Karl-Heinz Fricke

Goslarer Glossen

Als ich neulich in meinen Erinnerungen kramte, kam mir die Familie Kurs ins Gedächtnis, die in meier Heimatstadt eine Roßschlächterei betrieb. Nur alte Goslarer können sich an diese Zeit erinnern. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich nicht nur die Wohnung, sondern auch der Laden, in dem für Liebhaber Pferdefleisch appetitlich angeboten wurde. Rouladen waren besonders beliebt und auch Würstchen, die wie eine Kette aneinandergereiht waren und im Volksmund "Zieschen" genannt wurden. Das Obergeschoß enthielt eine Dreizimmer Wohnung, in die im Jahre 1934 meine Verwandten ,Onkel Heinrich und Tante Erna, einzogen. Onkel Heinrich diente als Zwölfender im 100000 Mann Heer bei den Goslarer Jägern. Zu der Zeit war der spätere Generalfeldmarschall Erwin Rommel der Kommandeur des Bataillons. Onkel Heinrich war Rommels persönlicher Fahrer.

 

Doch zurück zum Hauptthema. Nach Beendigung des 2. Weltkrieges brach eine hungrige Zeit für die Stadtbewohner an. Wertgegenstände wurden in den umliegenden Dörfern als Tauschware zu den Bauern gebracht, um nicht zu verhungern. In der Stadt blühte der Schwarzhandel, nicht die wertlose Reichsmark, sondern Zigaretten bildeten die Währung. Alle Lebensmittel waren rationiert, aber es war nicht genug, um einer ausreichenden Ernährung gerecht zu werden. Eine Ausnahme bildete das Pferdefleisch, denn man bekam die doppelte Menge auf seine Fleischmarken. Allerdings waren Pferde, die geschlachtet werden konnten, kaum aufzutreiben. Die jüngeren Tiere waren in den Kriegsjahren von der Wehrmacht requiriert worden, und in den Dörfern gab man nur altersschwache Tiere, zur Schlachtung frei, die nicht mehr vor den Pflug gespannt werden konnten.

 

An Schlachttagen war deshalb beim Pferdeschlachter Hochbetrieb. Die doppelten Rationen lockten die hungrigen Bürger an, die bereits nach Mitternacht eine große Schlange bildeten, um am Morgen oder Nachmittag noch ein Stück Fleisch für den Sonntag zu ergattern. Familienmitglieder lösten sich mehrmals nach Stunden in der Schlange ab. Es passierte jedoch vielen, die sich erst später angestellt hatten, dass alles Fleisch verkauft worden war und sie leer ausgingen.

 

Kurz nach dem Kriege wurden verschiedene Sportarten wieder ins Leben gerufen. Die beiden großen Sportvereine der Stadt, der GSC 08 und der MTV, gaben der Jugend Gelegenheit Fussball und Handball zu spielen und man gründete auch eine Boxriege. Als alle Gewichtsklassen mit mindestens einem Kämpfer belegt worden waren, veranstaltete man Boxabende gegen andere Riegen. Der Sohn des Pferdeschlachters Karl, war allgemein als Schläger bekannt und es gab ihm die Gelegenheit sich legal im Ring auszutoben. Karl war in der Schwergewichtsklasse, und der sehr aggressive Karl schickte seine Gegner schon meistens in der ersten Runde ins Traumland. Einmal besuchte ich einen solchen Boxabend im Goslarer Odeon Theater, in dem normalerweise Operetten und Schauspiele aufgeführt wurden. Eine Riege aus Hamburg war zu Gast. Den Hauptkampf bestritt Karl Kurs gegen den Hamburger Schwergewichtler. Ein heißer Kampf wurde erwartet, weil auch Karls Gegener mehr Gewinne als Niederlagen zu verzeichnen hatte. In der ersten Runde irritierte er Karl mit Leichtfüßigkeit und plötzlichen Geraden und Karls Schwinger landeten in der Luft. In der zweiten Runde geschah dann das Unglaubliche. Karl hatte den Gegner in eine Ecke gedrängt, aus der es kein Entrinnen zu geben schien. Zu seinem und des Publikums Entsetzen rutschte ihm plötzlich die Hose zu Boden und das Goslarer Boxidol stand entblößt im Ring. Flugs zog er die Hose wieder hoch, um den Kampf fortzusetzen. Der Ringrichter indessen war anderer Meinung, und unter lauten Protestrufen disqualifizierte er den erstaunten Goslarer. Sofort stürmte der stiernackige Vater in den Ring und schrie in drohender Pose den Ringrichter an, dass der Kampf mit der Hose nichts zu tun habe. Auch einige Heißsporne, die sich betrogen fühlten, bedrohten den Unparteiischen. Der Tumult fand schließlich ein Ende, als mehrere Polizisten angerückt kamen.

 

Das traditionsreiche Goslarer Schützenfest ist eines der schönsten und größten im Lande Niedersachsens. Für uns Kinder war das Fest im Juli immer ein Höhepunkt des Jahres. Das große Osterfeld war vollgestellt mit, Schießbuden, Bierzelten, Karussells und Ständen, die Fischbrötchen, Bock- und Bratwürste, türkischen Honig und andere Leckereien anboten. Der billige Jacob hielt lustige Reden und schnellte dabei seine Hosenträger in die Luft und nicht selten blieb einer davon an den Drähten der Lichtleitung hängen.

 

Den Schaubuden galt unser besonderes Interesse. Mit den paar Groschen in der Tasche konnten wir keine großen Sprünge machen und so ergötzten wir uns der Vorschau, die auf den verschiedenen Bühnen geboten wurde, um die Zuschauer für einen Eintrittspreis von 25 Pfennig in das Zelt der "großen Attraktion" zu locken. Die Boxbude war für uns immer die Sensation. Eine vollständige Riege, angeführt vom schwergewichtigen Besitzer, der sich als ehemaliger Marine Boxmeister ausgab, flexte auf der Bühne die Muskeln. Männer aus der Zuschauermenge wurden aufgefordert, gegen Gleichgewichtige zu kämpfen. Dicht gedrängt standen die Schaulustigen vor der Bühne und hörten teils ernst, teils belustigt, den hochtrabenden Reden zu. Sollte derZuschauer siegen, würde er den großen Betrag von 30 Mark erhalten. Natürlich fanden sich nicht oft Leute, die es mit versierten und trainierten Boxern aufnehmen konnten. Plötzlich meldete sich ein Mann, der den Ringmeister mit herausfordernden Worten verhöhnte und ihm zeigen würde, was eine Harke ist. Der Marinemeister erklärte den Zuschauern, dass jeder große Reden schwingen könne. Daraufhin schrie der Kerl aus der Menge, er würde die Herausforderung annehmen. Bevor die Zuschauer in das Zelt strömen konnten, wurden einem seriös aussehendem Mann die Geldscheine überreicht, die der Sieger erhalten würde. Eine Sensation schien sich anzubahnen. Auch ich spendete das wenige Geld, das ich noch besaß.

 

Als ich am folgenden Tage wieder vor der Boxbude stand, wiederholte sich dasselbe Manöver. Derselbe Herausforderer wechselte wieder Worte mit dem Marinemeister, um das Publikum anzuheizen. Es war eine abgekartete Komödie. Was würde wohl passieren, tauchte wirklich einmal ein echter Herausforderer auf?. Das geschah im folgenden Jahr.

 

Der inzwischen um ein Jahr ältere Marinemeister sah immer noch recht fit aus. Im Publikum meldete sich ein junger Mann, der vielen Goslarern bekannt war. Es war Karl Kurs, der Amateurboxer und Sohn des Pferdeschlachters. Maliziös lächelnd nahm der Ringmeister die Herausforderung an. In Minutenschnelle war die Vorstellung ausverkauft. Es war der erste Tag des Schützenfestes und für das Boxunternehmen sollte es auch der letzte sein. Nicht nur, dass der Marinemeister nach einigen erbarmungslosen Schlägen zu Boden ging, er musste auch mit einem Kiefernbruch ins städtische Krankenhaus. Die Boxbude wurde geschlossen. Auch in den folgenden Jahren kam sie zu unserem Leidwesen nicht wieder. Für Goslars Boxidol hatte der Kampf jedoch noch ein Nachspiel. Als Amateur hatte er Geld angenommen. Dafür wurde er für ein Jahr suspendiert.

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