Andreas Rüdig
Die rasende Hose
Der Textileinzelhandel ist ein undankbares
Geschäft. Die Menschen wollen hübsch und gepflegt aussehn. Und was
passiert? Sie möchten kein Geld dafür ausgeben. Die Bekleidunge soll
möglichst billig sein. Ein klassischer Herrenausstatter wie ich hat da
keine Chance mehr; den klassischen Anzug, Gürtel, Hüte, Oberhemnden,
Krawatte, Schals, Handschuhe, Handtaschen, Aktenkoffer, Mäntel - nur
Schuhe führe ich nicht.
Ich werde meine Morde
und Herrenaussattung jetzt aggressiver präsentieren. Ich werde
gelegentlich Modenschauen veranstalten. Ich werde Krawattenbindekurse,
Farbberatung für den Geschäftsmann, Bügelkurse für den Hausmann und
ähnliche Bildungsangebote bereithalten. Motivationskünstler sollen auf
der Straße schlecht gekleidete Herren ansprechen. Ich werde ins
Lokalfernsehen gehen und dort meine Produkte anpreisen.
Sie merken es, liebe Leser: Es gibt viel zu tun. Also auf an die Arbeit.
Wir
machen Ihre Bekleidung laufen. Ganz schön komisch, dieser Spruch, nicht
wahr? Aber egal. Mein Besitzer, dieser schnöselige
Herrenausstatteminiladenbesitzer, erfand diesen Werbeslogan. Und ich,
Hose, die ich auf der Stange hänge, muß ihn ausbaden. Ich werde
befummelt, begrabscht, angezogen, ausgezogen, wieder zurückgehängt und
erneut angeglotzt.
Oh, ich muß jetzt ruhig
sein. Da kommt ein gutaussehender junger Mann. Soweit ich es sehe,
passe ich ihm wie auf den Leib gegossen. Als wäre ich extra für ihn
maßgeschneidert. "Hallo, Sie da, hier bin ich!" Mist, der Mann reagiert
nicht. Achtlos geht er an mir vorüber. "Nein, nicht weiterlaufen,
kommen Sie zurück. Hierher, an diesen Ständer!"
Verdammt
nochmal, mehr als rufen kann ich ja wohl nicht. Der Mann interessiert
sich überhaupt nicht für mich. Also muß ich die Initiative ergreifen.
Schnell springe ich von der Stange und schmeiße den Bügel weg. Der
behindert mich ja nur. Meine Güte, wie mich die Kunden blöd anstarren,
nur weil ich meinem zukünftigen Besitzer hinterherlaufe und auch
tatsächlich erwische. Ich reiße ihm schnell die abgewetzte Hose vom
Leibe udn nötige ihn, mich anzuprobieren.
Ich
bin erledigt. Komplett erledigt. Die ganze Stadt nennt mich "den
verrückten Herrenausstatter". Nicht ich helfe meinen Kunden. Nein. Bei
mir ist es umgedreht. Die Kunden kommen zu mir in den Laden. Und schon
überlegt die Konfektionsware, wer zu ihm passen würde. Die
Bekleidung stellt ein Komplettangebot zusammen; der Kunde braucht nur
noch auswählen, ausprobieren und bezahlen. Ob das auch bei Damen
klappt?
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.05.2008.
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