Andreas Rüdig
Das Foto
Dieser Auftrag ist einmalig. Dessen bin ich mir
sicher. Die alte Dame, die da gestern zu mir kam, wußte ganz genau, was
sie wollte. Ihr Mann sei gestorben, erzählte sie mir. Und er wollte ein
letztes Mal vor der Beerdigung fotographiert werden.
Nun
ja. Leichen habe ich bisher noch genausowenig fotographiert wie kranke
/ verletzte Personen, Verkehrsunfälle, körperlich eingeschränkte
Personen oder Katastrophen. Ich mag das nicht besonders. Diese
Fotographie ist Effekthascherei. Damit will ich nichts zu tun haben.
Daher
wandte ich mich gleich zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit der
Hochglanzfotographie zu. Damit kann ich Schönheit pur zeigen. Warum ich
dann trotzdem den Auftrag angenommen habe? Nun ja, mir tat diese kleine
alte Dame mit ihren verweinten Augen, dem verlorenen Blick und den
zittrigen Händen einfach nur Leid. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie
mit ihrem Mann verheiratet gewesen; nun steht sie auf einmal alleine da
und weiß nicht, was sie tun soll. Also werde ich ihr helfen...
Ich
muß noch ein wenig aufräumen. Eine neue Tischdecke muß da auf den
Wohnzimmertisch. Ich muß noch Kaffee kochen, Kekse bereitstellen, den
Tisch für zwei Personen eindecken, das Staubkorn auf dem Beistelltisch
wegschnipsen. Bei meinen steifen Knochen ist das eine schmerzhafte und
langwierige Sache. Aber der Fotograph soll ja einen guten Eindruck von
meinem Mann und mir gekommen ... ach, wie ich Egon vermissen.
Die
Operation ist gut gelungen. DIe Ärzte konnten mich aus dem Ohr Egons
entfernen und in einer Spezialflüssigkeit konservieren. Diese Aktion
mußte schnell über die Bühne gehen; schließlich soll Egon schon morgen
beerdigt werden.
Warum gerade dieser kleine
Eingriff am Ohr? Nun ja, wie soll ich sagen - das Ohr war Egons
wichtigstes Organ, hören seine Leidenschaft. In jungen Jahren hörte er
ständig Radio, sowohl zuhause wie bei der Arbeit. Später, als er mehr
Zeit hatte, begann er, Hörbücher zu genießen. Ständig hatte der
Kopfhörer auf. Daß ihm da nicht die Ohren abgefallen sind, wundert mich.
Doch
halt - ich höre da was. Eine Türglocke schell. Eine Wohnungstür geht
auf und zu. Zwei Personen unterhalten sich - Egons Frau und jemand
anders. Die Zimmertür geht auf. Dann höre ich schraubende, drehende und
klackende Geräusche. Dann wieder Egons Frau und die andere Person,
Zimmertür, Wohnungstür. Was war da los...?
Dieser
Fotograph ist wirklich nett. Er hat alle Aufnahmen gemacht, die ich
haben möchte. Übermorgen wird er mir die Abzüge bringen.
Ein Hörgerät! Ich sollte ein Hörgerät fotographieren! Die Oma hat doch nicht alle Tassen im Schrank.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.05.2008.
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