Karin Ernst

Alina und Nele

Alina geht mit ihrer Mutter zum Kinderarzt. Sie hatte eine Erkältung und der Arzt möchte noch einmal in ihre Ohren sehen, ob alles wieder in Ordnung ist. Als sie in der Praxis ankommen, ist im Wartezimmer jeder Platz besetzt.

"Da müssen wir ganz schön lange warten“, sagt Alinas Mutter leise zu ihrer Tochter.

"Mama, das ist nicht schlimm. Ich gehe schon mal in die Spielecke", antwortet Alina. Inzwischen hängt ihre Mutter die Mäntel auf.

In der Spielecke ist viel los. Viele Kinder beschäftigen sich hier. So wird es niemandem langweilig. An einer Seite steht ein Mädchen. Ein wenig größer ist es als Alina. Das glaubt zumindest Alina. Richtig erkennen kann sie es nicht, denn das andere Mädchen sitzt in einem Rollstuhl. Alina nimmt sich ein Bilderbuch, muss das fremde Mädchen aber immer wieder ansehen.

Plötzlich spricht eine ältere Frau sie an: "Das tut man aber nicht, kleines Fräulein. Man schaut einen so armen Menschen nicht ständig an.“

Alina wird rot und schämt sich ein wenig. Dann schaut sie das Rollstuhlmädchen an und beide lächeln sich zu. Die Frau schaut pikiert zur Seite.

Alina blickt das Mädchen fragend an. Es nickt zurück und Alina steht auf, um zu ihr zu gehen. Neben ihr ist ein Kinderstühlchen frei. Dorthin setzt sich Alina jetzt.

"Ich heiße Nele", fängt die Fremde an zu reden. "Wie heißt du?“

"Ich heiße Alina", antwortet diese. “Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

"So oft muss ich nicht zum Arzt. Ich bin ziemlich gesund", antwortet Nele.

Alina überlegt. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, ist der doch krank? "Hast du keine Schmerzen?", fragt sie Nele.

"Nein", antwortet diese und lacht, „mir tut nichts weh. Ich kann nur nicht laufen. Der Doktor muss nur manchmal nachsehen, ob alles in Ordnung ist.“

Alina sieht das Mädchen erstaunt an.

"Meine Krankheit heißt Spina bifida. Was das genau ist, weiß ich nicht. Aber ich bin damit geboren worden.“

"Das hört sich ja lustig an. Wie Spinat", sagt Alina.

Die Mädchen prusten los. Sie sind sich schon nicht mehr fremd.

Alinas Mutter hat sich zu Neles Mutter gesetzt. Beide schauen herüber, was ihre Kleinen so lustig finden.

"Schön, dass unsere Töchter sich so gut verstehen", sagt Neles Mutter.

Die Arzthelferin kommt und ruft Nele zum Doktor.

"Ach, wie schade", sagt Nele. "Tschüss, Alina. Vielleicht treffen wir uns mal wieder.“

"Ja, vielleicht. Tschüss, Nele", antwortet Alina. `Schade`, denkt sie, `das wäre eine Freundin für mich.`

Einige Tage später geht Alina mit ihrer Mutter zum Supermarkt.

"Mama, darf ich draußen bleiben? Drinnen ist es immer so voll. Ich bin auch vorsichtig. Hier sind so viele Vögel, denen kann ich zusehen.“

"Gerne, mein Kind", antwortet diese, "aber renn nicht auf die Straße.“

Vier Tauben suchen auf dem Gehsteig nach Futter. Alina beobachtet sie und möchte ihnen nachlaufen, doch dann fliegen sie leider weg.

Als Alina der letzten Taube hinterher sieht, kommt Nele mit ihrer Mutter zum Einkaufen. Das ist eine Freude!

"Wie schön, dass wir uns so schnell wieder treffen." Nele strahlt. "Mama, darf ich hier draußen bei Alina bleiben? Drinnen ist es so eng. Du weißt doch, dass wir mit dem Rollstuhl immer vorsichtig sein müssen, damit ich nichts umfahre.“

"Na gut, ihr beiden. Sicher habt ihr euch auch etwas zu erzählen." Neles Mutter schmunzelt und geht in den Laden.

"Gehst du auch in einen Kindergarten?" Zaghaft fragt Alina das, weil sie nicht weiß, ob Kinder im Rollstuhl in einen Kindergarten können.

"Aber ja", antwortet Nele. "Ich gehe gleich da hinten in den Waldorf-Kindergarten. Die sind alle sehr nett dort. Es macht mir viel Spaß.“

"Schade, dass du nicht in meinen gehst. Dann würden wir uns immer sehen", entgegnet Alina.

"Ja, das wäre lustig", sagt Nele und lacht. Dann erfährt sie, dass Alina fünf Jahre alt ist. "Ich bin schon sechs. Im Sommer komme ich in die Schule", erzählt Nele stolz. "Darauf freue ich mich schon sehr.“

"Ich komme nächstes Jahr auch in die Schule", antwortet Alina. Viel haben sie zu reden.

Als die Mütter aus dem Laden kommen, erzählt Alinas Mutter den beiden Mädchen, dass sie mit Alina morgen zu Besuch zu Nele gehen wird.

"Wie schön", rufen beide Mädchen.

"Dann bis morgen", verabschiedet sich Alina, und alle winken sich zu.

Am nächsten Morgen ist Alina ganz aufgeregt. "Muss ich heute in den Kindergarten, Mama?", fragt sie beim Frühstück.

"Natürlich, mein Mädchen. Aber nachmittags gehen wir Nele besuchen.“

Alina freut sich schon darauf.

Am Nachmittag machen sich beide auf den Weg. Nele und ihre Familie wohnen eine Straße weiter. Sie sind erst vor kurzem hierher gezogen. Als sie zu dem Haus kommen, in dem Nele wohnt, staunt Alina.

"Mama, sieh nur. Dort kann Nele aber wunderbar hochfahren. Das macht sicher Spaß, dort runterzurollen.“

Vor dem Hauseingang ist eine Rampe festgemacht, so dass Rollstühle und Kinderwagen gut hoch- und runterfahren können.

Die Familie wohnt in einem Einfamilienhaus. Alina klingelt und Nele öffnet die Tür.

"Schön, dass du kommst. Komm, ich zeig dir gleich mein Zimmer", ruft sie.

Mama geht mit Neles Mutter ins Wohnzimmer, und Alina folgt Nele ins Kinderzimmer. Vorsichtig sieht sie sich um. Viele Spielsachen hat Nele. Genauso wie sie selbst. Doch was steht dort in einer Ecke, groß und weiß?

"Ist das ein Klavier?", fragt Alina mit großen Augen.

"Ja natürlich, das siehst du doch. Hast du noch nie eines gesehen?", fragt Nele und grinst.

"Doch, in einem Geschäft. Bei uns kann niemand Klavier spielen. Meine Mutter kann aber gut singen. Sie singt in einem Chor", erzählt Alina. Zögernd geht sie zum Klavier. "Ich könnte das sicher nicht. Ist es nicht furchtbar schwer, Klavierspielen zu lernen?", fragt sie.

"Ich weiß nicht", antwortet Nele. "Meine Klavierlehrerin kommt hierher und zeigt mir immer, was ich machen muss. Sie sagt, ich bin ein Naturtalent.“

Beide lachen über dieses lustige Wort. Nele lässt sich nicht zweimal bitten und rollt zum Klavier. Sie muss erst die Bremsen am Rollstuhl feststellen, dann spielt sie Alina etwas vor. Diese kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus.

"Was du kannst. Echt toll hört sich das an", sagt Alina. Anschließend klimpert auch Alina ein wenig auf dem Klavier.

"Dafür kann ich nicht Ballett tanzen", sagt Nele.

"Das könntest du aber.“ Alina überlegt. "Meine Mama hat auch schon gedacht, ob ich in eine Ballettschule gehen sollte", antwortet sie verträumt. "Dazu hätte ich Lust.“

"Das wäre doch total lustig“, freut sich Nele. "Wir werden dann ganz berühmt. Du bist die Tänzerin und ich spiele Klavier dazu.“

Beide amüsieren sich köstlich über diesen Plan.

"Ich werde meine Mama fragen, ob ich bald in die Ballettschule gehen darf", verspricht Alina. Viel Spaß haben die beiden Mädchen an diesem Nachmittag miteinander.

Als Alina sich später verabschiedet, hat Nele eine Idee: "Übermorgen muss ich wieder zur Krankengymnastik. Mama, kann Alina nicht mitkommen? Du weißt, dass Dani nichts dagegen hat, wenn ich jemanden mitbringe.“

"Ja, warum nicht?" Die Mutter streicht Nele über den wirren Haarschopf.

"Wer ist Dani?", will Alina neugierig wissen.

"Das ist meine Krankengymnastin. Eigentlich heißt sie Daniela. Die ist echt nett", antwortet Nele.

Es wird besprochen, dass Nele und ihre Mutter Alina übermorgen abholen werden. Mit dem Auto.

Als es am übernächsten Tag an der Tür klingelt, flitzt Alina sofort los. "Mama, sie sind da. Tschüssi", ruft sie ihrer Mutter zu.

Die Mutter folgt ihrer Tochter an die Tür. Sie begrüßt Nele und deren Mama, während Alina mit großen Augen das Auto umkreist.

"Ihr habt aber ein großes Auto", staunt sie.

"Es muss so groß sein, Alina", antwortet Neles Mutter. "Dadurch kann Neles Rollstuhl einfach hinten hineingeschoben werden und sie muss dabei nicht immer aussteigen.“

Das findet Alina sehr praktisch und setzt sich in den Kindersitz auf den Autorücksitz.

Unterwegs unterhalten sich beide Mädchen angeregt.

"Bist du nicht traurig, dass du nichts machen kannst?", fragt Alina ihre neue Freundin.

"Du siehst doch, was ich alles kann", antwortet Nele. "Okay, ich kann nicht laufen. Aber dafür kann ich Klavier spielen. Wenn ich groß bin, gehe ich in einen Korbballverein. Das macht sicher viel Spaß." Sie überlegt einen Moment. Dann erzählt sie weiter: "Viele Erwachsene, die auch im Rollstuhl sitzen, spielen Korbball. Das habe ich in der Rehabilitationsklinik gesehen. Ich hab oft dabei zugesehen, in einer riesengroßen Sporthalle.“

Nele erzählt noch mehr von dieser Klinik, bis sie vor der Krankengymnastikpraxis halten.

Alina staunt, wie leicht Neles Rollstuhl aus dem Auto gefahren werden kann. In dem Haus der Therapeutin ist ein Fahrstuhl, so dass es für Nele im Rollstuhl einfach ist, in die Praxis zu kommen. Als sie oben sind, öffnet Alina die Tür und Nele rollt hinein.

"Huhu, Dani! Ich bin da", ruft sie.

Eine junge Frau kommt aus einem Zimmer und begrüßt Nele und ihre Mutter.

"Wen hast du denn heute mitgebracht?", fragt Dani und gibt auch Alina die Hand.

"Das ist meine neue Freundin. Sie heißt Alina. Wir haben uns beim Kinderarzt getroffen", antwortet Nele.

"Schön, dass du mitgekommen bist, Alina. Du kannst gerne die Übungen mitmachen", lädt sie die Kleine ein.

"Na, dann wollen wir mal." Die nette junge Frau schiebt Nele in einen Behandlungsraum.

"Viel Spaß, ihr beiden", ruft Neles Mutter den Mädchen hinterher und geht zur Sitzecke. Dort greift sie zu einer Zeitschrift.

Neugierig folgt Alina Dani und Nele. Sie sieht zu, wie die Therapeutin Nele aus dem Rollstuhl hebt und sie auf eine rote Matte legt, die schon auf dem Fußboden ausgebreitet ist.

"Setz dich dazu“, bittet sie Alina.

Diese zieht sich ihre Schuhe aus, krabbelt zu Nele auf die Matte, und beide albern erst ein wenig herum. Dann macht sie die Übungen mit, die Dani ihrer kleinen Patientin zeigt. Am Ende der Behandlung spielen die drei miteinander noch mit einem Gymnastikball Fangen. Das macht Spaß.

"Puh, das geht ganz schön schwer, was Nele machen muss", sagt Alina zum Schluss zu Dani.

"Ja, mein Kind, zum Spaß ist Nele nicht hier. Sie macht die Übungen aber auch schon eine ganze Weile", antwortet diese und setzt Nele wieder zurück in den Rollstuhl.

Alle verabschieden sich voneinander. Die Mädchen fahren mit Neles Mutter wieder heim.

Dort angekommen, fällt Alina noch etwas ein, als sie sich verabschieden will. "Ich habe Sonntag Geburtstag und möchte dich einladen. Magst du um drei Uhr kommen?", fragt sie Nele.

"Mama, darf ich?“, fragt diese ihre Mutter.

"Natürlich darfst du", antwortet ihre Mama. "Mit deinem Rollstuhl wird es ganz gut gehen, weil in Alinas Haus ein Fahrstuhl ist. Bei den letzten vier Stufen kommen wir gemeinsam zurecht.“

Beide Mädchen freuen sich auf Sonntag und verabschieden sich voneinander.

Alina erzählt ihrer Mutter von dem aufregenden Besuch in der Krankengymnastik.

"Hast du auch nicht vergessen, Nele zu deinem Geburtstag einzuladen?", fragt Alinas Mutter.

"Wo denkst du hin." Die Tochter lacht. "Ich freue mich schon sehr, dass sie kommt. Die anderen Kinder werden staunen, was ich für eine tolle Freundin habe.“

Als Alina an diesem Abend ins Bett geht, denkt sie an ihre Freundin. Und an die Behandlung vom Nachmittag. Sie überlegt, ob sie Krankengymnastin werden soll, wenn sie größer ist. Wie Dani. Das würde ihr Spaß machen.

`Oder ich werde Ärztin. Dann kann ich Nele vielleicht wieder ganz gesund machen`, denkt sie, bevor sie einschläft ...

 

*** E N D E ***


(c) Karin Ernst 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.10.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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