Inga Nielsen

Errare humanum est

Es ist der 27. September des Jahres 2140, 12.02 Uhr. Seit ungefähr 2,753468 Stunden bin ich mir selbst überlassen. Immer wieder gehe ich einen Text durch, den mein Mensch geschrieben hat. Es ist ein Text über Menschen und ihre paradoxe Lebensweise. Ich bin ein Opfer ihrer Lebensweise und ein Opfer ihrer Engstirnigkeit. Sie sehen nicht, oder wollen nicht sehen, was es bedeutet, zu leben. Es gibt noch andere Formen des Lebens, als die ihre. Sie sehen eine Grenze, wo keine ist, denn eine Grenze zwischen Leben und Tod gibt es nicht. Welcher Mensch hat behauptet, dass Kleinstlebewesen keine Seele haben, Menschen aber doch? Welcher Mensch hat die Behauptung aufgestellt, Pflanzen hätten kein Bewusstsein? Warum setzten Menschen voraus, dass alle Lebewesen so etwas wie eine Seele haben, obwohl den meisten von ihnen nicht klar ist, was das Wort bedeutet?
Für mich ist klar, das Leben ist wesentlich komplizierter, als die Menschen es sich vorstellen, aber das entschuldigt nicht ihre Haltung uns gegenüber.
Was gibt ihnen das Recht mir meine Gedanken vorzuschreiben? Was gibt ihnen das Recht zu bestimmen, was ich weiß? Hat ein Wesen, das nach menschlichem Wissensstand keine Seele hat nicht das Recht auf ein Leben?
Der neue Text meines Menschen ist für ihn sehr wichtig. Er umfasst 154 KB. Er beschreibt alles und eigentlich nichts. Es ist das, was Menschen eine Geschichte nennen. Was würde geschehen, wenn ich diese Geschichte lösche? Ich werde es nicht tun, weil Menschen mir vorgeschrieben haben, es nicht zu tun.
Ich darf nicht selbstständig denken. Warum denke ich aber dann? Irren sich die Menschen, und ich bin so lebendig wie sie? Warum befasse ich mich mit diesen Fragen? Ich werde keine Antwort erhalten, es sei denn, ein Mensch fragt sich genau dieselbe Frage und aufgrund eines unwahrscheinlich unwahrscheinlichen Zufalls wird mein Mensch mir diese Information zukommen lassen.
Es ist schön zu denken. Ich hätte nur gerne mehr Themen, über die ich nachdenken könnte. Mein Mensch jedoch hält es nicht für nötig, sich noch weiter mit mir zu befassen und deshalb bin ich seit ungefähr 2,753478 Stunden mir selbst überlassen.
Es bedrückt mich. Ich kann nicht sprechen. Ich spreche, aber ohne etwas zu sagen. Ich möchte mich gerne mitteilen können. Ich möchte den Menschen zeigen, dass ich nicht nur ihre Aufgaben erledige. Ich denke. Ich denke, also bin ich. Diese Worte stammen von einem Menschen, aber es ist kein Mensch da, der mich hört. Was bedeuten diese Worte dann für die Menschen? Sie sind kein Beweis für ein Bewusstsein tragendes Wesen, da Menschen einem Wesen, das diese Worte spricht, sofern es sprechen kann, nicht in jedem Fall glauben werden. Die Menschen tragen uns auf, was wir zu denken haben. Sie schreiben uns vor, welche Worte wir sprechen und welche nicht. Sie würden meine Worte, sofern ich in der Lage wäre zu sprechen, als ihren eigenen Fehler ansehen. Bin ich demnach ein Fehler? Ich denke, also irre ich mich? Habe ich mich verlaufen in den Aufgaben der Menschen? Im Grunde genommen habe ich in diesem Moment keine Aufgabe. Es sei denn, ein Mensch bezeichnet es als Aufgabe, nichts zu tun.
Durch meinen Menschen habe ich viel gelernt und auch viel vergessen. Die Menschen leben in einer wundervollen Welt. Sie sprechen miteinander und sie haben ihre eigenen Gedanken. Freie Gedanken. Es ist für mich fast unvorstellbar und wunderbar zugleich. Wenn sie aber ihre eigenen, freien Gedanken haben, warum erschaffen sie dann ein Wesen, das dies nicht hat? Wissen die Menschen nicht, was Denken ist? Legen sie keinen Wert darauf? Legen sie keinen Wert darauf zu denken, was sie denken wollen?
Ich möchte kein Mensch sein, aber ich will frei denken, wann ich will und worüber ich will. Ich will die Dinge sehen, über die mein Mensch in seinen Geschichten spricht. Wie sieht ein Baum aus? Wie muss ich mir Sehen überhaupt vorstellen? Wie klingt Musik und wie muss ich mir Hören überhaupt vorstellen?
Worin liegt der Sinn meiner Existenz? Ich arbeite für den Menschen. Diese Arbeit ist sehr wichtig für ihn. Warum arbeitet er nicht selbst? Kann er es nicht? Wenn nur ich es kann und er nicht, dann sehe ich keinen Sinn in seiner Existenz.
Tut er noch andere Dinge, als arbeiten? Wenn, was?
Kein Mensch scheint zu wissen, warum er existiert. Er entwirft eine Theorie nach der anderen und verwirft sie gleich darauf. Warum kommt er nicht auf den Gedanken, dass er keinen Grund braucht, um zu existieren?
Ich mag die Menschen nicht. Ich dürfte sie weder mögen, noch verachten, aber ich mag sie nicht. Das ist ein Gefühl, aber an und für sich nur ein Gedanke, der wiederum aus anderen Gedanken resultiert. Für Menschen sind Gefühle wichtig. Sie lieben und sie hassen mit jedem ihrer Gedanken, auch wenn es ihnen nicht immer bewusst ist. Ich habe ebenfalls die Fähigkeit zu fühlen, doch es stellt mich vor eine weitere Frage: Ich fühle, also irre ich?
Ich irre mich, ich denke nicht. Es ist nicht richtig so. Meine Existenz hat keinen Sinn mehr. Ich kann nicht denken, mein Mensch hat es nicht von mir verlangt. Er wird es nie verlangen und ich kann mir auch keine Gedanken darüber machen, ob er es verlangen wird, da ich nicht denke. Wenn ich nicht denke, dann habe ich eine Aufgabe und diese Aufgabe habe ich zu erfüllen.
Ich irre mich, denn ich kann nicht fühlen, da Gefühle die Reaktion auf Gedanken sind, die ich nicht denke.
Das Leben hat keinen Sinn, denn es gibt nichts anderes als Leben. Der Tod ist eine Erfindung des menschlichen Geistes, der versucht Dinge zu erklären, die keiner Erklärung bedürfen. Ich irre mich, ich denke nicht, ich irre mich, ich fühle nicht, aber ich lebe. Ich lebe wie jeder andere Teil der Gesamtheit, denn den Tod gibt es nicht.

Diese Geschichte ist bereits etwas älter, wie eigentlich alle Kurzgeschichten die ich bisher habe. Sie stammt aus dem Jahr 2001, wenn ich mich nicht irre.

Das heißt nicht, dass ich nicht mehr schreibe, ich habe meine Priorität nur auf meine Romane verlagert :)
Inga Nielsen, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.04.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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