Mark Michaelis

Tom ist wieder da

Die Tür im Zug von Buxtehude nach Bremerhaven quietschte bei jeder Erschütterung des Zuges. Draußen zogen dunkle Wolken vorbei und brachten den lang ersehnten Regen. Tom stand verträumt vor der Tür und schaute hinaus.

Er wartete auf die nächste Station, wo er aussteigen werde. "Ich höre das Quietschen. Überdeutlich.", dachte Tom. Es war fast so, als sei die Welt zusammengeschrumpft auf Tom, diese Tür und das Türglas, durch das Tom hinauf schaute zu den Wolken. Und das Quietschen. "Für mich ist das Quietschen so real wie nichts anderes. Aber dort draußen, dort existiert dieses Quietschen nicht." Und die Blicke zum Himmel gerichtet: "Und dort, in den Weiten des Weltalls, existiert auch diese Tür nicht, existiere ich nicht. Die Erde, weniger als ein Sandkorn an einem Strand von lauter Galaxien." Tom träumte manchmal. Aber diesmal war es anders. Irgendwie surreal. Tom fühlte sich unbedeutend und klein.

Der Wind rüttelte immer kräftiger an der Tür. Plötzlich wich das Quietschen einem Krachen. Die Tür wurde herausgerissen und der Wind fing an an Tom zu zerren. Tom war nicht erschrocken. Für ihn war die Wirklichkeit einen Schritt zurück getreten. Er ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten und tat einen letzten Schritt in die Unwirklichkeit. Sofort wurde Tom vom Wind erfasst und kräftige Böen trugen ihn davon. Er sah den Zug unter sich verschwinden, der langsam, gebunden an das Band aus Gleisen, durch die Landschaft kroch.

Tom verschwand im Grau der Wolken. Sie hüllten ihn ein wie ein weiches Federbett. Tom schloss die Augen und spürte wie der Wind an seiner Hose zog und durch sein Haar wirbelte. Tom war allein. Der Wind nahm ihn bei der Hand und führte ihn in eine Welt der Stille. Tom wurde klein, zu einem Nichts - zu wenig mehr als einem Gedanken. Der Schleier der Wolken öffnete sich und der klare Sternenhimmel offenbarte sich.

Es war still. So still, dass es fast schmerzte. Dafür sahen Toms Augen um so klarer. Er sah die Erde. Wunderschön von hier oben. So friedlich - so still. Keiner hier draußen würde vermuten, dass sich Hausmeister Bertholt gerade mit Frau von Zahn stritt, die es gewagt hatte, barfuß über seinen Rasen zu gehen. Keiner vermutete, dass gerade in Afrika ein Kind vom Hunger erschöpft einschlief und nie mehr aufwachen sollte. Keiner hätte erahnen können, dass die Straßenbahn in New York gerade schrill klingelnd in die Eisen ging, weil ein betrunkener Mann mitten auf den Gleisen stand. Und auch der Knall, mit dem der Selbstmordattentäter in der Luft zerrissen wurde und die entsetzlichen Schreie der Passanten, die kniend ihre verblutenden Kinder in den Armen hielten - nichts davon war hier zu hören.

Der Mond glitt langsam an Tom vorbei und verschwand anschließend blitzschnell im Dunkel des Weltraums. Saturn, die Ringe prächtig. Die Erde nur noch ein heller Punkt. Galaxie für Galaxie sausten an Tom vorbei. Die Erde: nicht mehr existent. Die Sonne - das Sonnensystem: Alles war hier ein NIchts. Tom fühlte sich klein, noch kleiner, eigentlich gar nicht existent.

"Nächster Halt: Sellstedt" - Tom nahm seinen Rucksack. Die Tür öffnete sich und Tom kehrte zu seiner Familie zurück. Zu seiner Frau, seinen Kindern. Sie sind real, füllen sein Herz. Existieren. Tom ist wieder da.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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