Joachim Güntzel

Lichtherz

 
*
Etwas war anders als sonst. Unmittelbar nach seiner Ankunft spürte er es. Es war wie ein leises aber beständiges Knistern der Luft, so als ob ein Gewitter lauernd um ihn herumschliche und nur auf den geeigneten Moment warte, ihn mit Blitz und Donner ins Zentrum der Hölle zu befördern. Es konnte kaum daran liegen, dass die alte Mühle einen düsteren, fast unheimlichen Eindruck machte, denn das hatte sie auch früher getan. Emanuel Mathies vermochte nicht zu sagen, ob die dunklen, windgepeitschten Wolken, die schon den ganzen Tag über die Husumer Bucht zogen, der Auslöser waren oder ob vielleicht seine eigene, bedrückte Stimmungslage ihm eine derartig beängstigende Veränderung seiner Außenwelt vorgaukelte. Doch was auch immer der Grund dafür sein mochte, er fand keinen anderen Begriff als diesen: Die alte Mühle am Husumer Mühlendamm wirkte gefährlich.
 
Vor vielen Jahren, mit etwa siebzehn, hatte Mathies die Mühle zum ersten Mal gesehen. Damals war er zusammen mit seiner Freundin und deren Mutter auf dem Weg zu ihrer Urlaubsunterkunft, die noch etwa zweihundert Meter entfernt lag, hier vorbeigekommen und hatte einen Beutel mit Erbrochenem entsorgt. Sie hielten das verfallen wirkende Gebäude, das direkt an den parallel zur Osterhusumer Straße verlaufenden Bahngleisen lag, für unbewohnt. Nie wären sie auf den Gedanken gekommen, dass er die kommenden zwei Wochen in dieser Mühle verbringen sollte. Aus Platzmangel – vielleicht auch aus Gründen der Pietät – war er von den Verwandten seiner Freundin hier untergebracht worden und hatte ein kleines Zimmer im oberen Bereich des Hauses zugewiesen bekommen. Die als Kapitänszimmer bezeichnete Kammer war eng und niedrig gebaut; ein kleines Fenster, von dem aus man auf den Hof vor der Mühle sehen konnte, war die einzige Aussicht. Hier stand Mathies nun, fast dreißig Jahre später, blickte zu dem Fenster hinauf und fragte sich, ob er auch diesmal dort oben schlafen würde.
 

„Herr Mathies, wie schön Sie nach so langer Zeit wieder zu sehen!“

Frau Jespersen winkte ihm freudig zu, stieg die wenigen Stufen vor der Eingangstür herab und kam ihm entgegen. Die Witwe betrieb nach dem Tod ihres Mannes das Pensionsgeschäft alleine, nahm aber aus Altersgründen nur noch wenige und aus früheren Jahren bekannte Gäste auf.

„Frau Jespersen, Sie haben sich kein bisschen verändert!“

„Sie schmeicheln mir, Herr Kommissar“, sagte die ältere Dame und reichte Mathies die Hand.

„Sie wissen doch, als Polizeibeamter bin ich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen“, antwortete Mathies mit einem verschmitzten Lächeln.

„Und außerdem bin ich für Sie einfach Emanuel, darauf hatten wir uns doch schon vor Jahren geeinigt. Ich bin schließlich nicht dienstlich hier, sondern um abzuschalten.“ Frau Jespersen lächelte.

„Kommen Sie erst mal ins Haus, junger Mann. Ihren Koffer können Sie später hereinbringen. Eine Tasse Tee wird Ihnen jetzt sicher gut tun.“
 

Als sie zusammen ins Haus eintraten, warf Mathies einen schnellen Blick in Richtung des Kapitänszimmers. Es lag am Ende einer steilen Treppe, die ein Stück rechts der Eingangstür nach oben führte. Edith Jespersen, die seinen Blick offenbar registriert hatte, bemerkte:

„Dort oben werden Sie nicht schlafen. Das Zimmer ist schon seit längerem vermietet. Der Bruder meines verstorbenen Mannes wohnt jetzt dort, seit er… wie soll ich sagen… seit er nicht mehr für sich selbst sorgen kann. Man muss ein bisschen auf ihn aufpassen, wissen Sie. Aber nun mal immer rein in die gute Stube! Sie kennen ja noch den Weg, oder?“
 
Vom geräumigen, bis unter das offenen Eingangsbereich der Mühle gelangte man auf der gegenüberliegenden Seite zu einem mit frischen Blumen geschmückten Tischchen, das von zwei antiken Stühlen flankiert wurde. Ein Fenster eröffnete den Blick auf den hinter der Mühle liegenden, verwilderten Garten und die daran angrenzenden Wiesen. Auf der linken Seite des Tisches lag ein weiterer Übernachtungsraum, der zwei Personen Platz bot. Rechts neben dem Tisch ging es über vier Stufen in einen etwas tiefer gelegenen Raum, der als Frühstücksraum diente. Wenn Übernachtungsgäste im Haus waren, wurde hier morgens gedeckt. Doch heute war die Tür des Raumes geschlossen. Den hinteren, privaten Teil der Mühle erreichte man durch die einige Stufen höher liegende Tür, zu der man ein Stück hinter der zum Kapitänszimmer führenden Treppe gelangte. Dort, in ihrem Wohnzimmer, hatte Frau Jespersen alles für den Begrüßungstee vorbereitet und ging nun voraus. Emanuel Mathies folgte ihr und versuchte, möglichst sacht auf die knarrenden Holzdielen aufzutreten. Als er nochmals in Richtung des Kapitänszimmers schaute, sah er, dass die Tür einen Spalt breit geöffnet war. Der flüchtige Schatten, den er dahinter wahrnahm, konnte eine optische Täuschung gewesen sein, ein Lichteffekt, der von der Sonne verursacht wurde. Doch Mathies war bewusst, dass die Sonne an diesem Tag nicht schien.
 

*

„Tja, und so versuche ich eben seit dem Tod meines Mannes alles alleine zu bewältigen, so gut es gerade mal geht.“

Edith Jespersen schenkte ihm eine letzte Tasse Tee ein. Gute zwei Stunden saßen sie schon zusammen, draußen war es längst dunkel geworden, und Mathies wollte endlich seinen Koffer aus dem Auto holen, sich etwas frisch machen und sich dann auf dem Bett ausstrecken. Er wusste mittlerweile, dass er das Zimmer direkt gegenüber der Eingangstür beziehen würde. In gewisser Weise war ihm das Recht, denn so konnte er das Kapitänszimmer im Auge behalten. Es war ihm nur nicht ganz klar, warum er das überhaupt wollte. Geschah es aus einem sentimentalen Gefühl heraus oder aus einer Art Vorahnung? Er konnte es nicht sagen.

 

„Frau Jespersen…“ setzte Mathies an.

„Edith“, unterbrach ihn Frau Jespersen und machte Anstalten, ihm ein weiteres Glas des als Seehundsmilch bekannten Likörs einzuschenken, zu dem sie mittlerweile übergegangen waren.

„Edith, hob Mathies erneut an, „ich denke, für mich ist es Zeit. Ich möchte morgen nicht allzu spät aufstehen, um die Morgenluft am Hafen zu genießen. Gibt es eigentlich Tante Jenny´s noch?“

„Aber sicher doch, mein Junge. Wenn Sie hingehen, richten Sie bitte einen schönen Gruß von mir aus. Ich hab´ mich lange nicht mehr sehen lassen. Seit mein Mann nicht mehr lebt, habe ich mich wohl ziemlich vergraben. Na ja, und man wird wohl auch nicht geselliger, wenn man älter wird. Ich jedenfalls nicht. Aber es war immer nett dort. Herrgott, was haben wir gelacht, als mein Mann noch…“ Ihre tränenerstickte Stimme konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Mathies drückte eine Weile ihre Hand. Dann stand er auf.

„Kann ich Ihnen helfen, das Geschirr abzuräumen?“

„Lassen Sie mal, mein Junge, das hat bis morgen früh Zeit. Schlafen Sie gut. Frühstück gibt es ab acht Uhr im unteren Raum, Sie wissen ja.“

„Ja, Schlafen Sie auch gut und bis morgen.“

Damit ging Mathies nach draußen.

 

Trotz des freundlichen Empfangs durch Frau Jespersen umfing ihn eine dumpfe und drückende Gemütslage. Auf irgendeine unerklärliche Weise hatte er das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Doch es war nicht Edith Jespersen die ihm dieses Gefühl vermittelte. Obwohl es ihm absurd erschien und er fraglos am kommenden Morgen eine rationale Erklärung für seine momentane Verfassung finden würde, drängte sich ihm jetzt, bei Einbruch der Nacht und im Anblick des weiter oben liegenden Kapitänszimmers, eine andere Wahrnehmung auf: Es war die Mühle selbst. Die Mühle wollte nicht, dass er hier war. Sie wollte, dass er ging, besser jetzt als später. In einer Weise, die er nie verstandesmäßig in Worte würde kleiden können, spürte er, dass die Mühle etwas vorhatte. Und sie wollte nicht, dass er sie dabei störte.

 

Emanuel Mathies schlief unruhig in dieser Nacht. Er fühlte, dass er auf der Hut sein musste. Mehrmals wachte er auf, beim letzten Mal mit einem Schrei: Eine aschgraue knöcherne Hand war mit brutaler Kraft in seinen Brustkorb eingedrungen. Wie Messerspitzen durchdrangen die spitzen, stahlharten Finger seine Haut, zerfetzten Gewebe und Muskeln und bahnten sich einen Weg zwischen seinen Rippen hindurch zu ihrem Ziel. Fest umklammerten sie sein Herz und quetschen es, so dass die Blutzirkulation in seinem Körper zusammenzubrechen drohte. Schließlich schickten sie sich an, ihr grauenvolles Werk zu beenden und ihm das Herz bei lebendigem Leib herauszureißen. Er stöhnte und rang nach Atem. Er konnte fühlen, wie sein Widerstand gegen den Tod schwächer wurde, wie die Lebensenergie ihn zu verlassen begann. Sein Mund öffnete sich, langsam, fast wie in Zeitlupe. Dann – endlich – kam die Erlösung, der Schrei. Es dauerte eine gute Minute, bis er begriff, dass er lebte, dass es nur ein Alptraum gewesen war. Danach hatte er das Bedürfnis, sein Zimmer zu verlassen, um ein paar Schritte gehen zu können. Er öffnete die Tür und trat nach draußen. Zunächst glaubte er an eine optische Täuschung, denn er konnte sich den bläulichen Lichtschein, der den Eingangsbereich der Mühle zu erhellen schien, nicht erklären. Doch dann sah er nach oben in Richtung des Kapitänszimmers und sah die Quelle des Lichts. Das Kapitänszimmer hatte nicht nur ein Fenster zur Hofseite, sondern auch ein kleineres Fenster, mehr eine Luke, nach innen. Durch dieses Fenster sah Mathies das bläuliche Licht scheinen. Mehr noch als das Licht selbst irritierte ihn jedoch die Tatsache, dass es kein gleichmäßiger Lichtschein war, wie es etwa bei einer Lampe der Fall gewesen wäre. Das Licht pulsierte, so als würde es leben. Der rhythmische Wechsel zwischen kräftigem Aufleuchten und folgender Anschwächung war dabei nicht sanft und harmonisch, sondern energisch und kraftvoll. Der Gedanke war widersinnig, phantastisch, geradezu bizarr. Die beruflich bedingt Skepsis erlaubte es Emanuel Mathies, dem Kommissar der Tübinger Mordkommission nicht, ihn zu Ende zu denken. Doch instinktiv, tief in seinem Inneren, wusste er, was er da sah. Er wusste, was das Pulsieren des blauen Lichtes zu bedeuten hatte. Was er sah, war das Pochen eines Herzen.

 

*

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Frau Jespersen von seiner nächtlichen Beobachtung zu erzählen. Während des ganzen Frühstücks redete sie kaum mein Wort und vermied es, ihn anzusehen. Doch schließlich, als er schon fast fertig war und aufstehen wollte, brach sie das Schweigen.

„Ich möchte Ihnen von meinem Schwager erzählen“, begann sie.

„Ich höre Ihnen zu, antwortete Mathies und setzte sich wieder hin.

„Thorben war nicht immer so. Er fuhr früher zur See und strotzte vor Energie und Lebensfreude. Er war so lustig und hatte immer so aufregende Geschichten zu erzählen, wenn er von seinen Fahrten nach Hause kam.“

Frau Jespersens Blick war jetzt ganz abwesend, in eine für Mathies unsichtbare Ferne gerichtet.

„Doch eines Tages, nach einer Reise nach Indien, war er anders, wie ausgewechselt. Mürrisch und abweisend, beinahe feindselig. Er zog sich in das Zimmer oben zurück und kam bald nur noch zu den Mahlzeiten heraus. Man kann kaum mit reden.“ Edith Jespersen blickte auf ein kleines gerahmtes Bild, das neben einem größeren Bild von Herrn Jespersen auf dem Kaminsims stand.

„Ist er das?“ fragte Mathies.

„Ja. Das Bild ist etwa drei Jahre alt.“ Mathies blickte in ein freundlich, aber etwas verschlossen wirkendes Gesicht eines Mannes um die siebzig. Er trug eine Schiffermütze und einen weißen Schal.

 

„Meinen Sie, dass es an seiner Reise lag?“ fragte Mathies.

„Ja. Er hat etwas mitgebracht damals. Eine Kiste, eine große braune Kiste mit Eisenbeschlägen. Ich habe sie einmal gesehen, als ich oben saubermachen wollte. Seitdem verwehrt er mir den Zutritt.“

„Was befindet sich in der Kiste?“

„Das weiß niemand außer ihm selbst“, antwortete Edith Jespersen. „Und ehrlich gesagt: Ich möchte es auch gar nicht wissen.“

„Aber Sie glauben, dass es einen Zusammenhang mit dem blauen Licht gibt, das ich heute Nacht gesehen habe, nicht wahr?“

Frau Jespersen nickte schweigend.

„Damals, als ich zufällig die Kiste gesehen habe, sagte er mir, ich dürfe sie auf keinen Fall öffnen. Sie enthalte etwas Lebendiges, etwas Böses. Es locke Menschen an, die sich von seinem verführerischen Schein täuschen ließen, und nehme ihnen das Leben, um selbst leben zu können. Er… er nannte es… das Lichtherz… das Lichtherz der Mühle“

 

Emanuel Mathies spürte, wie ein Schauer seinen Rücken hinunter lief. Konnte das Pulsieren des Lichtes, das er gesehen hatte, tatsächlich dem Schlagen eines Herzen zuzuschreiben sein? Sein rational geschulter Verstand rebellierte zwar dagegen. Doch Mathies war nicht nur ein Kriminalist, sondern auch ein leidenschaftlicher Verehrer der griechisch-römischen Antike und ihrer Sagen, Mythen und Legenden. Und so wie er an der historischen Realität des trojanischen Krieges mitsamt seiner Helden nicht zweifelte und sich diesem realen Kern nahe fühlen wollte – was vielleicht der Grund dafür war, dass in seinem Bücherregal zu Hause eine kleine Büste des tragischen Helden Ajax stand, mit der er gelegentlich redete –, so zog ihn auch hier der reale Kern der nächtlichen Geschehnisse an. Was er nicht ahnen konnte, war, dass die Geschehnisse einen eigenen Weg einschlagen sollten. Und am Ende dieses Weges stand die Katastrophe.

 

Am Abend lag Mathies ruhig auf seinem Bett und wartete. Er wartete auf das Ende des Tages, den Beginn der Nacht. Er wartete auf etwas, das er nicht benennen konnte und dessen bedrohliche Anwesenheit er doch fühlte. Nahezu körperlich spürte er die rätselhafte Kraft, die von der Mühle auszugehen schien. Als er aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken, hörte er ein Geräusch. Doch es kam nicht aus dem Vorraum im Eingangsbereich der Mühle. Mathies ging zum Fenster und schob den Vorhang leicht zur Seite. Das Geräusch, das er gehört hatte, war von draußen gekommen, aus dem von Unkraut und Gebüsch überwucherten Garten, der zwischen der Mühle und den benachbarten Wiesen lag. Im schwachen Mondlicht konnte er in einiger Entfernung ein paar schlafende Kühe erkennen. Als sein Blick ein Stück nach links wanderte, sah er ihn. Der Anblick kam so unvermittelt und war so nah, dass Mathies etwas zurückzuckte und fast über einen Stuhl gestolpert wäre, der neben dem Fenster stand. Vielleicht fünf Meter von ihm entfernt stand ein Mann. Er war nicht sehr groß und offenbar schon älter, was Mathies aus seiner Körperhaltung und seinen etwas mühsam wirkenden Bewegungen schloss. Neben ihm auf dem Boden befand sich ein ziemlich großer Gegenstand, den Mathies für eine Kiste oder etwas Ähnliches hielt. Der Mann war damit beschäftigt, mit einem Spaten ein Loch in die Erde zu graben. Nach etwa dreißig Minuten, die Mathies schweigend hinter dem Vorhang stehend zubrachte, war das Loch groß genug geworden, um den Gegenstand darin zu vergraben.

 

Das Gesicht des Mannes konnte Mathies zunächst nicht erkennen. Da er ihm den Rücken zuwandte, erblickte er nur seinen langen, dunklen Mantel und seine zerzaust und ungepflegt wirkenden Haare. Doch als er die Kiste vergraben und die letzte Schaufel Erde auf die  gekippt hatte, drehte er sich zum Fenster um, hinter dem Mathies stand. Fast wünschte dieser sich, er könne aufhören zu atmen. Dann tat der Mann etwas, das Mathies tatsächlich für einen kurzen Moment den Atem verschlug: Er schaute ihn an. Der Blick des Mannes schien unmittelbar auf dem Gesicht von Mathies zu ruhen, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass er beobachtet wurde. Schweigend führte er seinen ausgestreckten Zeigefinger an die Lippen und bewegte schüttelte leicht seinen Kop hin und her. Mathies kannte diesen Mann. Er hatte ihn auf dem Bild gesehen, das auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand. Es war der Bruder von Edith Jespersens verstorbenem Mann.

 

*

„Sie wollen wirklich schon morgen wieder gehen?“ Frau Jespersen konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Doch Mathies hatte sich entschieden. Er wollte die Mühle so schnell wie möglich verlassen. Den heutigen Tag würde er noch in Husum verbringen und dabei versuchen, die Gedanken an die Mühle, an Thorben Jespersen und an die Kiste im Garten zu verdrängen.

„Es tut mir Leid, aber ich habe erfahren, dass ich in Tübingen dringend gebraucht werde. Manchmal macht einem eben die Pflicht einen Strich durch die Rechung….“ Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, sie anzuschwindeln. Er konnte ihr schlecht die Wahrheit sagen, denn schließlich musste sie hier weiterleben, in dieser Mühle und unter einem Dach mit ihrem eigenartigen Schwager.

 
 

Nach den beiden vergangenen Nächten war Mathies überrascht, dass er einen entspannten Tag verbrachte. Er schlenderte durch den Schlosspark, durchstreifte die Husumer Innenstadt, machte eine Pause in Tine´s Café und durchstöberte einen kleinen Trödelladen, dessen Angebot man seinem Namen entsprechend als Mischmasch bezeichnen konnte. Mit seinen beiden Töchtern, die inzwischen fünfzehn und dreizehn Jahre alt waren, hatte er nach der Trennung von seiner Frau zweimal einen Urlaub in Husum verbracht, und sie waren dabei gerne in diesen Laden gegangen. Mathies mochte diese Erinnerung sehr und würde so bald wie möglich versuchen, mit ihnen zusammen wieder hierher zu kommen.

Am frühen Abend machte er sich auf den Weg zurück zur Mühle. Er wollte seinen Koffer packen, früh zu Bett gehen und hoffte, dass die kommende Nacht ohne Zwischenfälle verlaufen würde. Doch die Mühle kam ihm zuvor. Sie war bereits dabei, ihren Plan zu vollenden.

 

Schon von weitem konnte er die Flammen sehen, die sich hoch in den dunkler werdenden Himmel reckten. Ein Feuerwahrwagen hatte ihn bereits unterwegs überholt und hatte sich vor der Mühle postiert, ein zweiter kam zeitgleich mit ihm an und bezog seine Position etwas versetzt von dem ersten. Frau Jespersen stand in sicherer Entfernung und hatte ihre Hände vor das Gesicht geschlagen. Mathies konnte sehen, dass sie schluchzte. Zahlreiche Nachbarn hatten sich versammelt, einige von Ihnen versuchten sie zu trösten. Jemand hatte eine Decke geholt und legte sie ihr um die Schultern. Edith Jespersen war nur leicht bekleidet, da sie die Mühle wohl sehr schnell hatte verlassen müssen und keine Zeit gefunden hatte, sich etwas Wärmeres anzuziehen. Plötzlich riss sie sich los und rannte in Richtung der brennenden Mühle.

„Er ist noch drin“ rief sie. „Thorben ist noch in der Mühle!“

Mathies konnte Frau Jespersen gerade noch festhalten; er befürchtete, sie wäre sonst mitten in die Flammen geraten.

„Ihr Schwager ist noch da drin?“

Zwei Sekunden später hatte sich die Frage von selbst beantwortet, denn  Thorben Jespersens Gestalt erschien in der Tür der Mühle. Er schien verzweifelt zu versuchen, ins Freie zu gelangen, doch irgendetwas hinderte ihn daran. Mit hektischen Bewegungen seiner Arme, die wild auf und ab gestikulierten, wehrte er sich gegen die Flammen, die ihm immer näher kamen, so als wäre er ihr einziges Ziel, als wäre er das Fleisch, das verbrannt werden sollte.
 
Doch noch etwas anderes fesselte die Anwesenden an das grausame Schauspiel, das sich ihnen darbot. Der Innenraum der Mühle wurde vollständig von den Flammen erfüllt, aber ein eigenartiges, rhythmisch pulsierendes blaues Licht kam tief aus ihrem Inneren und umfing Jespersen. Die umstehenden Zeugen, die später von der Polizei befragt wurden, beschrieben ihren Eindruck, den sie von dem Licht gewannen, in ähnlicher Weise. Es schien zu leben. Und mehr noch: Das Licht entfaltete offenbar eine Sogwirkung, denn der Mann wurde für alle sichtbar immer weiter in die Mühle hineingezogen. Alle Versuche der Feuerwehrleute, zu ihm vorzudringen und ihn aus den Flammen zu befreien, waren erfolglos. Das Licht zog nicht nur Jespersen in die Mühle, es drängte auch die Feuerwehrleute mit unheimlicher Kraft zurück. Das letzte was Emanuel Mathies von dem alten Mann sah, war sein entsetzter Blick, der sich direkt auf ihn richtete – so wie in der vergangenen Nacht, als er ihm bedeutet hatte, seine Beobachtung für sich zu behalten.
 
Mathies wollte, er hätte ihm helfen können. Doch genau wie allen anderen war es ihm unmöglich, sich der Mühle so weit zu nähern, wie es nötig gewesen wäre. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten und Zeuge von Thorben Jespersens qualvollem Tod zu werden. Die Hitze, die die Flammen verbreiteten, begann für die Umstehenden unerträglich zu werden, und die Mühle war beinahe ausgebrannt. Als alles fast schon zu Ende schien, kam es noch einmal zu einem heftigen Aufleuchten des blauen Lichtes. Gleichzeitig wurde die Mühle von einem kräftigen Schauer erfasst. Wie bei einem unscharfen Fernsehbild verschwammen ihre Umrisse und begannen zu vibrieren. Dann ging alles schnell. Mit einem heftigen Ruck wurde der alte Mann förmlich in die Mühle hineingerissen wie in den aufgerissenen Schlund eines gierigen Monsters. Die Türe schloss sich, das Leuchten endete abrupt und die Flammen verloschen. Mit einem Mal lag eine schier unheimliche Stille über der ganzen Szenerie. Nur das Knistern des verbrannten Holzes war noch zu hören.
 

*

Acht Stunden später befand sich Mathies auf der Autobahn in Richtung Hamburg. Er hatte die Nacht bei Nachbarn verbracht, die spontan ihre Hilfe angeboten hatten. Auch Frau Jespersen war untergekommen, doch Mathies hatte sie nicht mehr gesehen. Das Seltsamste bei all den rätselhaften Vorgängen der letzten Tage war das spurlose Verschwinden von Thorben Jespersen. Bereits kurz nachdem die Flammen verloschen waren, begannen die Feuerwehrleute mit der Suche nach ihm. Doch sie fanden nicht die geringste Spur. Auch eine spätere neuerliche Suche verlief ohne Erfolg. Stattdessen hatte Mathies etwas gefunden. Am Morgen war er nochmals zu den Überresten der Mühle gegangen. Er wusste nicht, wonach er suche sollte oder was er zu finden hoffte. Dann wurde sein Blick von etwas angezogen, das fast unsichtbar unter zwei sich überkreuzenden verkohlten Holzbalken lag. Als Mathies den Gegenstand aufhob, sah er, dass es eine undurchsichtige Glaskugel mit etwa fünf Zentimetern Durchmesser war. Sie lag nun auf dem Beifahrersitz seines Wagens. Er hatte sie schon mehrmals betrachtet, ohne dass ihm etwas Besonderes an ihr aufgefallen wäre. Doch während er den Elbtunnel durchquerte, sah er erneut kurz zu der Kugel hinüber. Und im dunklen Innenraum seines Wagens bemerkte er das schwache, bläuliche Leuchten, das in ihrem Inneren pulsierte.

 

© Joachim Güntzel 2008

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.05.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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