! Es ist doch unmöglich, dass Sie ihre Rolle schon irgendwo gegegeben ha-ben können. Woher kennen Sie sie denn dann so gut?" will die Regieassistenz aus dem Untergrund wissen. Blut schießt der Angesprochenen in die Wangen und sie beißt sich auf die Lippen. Nein, sie verrät sich jetzt nicht, wo die anderen schon dumpf kucken.
 
Nachmittags verabredet sie sich mit ihrem Rollenlerner. Sie lebt richtig auf, als sie ihm dann "heimgeigen" kann.  
Gerade weil er die Intentionen ihrer Regie so gut vermittelt hat, ist sie geradezu böse auf ihn, dass er ihr ganz falsche "eingeimpft" habe. Diese falschen Direktiven entspringen freilich der eigenen weiblichen Phantasie. Da lernt sie diesen Buben als Chamäleon kennen, denn er springt voll auf diese neuen Anweisungen an und dut-zende Male damit ins Fettnäpfchen.
 
Geduldig feilt er mit ihr an der Rolle, worüber es Mitternacht wird. Zum Schmusen hat sie nun aber gar keine Lust mehr. Es scheint ihm nichts auszumachen, denn er ist ohnehin über jede Berührung mit ihr dankbar. Zu einem weiteren Treffen kommt es vor der Premiere nicht mehr: er hat Semesterferien, in denen er sich operieren las-sen muss: nichts Ernstes! Sie verspricht, ihn zu besuchen.
 
Allein, in den zehn Tagen seines Bleibens im Krankenhaus sehen sie sich nie. Ist es Enttäuschung, die ihn da-
nach ins Lernen versinken lässt? Kühl und korrekt besteht er vor Vorlesungsbeginn zwei Klausuren. Am Premie-
renabend ergattert er eine Karte im ersten Rang und kann seiner Liebsten schier ins Decolletée schauen.
 
An diesem Abend spielt sie brillant! Er meint zu spüren, dass die vielen Vorhänge danach nicht der Hauptdarstel-
lerin gelten sondern ihr, die er so mag. Beide Frauen erscheinen aber regelmäßig, 'damit der Erfolg wohl sozialis-tisch verteilt werde', wie er gehässig denkt. Schließlich aber ebben Bravorufe und Applaus doch ab, die Premie-renbesucher erheben und verlaufen sich.
 
Er weiß inzwischen, wo sich das Theatervölkchen abends trifft und steuert dieses Lokal an. Unschwer kann er sich dort darunter mischen und kommt so ins entsprechende Nebenzimmer. Da kommt sie auf ihn zugeschwebt.
Der hinterhältige Graf aus dem Stück eilt auf sie zu, reißt sie in der Taille herum, an sich und küsst sie mit wahn-sinniger Leidenschaft. Gierig und doch wie beiläufig greift er die Frau dabei ab.
 
Als die dann wieder auf den Rollenpaukerstuhl blicken kann, ist der leer. - - -

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.04.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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