David Lebknecht

Die Ausgebrochenen

 
Fünf Jahre sind vergangen, seit Armee und Reich des menschlichen Kaisers zerbrochen worden waren und sich der Mantel der Angst und der Finsternis über die Welt der Menschen gelegt hatte.

 

Wasser spritzte wild durch die Luft, als sich die Gruppe Verfolgter durch den Wildbach flüchtete. Krebar schrie laut auf, als ein Pfeil ihn in den Nacken traf und er fiel vorne über ins knietiefe Wasser. Er riß unter Wasser die Augen auf und kämpfte sich zurück auf die Füße. Jemand packte ihn an der Schulter. „Weiter! Los.“ machte Shania ihm Mut und stützte ihren Gefährten. Gemeinsam wateten sie weiter in Richtung Ufer, hinter der Gruppe kamen die Reiter näher.

Am Ufer war bereits Holmar, ein Jäger aus dem Königreich Greifenstein, angekommen und warf Steine nach den Berittenen, um die Pferde zu verschrecken. Einer der Reiter kam trotzdem ganz dicht an Shania heran und schlug mit dem Säbel nach ihr, sie konnte sich aber im letzten Moment abrollen und eine ihrer Begleiterinnen bekam den Umhang des Angreifers zu fassen und riß ihn aus dem Sattel, dann packte sie ihn mit einem Würgegriff. Shania griff unter sich, in das schlammige Grün, hob einen schweren Stein auf und schlug nach dem Krieger, bis sich das Wasser blutrot färbte.

Dem stämmigen Krebar sah man, obwohl er seit Wochen zum Hungern verdammt war an, dass er früher wohlgenährt gewesen sein musste, dennoch war er sehr geschickt und konnte sich zum Ufer schleppen, wo er sich erschöpft in die Kiesel fallen ließ und liegen blieb um Luft zu holen. Holmar, Iurif und Adalia hatten sich Schulter an Schulter aufgestellt und erwarteten den Angriff der verbliebenen Reiter. In Iurifs Hand war ein Kavalleriesäbel, den er gerade vorhin seinem sterbenden Gegner entrissen hatte und seine tiefschwarzen Augen fixierten die Anstürmenden. Neben ihm, nicht weniger ruhig hatten Holmar und Adalia ihre Stöcke kampfbereit erhoben, um den Feind aus dem Sattel zu schlagen.

 

Wie ein Schiff auf eine Sandbank, schlugen die schwarz gerüsteten Kavalleristen auf die drei Flüchtlinge auf, Knochen und Holz splitterten und eines der Pferde stieg und warf seinen Herren ab. Adalia sah eine Möglichkeit zum Handeln gekommen und stürtze sich auf den Gefallenen, doch dieser lächelte sie mit eisiger Mine an und stieß zu. Adalia ließ den Stock fallen und fiel nach hinten um, als Iurif den Kopf des Reiters mit einem einzigen Hieb abschlug und Holmar das Schwert zuwarf. Dieser konnte es nicht auffangen, denn er musste den flinken Hieben und Stößen seines Gegenübers standhalten und Schritt um Schritt zurückweichen. Plötzlich wirbelte sein Feind herum, ging in die Knie und schlitzte ihn von der Hüfte bis zum Herzen auf. Iurifs Stoß ins Herz seines Feindes beendete diesen Kampf, denn plötzlich waren die Reiter von einer unbestimmten Furcht erfüllt. Die Angst zu versagen und in der ewigen Verdammnis der Höllen für ihre Taten zu büßen ergriff sie, denn mit Widerstand hatten sie nicht gerechnet. In heller Panik riß einer sein Streitroß herum und floh, rasch folgte ihm ein weiterer. Schließlich, nur wenige Augenblicke später waren alle Angreifer geflohen. Iurif, der dunkelhäutige Mann ließ sich auf die Knie sinken. Shania und Vagriana kümmerten sich um die Verwundete, als eine männliche Stimme erklang: „Krebar ist tot.“

 

„Könnt ihr laufen Adalia?“ „Ja, es muss gehen. Ich werde ich euch nicht aufhalten.“ „Ich weiß, du bist stark, du schaffst das.“

„Krebar ist tot, wollen wir ihn und die anderen begraben?“ fragte Pygran heraneilend die beiden Frauen, doch Vagriana verneinte: „Wenn wir nicht wollen, dass sie bald aus ihren Gräbern aufstehen und uns auch nachlaufen, sollten wir das nicht tun. Verbrennen wir sie besser.“

Nachdem die Zehn Überlebenden sich der Leichen entledigt hatten, machten sie sich auf, weiter zu fliehen. Inzwischen waren sie schon weit in die Gebirgslandschaft des zwergischen Reiches vorgedrungen, doch zur schützenden Festung Mulljest waren es noch gute drei, vielleicht gar vier Tage.

 

Wenige Stunden entfernt vom Schlafplatz der Flüchtigen war ein provisorisches Lager errichtet worden. Eine schwarze Kutsche bildete ihren Mittelpunkt, rundherum waren Zelte aufgeschlagen, an die Bäume waren Pferde gebunden. Ringsum hatte der Befehlshaber Fackeln aufstellen lassen, so war das Lager von überallher gut sichtbar und auch gut beleuchtet. Ein Mann mittleren Alters saß lässig auf dem Trittbrett der Kutsche und lauschte der Meldung eines hellblonden Mannes namens Elsmor.

„Sie konnten fliehen, mein Gebieter. Sie sind durch den Fluß geeilt und haben sich im Wald versteckt. Er war zu dicht, um mit den Pferden durchzukommen.“

„Also seid ihr abgestiegen und ihnen zu Fuß gefolgt?“

„Nein, Gebieter, wir sind umgekehrt, ich denke, wir können sie morgen ...“

„Still. Bitte. Ihr langweilt mich. Dass wir sie morgen oder übermorgen fassen können steht außer Zweifel, was ist allerdings euer Beitrag zu diesem Erfolg?“

„Ich ... ich, ich lasse wieder aufsitzen, wir nehmen die Verfolgung wieder auf.“

„Ihr könntet ihnen auch wieder vier schicken, damit sie sie umbringen können. Wie wäre das?“

„Das ist nicht gerecht, Herr, wir taten alles ...“ flehte Elsmor, doch die Worte seines Herren unterbrachen ihn: „Ihr seid dem Kaiser nicht mehr von Nutzen, solange euer Blut in euren erbärmlichen Körpern pocht. Hört mir zu und hört mir gut zu. Ich dulde keine Schwäche und keine Feigheit. Du und dein Haufen waren heute schwach und feige. Ihr werdet sterben, dem größten aller Herrscher dieser und aller anderen Welten geopfert.“ Abaret, ein großer, hagerer Mann, dessen Körper von vergangener Lebenskraft zeugte trat an den Reiter heran, der von Wachen bereits in Ketten gelegt wurde. Ebenso die anderen Überlebenden, dann wurden sie in den Wald zu einer kleinen Lichtung gebracht.

„Ich habe nur fünfzig Mann bei mir, alter Mann. Ich hoffe deine Zauberei macht sich bezahlt.“ murrte der Anführer Abaret zu.

„Merjan, mein Freund ... sagt nichts, ob der Floskel, ich weiß, wir sind keine Freunde und glaubt mir, ich verabscheue euch noch weitaus mehr, als ihr mich, aber vertraut der Macht unseres Herrschers. Hat er euch nicht mit Macht und Reichtümern gesegnet? Diese unwissenden Hurensöhne haben niemals an der grenzenlosen Stärke gekostet, die ihr verspürt. Sie fürchten den Tod, wie alles Lebendige das tut.“

„Ha! Versprecht ihr mir, dass euer Zauber das Blut meiner Männer wert ist und unsere Flüchtigen brechen wird?“

„Nein, denn meine Versprechen gegenüber einer jämmerlichen Figur wie ihr eine seid sind wertlos. Das ist ein Grund. Der zweite Grund ist, dass ich nicht weiß, mit wem wir es zu tun haben. Diese Menschen sind allesamt Feinde unseres Herren und sie alle haben sich mit nicht bescheidenem Erfolg gegen ihn gestellt. Sie alle sollten in die Zitadelle gebracht werden, unseren schlimmsten Kerker und sie alle sind geflohen. Ich weiß nichts von ihrer Macht, vielleicht sind sie Magi.“

„Dann hätte man mich nicht mit einem Kultisten und fünfzig Kriegern ausgeschickt oder?“

„Vielleicht habt ihr Feinde, die euch gerne sterben sähen, Hauptmann. Gehabt euch wohl, träumt schön.“ verließ Abaret  das Gespräch.

„Idiot.“ murmelte Merjan und strich sich verunsichert über seinen Bart. „Geschwätz. Ich bin der Hauptmann der schwarzen Basilisken, der ehrfurchtgebietendsten Schar von Kriegern im ganzen Reich, auf der ganzen Welt!“ machte er sich wieder Mut. Niemand würde ihn töten wollen, er genoss das Vertrauen des Kaisers und des obersten Heerführers und er hatte seine stärksten Männer für dieses Unternehmen ausgewählt. Er konnte nicht verlieren! Schon sein Vater hatte dem Kaiser und den Höllenfürsten treu ergeben gedient, nachdem er Amt und Würden beraubt worden war. Was für ein Narr der alte Kaiser der Menschen doch gewesen war! Der Glauben an Ritterlichkeit und Ehre, an Respekt, an Würde und Liebe und das Recht auf all das für Alle, hatten ihm jenen Biss geraubt, den er gebraucht hätte. Wegen eines Adligen unwürdigen Verhaltens hatte Merjans Vater damals sein Amt verloren, an einen Emporkömmling aus Uranus. Mit der neuen Macht der Dunkelheit hatte sein Vater sich eine Armee von Untoten und Teufeln geschaffen und sich genommen, was von Rechts wegen sein war. Merjan lächelte sanft und legte sich in der Kutsche auf eine Bank hin, wo seine Sklavin bereits auf ihn wartete. „Mein Vater war ein großer Mann.“ sagte er plötzlich und das Mädchen wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Oder?“ setzte Merjan nach und erhielt das erwünschte, zustimmende Nicken. „Lügnerin! Du kanntest ihn nicht einmal, du weißt nicht, wovon ich rede. Mein Vater wurde vom alten Kaiser besiegt und begnadigt. Der große Kaiser der einigen Menschen, was für ein toller Mann.“ säuselte Merjan sarkastisch und machte eine dramatische Geste. „So ein Narr, er hätte am Liebsten all seine Feinde begnadigt und irgendwo in ein fernes Schloß abgeschoben. Doch ich ...“ eine kurze Pause quälenden Schweigens folgte. „ICH wurde von den Kriegern des Teufelsfürsten gerettet! Und ICH wurde auserwählt die Akadamie der Schattenreiter zu besuchen! ICH werde den Namen meines Blutes unsterblich werden lassen!“

 

Die sechs Soldaten waren zu einer Lichtung gebracht und entkleidet worden, Abaret stand vor ihnen und befahl ihnen, auf die Knie zu sinken. Wie immer trug der Priester des Kults eine hellrote, abgetragen fransige Robe und sein schwarzes Kopftuch, das seine Glatze verbergen sollte. Er hob seine über und über beringte Rechte und deutete auf Elsmor. Dann ging er langsamen Schrittes auf ihn zu und führte ihn an der Hand ein paar Schritte nach links. Zufrieden schloß er die Augen bis plötzlich seine Hände vorschossen und Elsmors Augen von seinen Daumen getroffen wurden. Abaret öffnete die glutroten Augen, keuchend und lechzend drückte er immer fester zu, bis Augenflüssigkeit und Blut aus dem Schädel seines brüllenden Opfers schoßen, dann stieß er es zu Boden und griff nach einem langen, zugespitzten Knochen. Diesen trieb er nacheinander seinen nackten Opfern in Hals. Er ging einige Schritte von ihnen weg und steckte den Knochen in den weichen Waldboden. Sofort suchte das Blut aus den Hälsen seinen Weg dorthin, die in Qualen kreischenden Körper wurden immer heller, trockener, bis nur noch ausgedörrte Mumien verkrampft am Boden liegen blieben. Die Blutlache um den Knochen allerdings erhob sich wie eine Wasserfontäne und schien fester zu werden. Abarets Hände zuckten wie die eines Puppenspielers und das Blut formte Gestalten, erst aus reinem Blut, doch mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde es dicker und heller. Zur Linken des Kultisten erstanden vier hundeähnliche Gestalten. Ihr Fell war glänzend hell, aus ihren leeren Augenhöhlen trieften Blut und Eiter. Ihr Körper war weiß wie Schnee, doch wo ihre Pfoten hätten sein sollen, hob sie nur blutigroter Nebel in die Luft. Doch auch zwei menschenähnliche Gestalten hatten sich aus dem Blut der Geopferten geformt. Sie hatten mächtige Mähnen, die ihr Gesicht umrahmten und bis auf den Rücken wuchsen. Ihre Haut war sandgelb, die Mähne rot und violett und ihr Gesicht glich dem von wilden Pavianen. Vier lange Fangzähne saßen in ihrem Maul und ihre gebückte Haltung und die kräftigen langen Arme, die in eitrigen Klauen endeten verliehen ihnen ein wildes, kraftvolles Aussehen.

„Zslacta, Diener des Unheiligsten der Unheiligen, des wahren Gebieters der Kriege, Geschöpfe des Ceshovimal hört mich an. Von nun an, bis zur Erfüllung eures Dienstes seid ihr meine Diener und meinem Willen allein gehorcht ihr.“

„Wir gehorchen.“ ertönten tausende Stimmen aus den zwei Mäulern der affenartigen Dämonen. „Utzle, Diener des Unheiligsten der Unheiligen, des Herren der verwundenen Wege, Geschöpfe des Ikabaaral hört mich an. Von nun an, bis zur Erfüllung eures Dienstes seid ihr meine Diener und meinem Willen allein gehorcht ihr.“ führte der Priester sein unheiliges Ritual weiter durch, wieder erwiderten die Bestien und dann lauschten die Sechs Monster aus fremden Welten seinem Befehl.

 

Shania und ihre Gruppe hatten sich tief im Wald an einem kleinen See in einer Höhle versteckt. Sie stand an deren Eingang und blickte nach draußen, Adalia gesellte sich neben sie. „Es ist schön hier.“ murmelte diese und erntete einen verständnislosen Blick von Shania. „Ich meine ja nur, wir sollten nicht den Blick für Schönheit verlieren, vor Allem in Zeiten wie diesen.“

„Diese werden die letzten Zeiten überhaupt werden.“

„Sei nicht so düster, sieh den See, wie er sich dort drüben in die Tiefe stürzt als Wasserfall und unten als Fluß weiterfließt. Genieß den Augenblick, denk nicht an die Grausamkeiten des Morgen oder des Gestern. Das kommt oder es war.“

„Dein Name ist Adalia oder?“

„Ja, aber ich bin keine so große Kriegerin, wie die andere Adalia, die mit uns reist.“ entschuldigte die großgewachsene Frau sich und zupfte verlegen an ihrem grasgrünen Wollkleid.

„Erzähl mir von dir.“ fragte Shania ungewollt unfreundlich.

„Fragst du mich, weil es dich interessiert, oder weil du denkst, dass wir sterben werden?“

„Ein bißchen von beidem.“ gab Shania zu. „Aber ich will es wirklich wissen. Niemand wird einfach so in die Zitadelle geschafft.“ „Und niemand bricht einfach so aus.“ schmeichelte Adalia ihrer Gegenüber. „Du warst dabei, weißt, das es glücklich geschah.“ „Oder durch den Schutz der Götter.“ „Ja, oder durch den Schutz der Götter.“ „Übernehmen wir doch gemeinsam die erste Wache, dann kann ich deine Neugier befriedigen.“ meinte Adalia und Shania stimmte ihr zu.

„Iurif und Vagriana haben sich bereit erklärt, weiter weg von der Höhle zu kundschaften.“ erzählte Shania. „Iurif ist ein großer Kämpfer. Er war einst bei der Palastwache in Dagrah der Schwertmeister.“ „Beeindruckend.“ „Ja, ein tiefgläubiger Mann, er weigerte sich, den Götzen zu huldigen.“ „Er gefällt dir wohl.“ „Dafür ist keine Zeit, Adalia. Vielleicht, in friedlichen Zeiten.“ „In friedlichen Zeiten hättet ihr euch niemals kennen gelernt, hm?“ Adalia ließ ihre Frage wirken und hängte ihre Füße ins warme Seewasser. „Woher kommst du Shania?“ „Aus Monte Fartha.“ „Der Festungsstadt?“ „Ja, mein Vater war aber Kaufmann, ich bin keine Heldin, wie andere hier. Ich habe mich mit dem Widerstand eingelassen, weil ich sonst niemanden hatte.“ „Für mich bist du eine Heldin. Was wurde aus deinem Vater?“ „Ich dachte, du erzählst mir über dich, nicht umgekehrt?“ unterbrach Shania und Adalia wandte sich um und begann gerne zu erzählen: „Ich war Bäuerin bei Runfest, der Hauptstadt Rungards. Ich habe nichts getan, als dem Aufstand beizuwohnen. Eine Gruppe Männer hatte die Burg besetzt und Waffen ausgegeben. Ich habe mich angeschlossen, weil es nichts mehr zu essen gab und meine Kinder, mein Mann und ich ohnehin gestorben wären.“ „Das ist heldenmutig.“ „Als die Schlacht, wenn man es überhaupt so nennen kann, vorüber war, sind einige von uns in die Berge geflohen. Mich und Dorfrid haben sie offenbar zuletzt gefunden. Deshalb haben sie uns zu den Rädelsführern ernannt und auch so verurteilt. Darum waren wir auf dem Weg zur Zitadelle.“

Shania betrachtete Adalias Antlitz im Mondlicht. Sie war für eine Frau sehr groß und hatte wunderschöne Locken. Für eine Bäuerin war sie außerordentlich hübsch, stellte Shania fest und lauschte weiter ihren Ausführungen. „Dorfrid war Holzfäller, wie mein Mann. Sie beide waren Freunde.“ „Wie hieß dein Mann?“ fragte Shania. „Ist das wichtig?“ „Nein, du sagtest seinen Namen nur nicht.“ „Ich habe ihn nicht wirklich geliebt, das ist mir bewusst geworden, als ich verloren hatte und es mich nicht so gerührt hat, wie es hätte sollen. Ist das schlimm?“ „Nicht, wenn du es nicht schlimm findest.“ „Runfest ist keine große Stadt, wir Frauen mussten nehmen, was wir bekommen konnten. Er sorgte für mich und auch für unsere Kinder. Ich war ihm stets dankbar. Aber das war wohl alles.“

 

In der Höhle am Feuer saßen die sechs anderen Flüchtigen, dicht aneinander gekauert. Ein kahlköpfiger, bartloser Mann blickte mit leeren Augen ins Feuer. Seine Arme und sogar sein Gesicht waren mit unzähligen Narben übersäht, er atmete ruhig. Adalia beobachtete jedoch mit viel größerem Interesse die blinde Frau, die mit dem Rücken an die Höhlenwand gelehnt dasaß und den jungen Mann, mit den schneeweißen Haaren, der aussah wie halb verhungert.

„Ich kenne euch.“ sagte plötzlich die Blinde und Adalia antwortete ihr: „Mich?“ „Ja, ihr seid Adalia aus Mariaze. Tochter von Togand und Oeway. Stolzes Blut fließt in euren Adern. Ihr habt stolze Augen.“

„Wie wollt ihr das wissen? Ihr seid blind.“ kommentierte der junge Mann das Geschehen.

„Blind sind nur meine Augen, Feretz Gorbfeldt, Verräter.“

„Ich bin kein Verräter und ich war niemals einer. Säße ich sonst hier?“ fuhr der Beschuldigte auf.

„Wieso nennt die Hexerin dich einen Verräter?“ hakte Adalia nach.

„Ich war Beamter in Tendrak. Für den Präfekten Trotos. Ich habe ihn ermordet, falls ihr wissen wollt, wieso ich in ihrer Gefangenschaft war.“

„Wieso haben sie dich dann nicht hingerichtet?“

„Die Zitadelle ist schlimmer, als der Tod.“ Diese Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und sekundenlanges Schweigen folgte.

„Also habt ihr mit den Teufelsanbetern gemeinsame Sache gemacht?“ „Ja.“ „Dann seid ihr ein Verräter.“ „Ich bin ein Überlebender. Das ist, was zählt.“ „Wirklich und wenn euretwegen, Andere sterben?“

„Das ist deren Sache. Sich mit einem Stärkeren gut zu stellen, ist kein Verbrechen. Was könnte ich alleine ausrichten?“

„Was können wir, Zehn an der Zahl, ausrichten?“

„Fliehen. Überleben. Uns mit aller Kraft einen weiteren Tag Lebendigkeit erzwingen. Mehr bekommen wir nicht. Mehr kann ein Mensch nicht erreichen.“

„Ich habe eine Truppe Soldaten in die Berge geführt und den Teufeln widerstanden! Wochenlang. Wieder und wieder. Sie haben gekämpft und geblutet für eure Freiheit!“

„Sind sie tot?“

„Alle, aber das ...“

„Ihr habt gekämpft und ich habe mich ihnen unterworfen. Wir sitzen beide hier, alleine. Was tut es also zur Sache, was wir tun? Ihr habt gekämpft mit aller Kraft. Haben die Dämonen aufgehört zu marschieren? Ist eure Heimat frei? Sitzt ihr Abends mit eurem Mann und euren Kindern am Herdfeuer?“

„Es geht um mein Seelenheil! Das Wissen nicht tatenlos zugesehen zu haben!“

„Also doch um euch selbst? Wie selbstlos ist euer Opfer dann?“

„Ihr seid ein Feigling und ein Verräter. Ihr seid eine Gefahr, ich sollte euch töten.“

„Ich werde euch nicht verraten, erstens weil wir lange genug zusammen gereist sind, und zweitens, weil sie mich töten würden, ginge ich zu ihnen. Ich will weiterleben, das ist es, was mich antreibt.“ Feretz stand auf und ging in eine andere Ecke des Verstecks, wo er sich zusammenrollte und rasch einschlief.

„Er hat Unrecht, Kindchen.“ redete die blinde Wildara Adalia zu. „Du bist nicht allein.“ „Du weißt, was aus Vater und Mutter geworden ist?“

„Nein.“ gab Wildara zu. „aber ich weiß, dass du sie nicht hast sterben sehen. Was spricht also dagegen, dass sie noch leben? Was du brauchst ist Mut und Hoffnung. Beides gibt dir der Glaube an diese beiden Menschen. Vertraue darauf, dass sie noch leben.“

„Kannst du in die Zukunft sehen?“ fragte Adalia neugierig.

„Kind, nein. Könnte ich das, würde ich wohl nicht hier sitzen. Wüsste ich, was uns bevorsteht, ich würde ins Wasser gehen. Ich kann nur in deine Gedanken sehen.“

„Du glaubst nicht daran, dass wir fliehen können?“

„Ich habe Hoffnung, nur Hoffnung. Aber wie es auch ausgeht, für alle, die davon hören und solche Nachrichten verbreiten sich schnell, sind wir aus der Zitadelle ausgebrochen. Aus dem gefürchtetsten Kerker der Welt. Wir haben trotz Gefangenschaft und Pein die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir sind das winzige Licht, das die Welt wieder zum erstrahlen bringen kann.“

„Ihr habt die Reiter verjagt, oder? Ihr geht den Weg des Eises, der Geisterkraft, nicht wahr?“ fragte Adalia, doch die Blinde lächelte nur milde und ließ sich in die Welt des Schlafes hinübergleiten.

 

Vagriana hatte ihren Säbel immer noch gezückt, war aber auf dem Weg zur Höhle zurück, denn der Morgen graute langsam. Sie hatte sich heute Nacht nicht ablösen lassen, denn sie wusste, dass alle anderen den Schlaf genausogut brauchten, wie sie. Sie erinnerte sich an viele durchwachte Nächte. Sie war eine Hure gewesen, früher, es schien wie eine Geschichte aus einem fremden, anderen Leben, hatte sie sich dafür geschämt. Sie war eine Hure gewesen in der Kaiserzeit und danach. Viele Männer mochten ihre dunkle, kastanienbraune Haut und ihre schwarzen Augen und Haare. Sie war niemals sonderlich mutig gewesen. Ihr Leben hatte sie einfach hart gemacht und deshalb hatte sie den Mut gehabt, im Lagerhaus etwas zu stehlen. Bei ihrer, zugegeben spektakulären und spektakulär kurzen Flucht hatte sie einen der Wachmänner erstochen und Feuer im Rüsthaus gelegt. Das hatte der halben Offiziersrige der Stadtgarde Irinapols das Leben gekostet. Bei der Erinnerung an jenen Moment, als sie das erfahren hatte, lächelte sie kurz. Wenige Schritte vor der Höhle traf sie auf Pygran, der im seichten Wasser auf Fischfang war. Er hatte seine beiden Dolche auf lange Äste gebunden und sich so Speere gefertigt. Sie beobachtete den drahtigen Kembrier mit der Augenklappe einige Zeit, bis auch Iurif zu ihnen kam.

 

Zu einer freundlichen Begrüßung kam es nicht mehr, denn ein weißer Hund brach plötzlich aus dem Dickicht und sprang sofort auf Iurif zu. Pygran stolperte aus dem See und warf einen Speer auf das Ungeheuer, der es in der Seite traf und von den Beinen fegte. Würmer und Eiter traten aus der Wunde aus und fraßen sich in den Boden. Ein zweites der Monster raste auf Iurif zu und die Leute aus der Höhle erwachten aufgrund des Kampflärmes. Als Shania sich aufrichtete, um zum Kampfplatz zu eilen, wurde sie von hinten angesprungen und zu Boden gerissen. Sie wehrte sich mit Leibeskräften, doch die vier Fangzähne des kräftigen, bepelzten Ungetüms bissen wieder und wieder in ihren Nacken und Hals. Sie schrie, schlug nach dem Monster, doch nichts hatte Erfolg. Dorfrids Stiefel traf es an der Schläfe, doch außer eines Grunzers blieb auch diese Anstrengung unbelohnt. Dorfrid packte einen starken Ast und schlug wie besessen auf den Rücken des niederen Dämonen ein, bis er endlich von der kleinen Schwarzhaarigen abließ und sich ihm zuwandte.

Die weißen Niederteufel, die so häufig beschworen wurden, dass sie im Volksmund hinter vorgehaltener Hand sogar schon als Ikabaarsköter bekannt waren, griffen Iurif und seine Gruppe nie richtig an. Sie sprangen kurz heran, bissen und knurrten ein wenig und sobald sie ein paar Schläge eingesteckt hatten, verschwanden sie wieder in der Unübersichtlichkeit des Waldes.

Der Affendämon hatte sich, nach kurzem aber heftigem Kampf mit Dorfrid auch zurückgezogen. Shania lag, gräßlich zerbissen, in einer blutigen Lacke auf dem Boden, ihre Augen starrten in den Himmel. Adalia, die großgewachsene Bäuern kniete sich neben sie. Iurif und Pygran gingen ebenfalls zu ihrer gefallenen Kameradin. „Sie hat die Möglichkeit zur Flucht erkannt.“ murmelte Iurif und senkte sein Haupt. „Ohne sie wären wir jetzt in der Zitadelle. Sie hat uns befreit, wir schulden ihr Dankbarkeit.“

„Ich halte jetzt Wache.“ bot Pygran an, doch das war nicht mehr notwendig. Bis in die Abendstunden griffen die Köter wieder und wieder an. Es mussten inzwischen vier geworden sein, ihre Angriffe waren sehr schnell, aber nicht besonders tödlich. Ihr grauenhaft entstelltes Antlitz und ihre Fähigkeit jede Wunde sofort wieder heilen zu lassen, waren ihre weitaus schlimmsten Waffen. Als der Abend sich wieder näherte, kamen auch die Affen wieder auf die Lichtung. Feretz war gegen Mittag übel am Bein verwundet worden, ebenso Iurif. Sonst war außer einigen häßlich anzusehenden Bissen nichts weiter passiert, was Pygrans Vermutung nach daran lag, dass sie die Flüchtlinge nur in der Höhle einsperren sollten. Vagriana, Iurif, Dorfrid und Adriana aus Mariaze hatten die Säbel der Reiter an sich genommen und erwarteten den Angriff der Ungetüme. Hinter ihnen traten auch die vier Köter aus der erwachenden Nacht. Der Kampf konnte beginnen. Iurif hob seine Klinge in Richtung Himmel und deutete dann auf die unheiligen Geschöpfe, ehe er zu Laufen begann. Pygran hatte seine Dolche in der Hand und tat es dem schwarzen Mann nach. Iurifs Klinge fegte einen der Affen sofort von den Beinen, diesmal traten kleine, schwarze Blutstropfen aus, die wie Regen nach oben in Richtung Himmel tröpfelten. Pygran rannte auf einen der weißen Hunde zu, ließ sich auf die Knie fallen und bohrte ihm beide Messer in die Augenhöhlen. Wo der spritzende Eiter ihn traf, wurde seine Haut verätzt und schmerzte fürchterlich.

 

Feretz’ Bein brannte wie Feuer, er hatte Schmerzen, wie er sie noch niemals erlebt hatte. Er wollte gerade über eine Wurzel klettern, als seine Kraft ihn verließ. Er blieb regungslos auf dem kühlen Waldboden liegen, ein Käfer erklomm gemächlich seine Hand. Er hatte die Gruppe verlassen und war geflohen, als der große Angriff gekommen war und nun war er ganz alleine. „Vielleicht sind meine Chancen so ja größer.“ hoffte er, doch da erkannte er eines der Affenmonster. Es stand bereits über ihn gebeugt da und packte ihn am Kragen.

 

Als Iurif fiel, hatte er einen der Hunde und einen der Affen zurück in ihr Reich geschickt. Einer der Köter hatte ihn angesprungen, zu Boden gedrückt und zerrte jetzt an der Schulter des Sterbenden. Iurif blutete aus drei großen Wunden am Hals, am Bein und im Gesicht. Dorfrids wuchtiger Hieb zerteilte das Ding in zwei Teile, die jedoch immer noch um sich schlugen, heulten und schrien. Das vielkiefrige Maul schnappte nach ihm und er bohrte seine Klinge hinein, sodass wieder Blut und Eiter spritzten. Der zweite Affe packte ihn von hinten und stemmte ihn hoch über seinen Kopf, doch Dorfrid gelang es, ihm von oben ins Gesicht zu stechen. Pygran eilte herbei und fegte das Ungeheuer mit einem geschickten Stabstoß zwischen die Beinen zu Boden. Dorfrid richtete sich noch einmal auf und trennte den Kopf des Dämonen vom Körper, doch seine Wunden waren zu heftig. Sein ganzer Rücken war aufgerissen, seine Kleidung hing in Fetzen an seinem Körper. Er setzte sich auf einen Stein und ließ die Klinge aus seiner Hand gleiten. Esach wütete mit einem Prügel in den Reihen der Ungetüme wie ein Artist des Kampfes. Die Schläge und Stöße des hageren Mannes mit den eingefallenen Gesichtszügen passten stets haargenau, immer traf er, immer richtete er furchtbaren Schaden an. Einen der Hunde traf er im Sprung und schleuderte ihn so hart gegen einen Baum, dass er völlig regungslos mit gebrochenem Rücken liegen blieb.

Vagriana erschlug ein weiteres der höllischen Ungetüme, doch Wildara erstickte jegliche Freude über diesen Sieg und das mögliche Überleben im Keim. „Hört ihr nicht? Sie sind am Fuße des Berges angekommen, ihre Monster haben uns lange genug aufgehalten.“

„Wir müssen weg hier! Los, lauft! Lauft um euer Leben.“ brüllte Pygran und die Gruppe setzte sich, wie sie war, in Bewegung. Die große Adalia wollte gerade kehrt machen, als sie von hinten von Kiefern gepackt wurde und ins Dickicht geschliffen wurde. Das weiße Ding zerrte sie minutenlang durchs Dickicht, Adalia verlor vor Schmerz und Angst immer wieder das Bewusstsein. Bis sie von einem Mann mit schwarzem Kinnbart, der sich über sie gebeugt hatte geweckt wurde. Er lächelte sie an, doch in diesem Lächeln lag nichts freundliches.

 

Die Hetzjagd dauerte fast bis zum Abend, immer wieder waren einige Reiter auf gangbarerem Gelände hinter sehr nahe an die Gruppe gekommen, doch immer wieder hatte diese sich in unzugänglichere Waldstücke fliehen können. Als es Abend wurde, wähnten sich die Geflohenen in Sicherheit, denn der steile Aufstieg und die engen Schluchten, die sie überwunden hatten, boten einigermaßen brauchbaren Schutz.

 

Abaret starrte die beiden Gefangenen mit durchdringenden Augen an. Die Frau besaß eine gewisse Schönheit, auch wenn sie jetzt verweint und blutig geschlagen war. Der Knabe war ein Wurm, Abaret verabscheute ihn. Er hatte nicht einmal aufgesehen, nur leise in sich hineingewimmert. In einem früheren Leben hätte Abaret an der Frau vermutlich Gefallen gefunden, doch Abaret war unfähig zu lieben. Früher, als er noch ein Priester der Elemente war, hatte er sich in ein wunderschönes Mädchen aus gutem Hause verliebt. Faris war ihr Name gewesen, eine Bürgerstochter. Er hatte sie oft heimlich geliebt, doch seine Gefühle für sie waren stark. Er war aus dem Orden ausgetreten für sie, wollte sich mit ihr niederlassen. „Was für ein Narr ich damals war!“ bemitleidete er sich selbst. Sie hatte ihn nicht geliebt, war entsetzt gewesen, als er von einem gemeinsamen Leben ohne den Orden gesprochen hatte. Sie hatte seine Liebe nicht erwidert, ihn für einen Fantasten gehalten, als er von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen hatte. Er hatte Kinder mit ihr zeugen wollen. So geschah es, das Abaret, ein Priester, in jener Nacht seine Geliebte ermordet und dem Wahnsinn verfallen, ihr Blut getrunken hatte. In jenem Moment der Schwäche hatte er seine Seele verloren. Der Dämon war ein guter Herr gewesen und hatte Faris ins Unleben zurückgebracht. Von jenem Tage an, war sie Abarets Gefährtin gewesen.

„Schneidet ihre Haare ab. Peitscht sie ordentlich aus und dann bringt sie zu mir. Ich will sie befragen.“ Adalia hatte versucht sich während ihrer Auspeitschung an ihre Heimat zu erinnern, an das Lachen ihrer Kinder, doch nach wenigen Minuten war ihre ganze Selbstbeherrschung verloren gewesen. Sie hatte nur noch geweint und um ihr Leben gefleht, sie fühlte sich so hilflos und ihre Angst vor dem Tod war so groß. Doch als die Peitschenhiebe geendet hatten, begann die richtige Qual erst. Der Kultist hatte eine schreckliche Begabung, ja eine Passion für Folterkunst und traktierte seine beiden Opfer stundenlang mit glühenden Kohlen, Nadeln und Messern. Adalia hatte ohnehin schon jedes Gefühl für Zeit verloren, doch irgendwann trat ein Mann in das Zelt und besprach mit dem Priester irgend etwas, das sie nicht verstand.

 

„Mulljest? Also, wie wir es erwartet hatten.“ Zwei bewaffnete traten ein und Merjan wandte sich ihnen zu. „Die Frau gehört euch und wenn ihr wollt, der Knabe auch.“ So begannen neue Qualen für die Gefangenen.

 

Vagriana saß, an Pygran gelehnt auf einem Felsvorsprung. Über ihnen erhob sich die Ebene von Jetternim, hügeliges Grasland, das sich vor der Zwergenstadt Mulljest ausbreitete. Die letzten fünf Flüchtlinge waren zu erschöpft diesen Anstieg auch noch zu nehmen, außerdem konnten sie von hier aus sogar das Lager ihrer Verfolger sehen. Sie hatten es direkt auf dem Pass aufgeschlagen, die schwierige Straße zur Ebene würde sie lange aufhalten. „Wisst ihr,“ fing Pygran zu sprechen an, „ich habe Vorräte und Waffen gestohlen und sie an Widerstandskämpfer in weiten Teilen des Reichs verteilt. Das ist kein Stoff für Heldenlieder. Esach hier,“ er deutete auf den hageren Glatzkopf „war wenigstens ein gefürchteter Pirat. Erzähl uns davon.“ forderte er den schweigsamen Mann auf, dieser blickte in den Sternenhimmel.

„Ich war ein Fischer. Ein netter Kerl.“ begann dieser fast wehmütig „Ich habe die Gesetze unseres Kaisers befolgt und ich hatte genug Geld um zu überleben in den Taschen. Doch dieser blutsaugende Präfekt aus Weidgemünd erhöhte den Zehent immer mehr.“ Er blickte den steilen Hang hinunter auf das Lager ihrer Verfolger. „Wir sollten weitergehen. Wir sind fast am Ziel, lasst uns jetzt nicht scheitern.“ Und so kletterte die kleine Gruppe das letzte Hindernis, die noch etwa drei Schritt hohe Wand, doch noch hinauf und erblickte in weiter Ferne schon die Fackeln der ersehnten Festung.“

„Ihr wart gerade dabei, uns von der Piraterie zu erzählen, mein Freund.“ meinte Adalia und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Ihre Seite schmerzte fürchterlich und in ihrem Magen hatte sich seit ihrer Verwundung ein flaues Gefühl breit gemacht. Seit heute morgen hatte sie auch Fieber bekommen und oft ließ das Gefühl in ihren Beinen nach. Adalia stolperte und fiel hin, Pygran fing sie auf. „Geht es dir schlecht?“ fragte er. „Nein, es ist alles gut. Das war bestimmt ein Stein.“

„Dann ist es gut. Los, lass uns keine Zeit verlieren.“

„Esach, fahr fort. Ich höre gerne Geschichten beim Wandern.“ forderte die blinde Wildara den Mann auf und er setzte wieder zum Reden an. „Nichts weiter. Unser Schiff hat sich bei einer Fahrt einer Piratenflotte angeschlossen. Wir haben dann begonnen nur noch die Schiffe des Dämonenkaisers zu kapern. Nach einem Jahr wurde ich zum Anführer des Hauptschiffes, der Wildfang, gewählt. Wir haben sogar eine Festungsstadt bei Prontaia besetzt. Nachdem wir von Land aus besiegt wurden und flohen, haben sie unsere Schiffe vor Nicäa aufgebracht.“ Esach ließ die Schultern hängen und atmete tief durch, dann sah er wieder auf. „Wisst ihr, es war einmal üblich nur die Kapitans zu hängen. Der Herzog, der uns gefangen hatte, ließ all meine Männer vor meinen Augen köpfen. Ich wurde in den Kerker geworfen, dort habe ich die letzten beiden Jahre verbracht, dann haben sie mich verlegt.“

„Das ist nicht alles, Esach. Erzähl den anderen WIE du zum Blutfalken wurdest.“ Esach erzählte noch lange über seine Seeschlachten, seine gewieften Manöver und dass er auf  seinem Steckbrief , einfach einmal „der Blutfalke“ genannt wurde. Erst, am nächsten Morgen hatte er damals erkannt, dass tatsächlich ein rotweißes Falkenbanner an seiner Mastspitze geprangt hatte.

 

Kühler Nebel legte sich über Ebene und Morgentau hing glitzernd an den Spitzen der Grashalme. Die befestigte Stadt Mulljest lag nur noch wenige Stunden entfernt von der Gruppe, mit unglaublichem Geschick in eine Felswand geschmiegt. Adalia konnte nicht weiter und setzte sich ins nasse Gras. „Es geht nicht weiter, lasst mich hier. Seht dort, lauft, lasst mich zurück.“ die kleingewachsene Offizierin deutete nach rechts, wo ein halbes dutzend Berittene, voll gerüstet und mit Schild und Lanzen auf sie zuhielten.

Vagriana schloß die Augen. Ihre Gedanken rasten.

„Verflucht. Wir sind verloren.“ Das Gefühl von Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu und an Pygrans Gesicht konnte sie ablesen, dass es ihm nicht viel anders ging, Tränen liefen über ihre Wangen. Seit sie ausgebrochen war, hatte sie gewusst, dass es soweit kommen würde, doch eine kleine Hoffnung zu siegen, zu überleben war geblieben. Nun, da der Augenblick des Todes gekommen schien, war er so grausam, so entsetzlich endgültig.

Auch Wildara und Esach hatten sich aufgegeben. Wildara dachte daran, dass sie sich vielleicht doch nicht hätte weigern sollen, sich dem Zirkel der Rose, dem Hexenzirkel der Dämonenfürsten anzuschließen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Was nützte es jetzt noch, daran zu denken? Die verletzte, ausgezehrte Gruppe hatte keine Möglichkeit mehr zu überleben, ihr Schicksal war besiegelt, die Reiter kamen näher und senkten ihre Lanzen.

 

Adalia kämpfte sich auf die Füße und rannte den Angreifern entgegen, alle ihre Kraft aufbringend. Die restliche Gruppe machte kehrt und wollte gerade in Richtung Stadt einen sinnlosen Fluchtversuch starten, als plötzlich vor ihnen drei bärtige Gestalten erschienen. Sie trugen dunkelgrüne Umhänge, silberne Kettenhemden und lederne Mützen und in ihren Händen hielten sie alle gewaltig große Armbrüste. „Ducken.“ murmelte der Mittlere von ihnen in der Sprache der Menschen, dann flogen drei stählerne Bolzen in die Brust eines der Berittenen, die Restlichen wendeten ihre Pferde und kehrten zur Truppe zurück, die noch etwa zweitausend Schritt entfernt war.

Ungläubig drehte sich Adalia um, ihr wurde wieder schlecht und sie übergab sich. „Ich bin Pygran, ihr seid die Patrouille von Mulljest, nehme ich an?“

„Ich bin Rorondlan Sohn des Rorondast und ich und meine Brüder sind wohl die Patrouille.“ verneigte sich der Zwergenschütze. „Und die letzten Überlebenden. Waren nicht da, als Stadt angegriffen. Heute unser Blut wird fließen und tilgen Schande.“

Die aufgekeimte Hoffnung wurde von diesen Worten sofort vernichtet, denn die kaiserliche Armee war hinter, die von ihren Feinde besetzte Stadt vor ihnen, sie saßen in der Falle. An ihrer Seite Zwergenkrieger, die offensichtlich nur noch willens waren, zu sterben um ihre Ehre wieder zu erlangen.

Die schwarzen Basilisken rückten Näher, ein weiterer Reiter brach aus der Formation aus, vor ihm trieb er zwei nackte Gestalten her, einen Mann und eine Frau. Als er nur noch etwa fünfzig Schritte entfernt war, brüllte er der Gruppe zu: „Hier sind eure Freunde. Wir haben keine Verwendung mehr für sie. Ihr habt Zeit, zu entscheiden, ob ihr euch ergeben oder einfach alle sterben wollt. Entscheidet.“ Dann schlug er mit der flachen Seite seines Schwertes auf Feretz’ Rücken und dieser taumelte auf die Gruppe zu, ihm folgte die kahlgeschorene Adalia.

Vagriana machte ein paar Schritte in ihre Richtung, sah ihre leeren, gebrochenen Augen, ihren quälend langsamen Schritt. Sie waren übel zugerichtet worden und die Hure rannte auf ihre Gefährtin zu und schloß sie in die Arme. Wildara hätte alle warnen sollen, doch sie war zu entsetzt von dem, was sie im Verstand der beiden erblickt hatte und völlig unfähig zu sprechen. Adalia packte Vagrianas kurzen Haare und riß ihren Kopf zurück. Dann verbiss sie sich in ihrem Gesicht. Auch der Untote Feretz schlug mit seinen Klauen um sich und verwundete Esach tödlich am Hals, er fiel röchelnd zu Boden.

 

Merjan saß auf seinem schwarzen Streitroß und beobachtete zufrieden das Schauspiel. Er streckte seine rechte Hand in die Luft und schloß mit seiner Linken das Visier seines Helmes. Seine Hand senkte sich und der Boden bebte unter den Hufen der losstürmenden Kavallerie. Er packte seine Lanze und sog die Luft ein, die durch die Schlitze seines Helmes drang, ja das war es, wofür er lebte.

 

- ENDE -

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.06.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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