Norbert Schimmelpfennig

Der Mistkäfer der zusammengeknüllten Spickzettel

 
Kurz vor dem Ende des Schuljahres war die letzte Deutschklausur angesagt. Lukas Markus, der von den anderen immer Lukarkus genannt wurde, fühlte sich dieser Prüfung nicht gewachsen, er hatte diesen Fauststoff kaum verstanden. Deshalb hatte er Verena Erika, die sich gern Verika nannte und die Beste im Kurs war, gebeten, ihm einen Spickzettel zu tippen. Diesen Spickzettel händigte sie ihm auch kurz vor der Klausur aus, und er klemmte ihn zwischen die Knie.
Schließlich trat der Deutschlehrer, Herr Muschelkönig, ein und verteilte die Aufgaben. Anschließend setzte er sich auch eine Weile lang auf seinen Platz und schien wie gewohnt vor sich hin zu dösen. Lukarkus schielte beim Arbeiten immer wieder auf seinen Spickzettel. Doch der Lehrer war offensichtlich doch aufmerksamer als gedacht und schlich sich zu Lukarkus hin, als dieser gerade ganz versunken auf seine Knie starrte. Als schließlich Herr Muschelkönig neben ihm stand, presste er instinktiv die Beine schnell zusammen, so dass der Zettel zwischen seinen Knien sich zusammen knüllte – aber auch zu Boden fiel. So nahm der Lehrer den Spickzettel und die Klausur an sich – wer den Spickzettel geschrieben hatte, war aufgrund des Ausdruckes allerdings für ihn nicht festzustellen.
So musste sich Lukarkus wohl geschlagen geben – scheinbar. Denn als Verika ihm den Spickzettel unter dem Tisch durchgereicht hatte, war eine Mistkäferlarve, die unter dem Tisch geklebt hatte, auf die Unterseite des Zettels gekrochen. Als dann Lukarkus den Zettel in seinen Knien zusammengedrückt hatte, war der Larve warm geworden und anschließend aus ihr ein Mistkäfer ausgeschlüpft.
Mit diesem Mistkäfer aber hatte es eine besondere Bewandtnis: Er hatte beim Ausschlüpfen und davor für seine Größe so viel Papier in sich aufgenommen, dass er es nun ausscheiden musste – und zwar in der Art, dass nun allerhand weitere Zettel auf dem Boden zu liegen kamen!
Als Herr Muschelkönig dies von seinem Pult aus sah, sammelte er auch diese Zettel auf und musste feststellen, dass auf diesen der gleiche Text zum Schummeln stand wie auf dem von Lukarkus! Da konnte er diese Klausur kaum bewerten!
 
Mit diesen Gedanken fuhr er heim, mit dem Mistkäfer im Gepäck, der sich auf einem der Spickzettel wieder eingenistet hatte. Zu Hause nun machte er sich Gedanken, was er mit diesem Deutschkurs machen sollte, bis zur Schlusskonferenz blieb nur noch wenig Zeit!
Da hörte er eine Stimme fiepsen, nämlich die von dem Mistkäfer, und diese Stimme sprach:
„Da bleibt dir nicht viel Zeit. Aber ich weiß eine Lösung für dich!“
„Und die wäre?“ fragte Herr Muschelkönig missmutig; doch der Käfer fuhr fort:
„Lass einfach morgen die Klausur noch einmal schreiben – die Schüler werden dem schon zustimmen, um keinen Ärger zu bekommen! Als Aufgabe lässt du sie Synonyme finden, für Wörter, die ich dir gleich nenne. Aber dafür musst du notfalls die Schüler ein paar Tage lang verfolgen, um nachzuprüfen, ob ihre Lösungen stimmen!“
Da erwiderte der Lehrer:
„Ja, ist gut, also lass hören!“
 
Am nächsten Tag also mussten die Schüler von Herrn Muschelkönigs Deutschkurs eine weitere Klausur über sich ergehen lassen. Aber Lukarkus und andere taten sich diesmal mit der Lösung leichter als früher. Nur fragten sich manche, ob nicht irgendein Hintergedanke dahinter stecken musste.
So setzte Lukarkus die geforderten Synonyme ein, etwa für „Freund“ -> „Saufkumpan“, für „Statisten bei Unternehmung mit Freund“ war es „Lichtscheues Gesindel“, sowie als Synonym für „Nachtbeleuchtung“ -> „Rotlicht“, und schließlich für „Ausweg“ lautete sein Synonym „Bulle“.
 
„Denk an unsere Abmachung – zumindest was Lukarkus betrifft!“ vernahm Herr Muschelkönig die Stimme des Mistkäfers, als er zu Hause die Klausuren korrigierte. So musste er also diesen Schüler heimlich beobachten, seine Adresse kannte er ja.
 
In der Tat begab sich Lukarkus mit ein paar Schulkameraden nachts ins Rotlichtmilieu und dort in eine Kellerkneipe, in der es ziemlich verraucht und schummrig war. Dort ließen die Schüler sich auch voll laufen, und Herr Muschelkönig spürte immer wieder, wie Hände an die Innentaschen seiner Jacke grapschen wollten – aber seine Brieftasche hatte er sicher verwahrt. Auch bei den Schülern beobachtete er, wie ein paar Gestalten ihnen ein paar Geldstücke aus den Taschen entwendeten – aber bei denen gab es ohnehin nicht viel zu holen.
Bis hierher stimmten die Synonyme von Lukarkus. Draußen waren immer wieder Polizeisirenen zu hören – aber Herr Muschelkönig dachte nicht daran, die Polizisten zu Hilfe zu holen, dass sich nicht auch noch das letzte Synonym bewahrheitete! Später gesellten sich zu seinen Schülern noch Verika sowie ein anderes Mädchen aus dem Deutschkurs, die einen fast umgekehrten Namen trug, nämlich Erika Martha, und sich gerne Erikartha nannte. Beide hatten seltsamerweise als Synonym für „Ausweg“ -> „Kuh“ angegeben...
So zog sich der Abend hin, bis vom Eingang jemand rief:
„Gleich kommt eine Razzia, alle zu den Auswegen!“
Und prompt rannten nahezu sämtliche Besucher des Lokals in eine Richtung, die dem Eingang eigentlich gegenüber lag – zu den Toiletten hin – und hier waren als Zeichen für Damen und Herren eine Kuh und ein Bulle angebracht! Und am hinteren Ende der Toiletten befand sich jeweils ein kurzer Geheimgang, durch den man auf eine ruhige Straße gelangte!
 
Zu Hause angekommen, sprach Herr Muschelkönig erschöpft zu dem Mistkäfer:
„So stimmen also die Synonyme; bist du zufrieden?“
Der Mistkäfer erwiderte:
„Ja; und du kannst dich genauso wie die Schüler auf die Ferien freuen. Deine Familie ist nämlich auch zufrieden mit dir, wenn du deinen Kindern erzählen kannst, dass du niemanden hast durchfallen lassen!“
 
So erhielt nun Lukarkus, wie viele andere aus seinem Kurs ebenfalls, für die Klausur eine 1 – 15 Punkte und konnte zuversichtlich dem Abitur im nächsten Jahr entgegen sehen.
 
 
 
 
 

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