Angelika Röhrig
Unter Glas (Fragmente)
1.
Früh dämmerte mir, dass der Tag besonderes verbarg. Im Morgenrot lag ein
Versprechen: Ich wusste, dass es noch unter den Nebeln wartete. Etwas in mir
witterte aufmerksam und kleine Fischlein schwänzelten im Bauch. Da war doch
was. Es duftete nach Moos und Algen, meine Augen wollten sich noch nicht
öffnen. Ich fühlte eine besondere Feuchtigkeit unter meinen Fingerspitzen -
etwas Schuppigraues, Widerspenstiges glitt an den Händen vorbei, als sei es ein
ungeduldiges Tier. Ich ließ es geschehen ohne Angst. Der weg nach innen war
leicht und die Grenzen um mich herum fielen. Im Dämmerschlaf tauchte vor dem
inneren Auge ein Schlüssel auf.
Ich entspannte und dachte, dass ich die Schatulle finden müsse und fragte mich:
"Wo bin ich?
Schlafe ich nicht gerade in einem luftgefüllten Aquarium mitten im Ozean?"
2.
Es geschah zwischen den Zeiten.
Für einen Moment öffnete der Himmel seine Schleier - ein wie von Geisterhand
entzündetes Leuchten ging durch die Welt und flammte schräg von unten Licht in
jedes Blatt der halbentkleideten Bäume. Sie gaben viel von sich preis - von
ihrer Struktur, der Architektur und den Wachstumsringen. Zart zitterten
Blattfunken im auffrischenden Wind. Manche nahm er mit und trug sie zu mir, die
am Fenster stand und die Zeit vergessen hatte. Auf der Fensterbank strahlten
nun Sterne mitten in der großen Stadt.
In diesem Moment sah ich zwischen dem versetzten Heben und Senken der
Augenlider deine Maske fallen - in der ungeschminkten Nacktheit lag die
Zerbrechlichkeit von Glas - etwas wie Erbarmen wuchs unter meiner fröstelnden
Haut. So nahm ich den Nebel aus den Wäldern und legte ihn um deine
schutzsuchenden Schultern. Dein Kinn lag auf der Brust. Da nahm ich meinen Mut
zusammen - denn du warst mir fremd - und ich hob sanft und mit der Zärtlichkeit
von Müttern dein Kinn, wollte in deine Augen schauen und das Spiegeln des
Lichtes darin entdecken. Du schautest ernst. Ich wich nicht aus. So standen wir
nah beieinander, und nach einer Ewigkeit - so kam es mir vor - lächelten meine
Lippen dir zu. Zwischen den Augenpaaren vermischten sich die Feuer. Es wurde
warm, als wir die Scheu verloren.
3.
Etwas klirrte - zersplitterndes Glas, während ich am Fenster stand und in die
Dunkelheit blickte. Gerade eben waren im alten Viertel die Lichter erloschen.
Vor Auschwitz und Birkenau lebten hier die Juden der Stadt. Manchmal noch höre
ich den Nachhall eines Stöhnens und das Echo ihrer Musik. Ich erinnere den
muffigen Geruch feuchter Räume, in denen viele Menschen leben. Im Bodenbelag
der alten Straßen erinnern Stolpersteine an jene, die man vergaste.
Eine liebestrunkene Katze fiel mit herzerweichendem Klagen in das Klirren ein,
fern von hier bebte der Transfair. Das Blut rauschte mir in den Ohren, als sei
ich auf einer fernen Insel mitten im Meer. War nicht jeder eine Insel im großen
Ozean? Mit eigenen Worten, über die eine innere Königin das Zepter schwingt?
Wortreiche Gestade, aus denen die Zeilen mit den Wellen versendet werden, um
sich zu treffen in Neptuns Reich. Wie sie sich fruchtbar mischen mit Algen und
Muscheln am Meeresgrund. Lauscht der poetischen Brandung - dem Auf und Ab von
Ebbe und Flut - meine wortgewandten Schwestern. Und wenn es Nacht wird über
unseren Reichen, lasst unsere Worte wie ein Feuerwerk sprühen und Licht sein
für jene, die strandeten am Ende der Welt. Vergesst auch die nicht, die für
ihre Sprache geopfert wurden.
Was war es, das zersplitterte jenseits der Zeit - zwischen Nacht und Morgen?
Der Riss zog sich von Ost nach West und kreuzte mit einem Kondensstreifen von
Nord nach Süd. Genau an diesem Kreuzpunkt kräuselte sich das Glas zur Blüte.
Ein Schlüsselloch zum Himmel? Es fröstelt mich unter dem plötzlichen Zug, der
meinen Nacken berührt: ich sehe die alten Feuer lodern. Der Geruch von
verbrannter Haut streift meine Nase.
4.
Ich erwache mitten in der Nacht von der Stille, die plötzlich da ist. Im
Aufwachen vernehme ich diesen besondern Geruch, der von frisch gefallenen
Schnee ausströmt. Noch bevor ich zum Fenster hinaus schaue, weiß ich: "Es
hat geschneit." Eine kindliche Freude regte sich in mir und doch fragte
ich mich: Ob die Spuren im Schnee sich im Gestern verliefen, oder der Schnee
von gestern im Matsch der vergangenen Tage alle Worte und Lieder verschluckte.
Wo waren alle Töne und Klänge jetzt in dieser watteweichen Verpackung, die auch
alle Farben verschluckt?
In die Wolken zeichnen Vögel ihre Spuren, und im Schatten ihrer daunenleichten
Federn fängt sich Wärme. Aufwind für Ziele fernab.
So trete ich vom Fenster zurück, verkrieche mich in mein warmes Bett und ziehe
das Bettlaken bis zum Kinn. Ich fühle mich geborgen wie eine Narzissenzwiebel,
der genug Zeit bleibt, um unter der Erde ihr verlangsamtes Wachstum zu verträumen.
Bis du mich weckst mit dem Morgencafe - Schichtwechsel!
5.
Die Nacht hat sich hinter die Bergen verzogen. Vom Meer her nähert sich die
Flut. Im Hafen gesellen sich Fischerboote zu dem einzelnen Boot im Bild. Der
städtische Moloch erwacht aus der miefigen Ungelüftetheit leichtlebiger
Tavernenspiele. Letzte Abenteurer der Dunkelheit wanken in ihre
brettervernagelten Unterschlüpfe, während brave Bürger sich sputen.
Die giftigen Ausdünstungen gelber Schwefelwolken legen sich über die Stadt wie
eine Glocke aus Glas. Im Treibhausklima gedeihen Nachtschattengewächse und
menschliche Exzesse. Am Fenster steht Olga. Sie zieht sich eine Haube über die
Lockenwickler und steckt Ohropax in die Ohren. Schichtwechsel, denn die Nacht
war lang. Hinter der Theke gab es Krawall. Die Polizei war da und schloss den
Laden. Man munkelt von Mafia und Drogengeschäften. In der Nähe stirbt ein
junger Mann in seinem Unterschlupf. Der goldene Schuss trifft ihn vorbereitet.
Sein Dealer besorgte den richtigen Stoff.
Nachbars Katze miaut, verlangt nach einem Schälchen Milch. In den Gassen hört
man die ersten Stimmen der Händler. Die kleine Lisa erwacht und nuckelt am
Daumen bis ihr langweilig wird und sie nach der Brust verlangt. Das
Babygeschrei weckt die ganze Straße und stoppt erst, als die Mutter herbei eilt
und das Kind in die Arme nimmt.
Olga schließt die Fensterläden und sperrt den beginnenden Tag aus. Zum
Zähneputzen reicht ihre Kraft nicht mehr.
@angelika röhrig
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2008.
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