Ariane Rastel

Langohr und Kurzohr

 

Langohr war ein wunderschöner kuscheliger braunfelliger Feldhase mit den größten Ohren, die ihr jemals gesehen habt. Sie reichten ihm wie eine Schleppe von zwei ganzen Metern hinter seinem Körper her. Außen waren sie mit zartesten Haaren versehen, die man sich vorstellen kann, kleine weiße flaumige Fellteilchen. Innen hatten sie noch feinere Haare auf rosa Haut. Langohr war ein Hasenkind, das bei weitem und die jemals überlängsten Ohren aller Zeiten besaß. Manchmal sah ihn Mutter Hase besorgt an, wenn er die Ohren übereinander stülpte und mit den Geschwistern draußen spielte. Sie fragte Vater Hase: „Meinst du nicht, er wird Schwierigkeiten bekommen später – in der Hasenschule und danach?“. Sie runzelte ihre Hasenbrauen über der Lesebrille. Vater Hase gab ihr einen Kuss auf ihre Löffel und raunte ihr ins Ohr: „Im Gegenteil, er ist etwas Besonderes. Er muss das nur wissen und verstehen.“ Die Hasenmutter wollte ihrem Hasenmann glauben, aber sie hatte schon viele Hasenkinder mit ihm und wusste, dass fremde Hasenkinder sehr grausam sein konnten, Selbstbewusstsein hin oder her. Trotzdem schmiegte sie sich an ihren Hasenmann und seufzte: „Vielleicht ist es so. Wir wollen das Beste für unseren Sohn hoffen.“ Langohr wuchs größer und mit jedem Jahr auch seine Ohren. Seine Geschwister konnten die Ohren als Rutsche verwenden. Dazu wurden sie auf einer  Astgabel aufgespannt und die Brüder und Schwestern rutschten juchzend hinab – sommers und winters – mal im Warmen, mal im Schnee. War es zu heiß, konnte er die Ohren wie einen Hubschrauberpropeller über der Familie kreisen lassen und fächelte  allen kühle Luft zu. Die Familie genoss gegenüber anderen Hasenfamilien einige Vorteile wegen der vielfach einsetzbaren Ohren. Sie dienten als Tischdecke, denn die Familie aß gerne am Feld hunderte von Kleeblättern in der Morgen- und Abendsonne. Auch schattenspendend konnte Langohr die langen Löffel aufklappen und dann saß die Familie sich unterhaltend vor den Ohren. Langohr bekam alle Aufmerksamkeiten seiner  Lieben. Er genoss das, denn manchmal in der Nacht fragte er sich schon, wie diese überlangen lästigen Schlappohren zu beseitigen wären. Natürlich konnte die ganze Familie nachts ein wunderbares Kopfkissen genießen, aber er selbst? Was hatte er selbst von den Ohren? Manchmal musste er sogar die Vorräte auf den Ohren schleppen, damit die großköpfige Familie besonders viel essen und viele Verwandte und Bekannte einladen konnte. Er kam sich wie ein Sklave seiner Ohren vor. Doch alle liebten ihn, das wusste er im Herzen. Und er selber hatte ein gutes Herz. Außerdem war er immer zu Späßen aufgelegt. Er liebte alle Mithasen. Eines Tages kam er nach den Ferien in die Hasenschule und in Biologie nahmen sie in der ersten Woche das Hasenohr durch und das Tolle war, dass alle anderen Hasen in einer einzigen Reihe durch ein Mikroskop sein Ohr betrachten konnten. Der Lehrer vergaß allerdings, dass er selbst auch gerne ein Ohr betrachtet hätte. Aber er sagte nichts, die anderen waren zufrieden und das machte Langohr auch glücklich. So verging die Zeit in der Hasenschule und Langohr hatte immer Freunde, weil alle mit seinen Ohren zu tun haben wollten. Aber keiner fragte ihn jemals, ob er mit den Ohren selber so glücklich war. Nur eine kleine Frage hätte er sich einmal gewünscht. Die Ohren waren inzwischen 3,80 Meter lang. In der Nacht konnte sich die Hasenfamilie ein Kopfkissen sowie eine Decke aus den Ohren bilden. Alle fühlten sich so richtig kuschelig wie sie da so schliefen. Musste er jedoch in der Nacht einmal hinaus, wurden alle geweckt, denn er musste ja vor die Höhle laufen. Morgens kitzelte die kleinste Hasenschwester Langohr am Löffel und dann schlappte er wie ein Elefant das Ohr in die Luft und rief: „Aufstehen, meine Lieben!“ Wie er jedoch immer größer und älter wurde, da befiel ich immer mehr die Schwermut und die Trauer über seine so langen Ohren. Tagsüber lief er nach der Hasenschule in den Wald und dachte bitter nach, wie er mit diesen Ohren jemals eine Hasenfrau finden sollte – später mal. Er konnte nicht einmal mehr lachen über diese Ohren, sie waren so schwer im Gewicht, mitunter schmerzten sie ihn richtig. Manchmal rollte er sie mit Blumenschnüren auf wie auf einen Lockenwickler oder einen Feuerwehrschlauch – aber er kam sich richtig dämlich vor damit. Außerdem wollten alle immer sehen, wie er seine echten Ohren zur Schau trug. Darüber hatte er auch schon einmal nachgedacht. Zum Zirkus zu gehen und mit den Ohren Geld zu verdienen als Akrobat. Mit dem Geld könnte man dann zu einem Hasendoktor gehen und die Ohren verkürzen oder jemandem eine Verlängerung seiner eigenen Ohren spenden. So dachte er hin und her. Eines Tages kam er heim zur Mutter. An seinen riesigen Schlappohren hingen etliche Kilos Tannennadeln, Langohr war völlig ermüdet vom Heimweg nach der Schule. Die Mutter nahm ihn in den Arm und flüsterte ihm etwas Liebevolles ins Ohr. Da begann er zu weinen und sagte: „ Mutter, ich habe dich so lieb, du hast mir mein Hasenleben und ein gutes und geduldiges Herz geschenkt, aber ich habe diese großen Ohren, kannst du mir nicht helfen, sie kürzer zu machen? Ich leide so unter diesen Lappen!“ Die Mutter schluckte, dann sagte sie: „Wenn das dich so plagt, dann werden wir eine Lösung finden, mein Sohn!“ und sie gab ihm einen zärtlichen Knuff in die Seite und kraulte ausgiebig die Riesenohren, so dass die kneifenden Tannennadeln abfielen. So schlief Langohr geborgen ein – und als die Familie am Abend versammelt um den Tisch saß, ließ die Hasenmutter Langohr schlafen und sich ausruhen und hielt eine Familienkonferenz, was zu tun sei. Am nächsten Morgen entschuldigte die Mutter Langohr von der Schule und gab dem Hasenbruder einen Brief für die Lehrerin mit. Dann packte sie einige Möhren, Kohlblätter und ein großes Büschel mit Kleeblättern ein und mahnte Langohr mit ihr mitzukommen, sie sollten eine Lösung für das Ohrenproblem finden. Sie durchwanderten viele Felder und Wälder, schliefen in Mulden, Höhlen und Stallhütten. Und eines Tages gelangten sie zu einer wunderschönen Hasenhöhle. Die Mutter rief einige Worte hinein und bald kam eine dicke lächelnde Häsin die Höhle hinaus. Die Hasenmütter umarmten sich. Dann bat die fremde Hasenmutter sie in ihre Höhle. Drinnen saß ein älterer Hasenvater mit einem großen Schnurrbart an einem gedeckten Tisch mit Kohlblättern und lud müde die Mutter von Langohr zu einem Abendessen mit ihrem Sohn ein. Ein Hasenmädchen mit unheimlich verschwindend kleinen Ohren lag in einem Möhrenblätterbett und schlief. Langohr schielte in das Bett und fand das Mädchen mit ihren grauweißen Kurzohren allerentzückendst. Bei Tisch konnte er kaum die Augen von ihr lassen, die Kohlblätter blieben unbeknabbert auf dem Kohlblätterteller liegen. Seine Mutter unterhielt sich mit den anderen Haseneltern und rollte die Augen, wenn sie ihren Sohn ansah. Doch nach dem Essen, sagte die Mutter: „Wir müssen reden. Die Hasentochter dieser Familie hat sehr kurze Ohren, diese bieten ihr kaum Schutz für ein Hasenleben. Möchtest du einen Teil deiner Ohren abnehmen lassen und ein Hasendoktor näht sie Kurzohr an? Bist du so mutig?“ Langohr dachte nicht lange nach, als er die schlafende Kurzohr ansah. „Natürlich, wann kann es losgehen?“ , fragte er begeistert, denn die Aussicht Kurzohr zu helfen und gleichzeitig sein eigenes Leiden zu lindern, stimmten ihn froh. „Morgen wird es soweit sein“!, sagte die Mutter zärtlich zu ihm. Am nächsten Morgen kam recht früh ein Hasendoktor mit einem seltsam duftenden Kraut in die Höhle zum Frühstück. Er knabberte einige Kohlblätter und dann gab er Langohr ein dunkelgrünes bitteres Blatt zum Essen. Er schlief sofort ein. Auch Kurzohr bekam das Blatt zu essen. Bald lagen beide auf dem Boden der Höhle, welche mit ausgefallenen Hasenfellresten ausgelegt war. Der Hasendoktor nahm eine große Schere und schnitt Langohr viel Ohr ab, was er sorgfältig zur Seite legte. Dann maß er das Ohr von Langohr. Es war noch immer zu lang. Er schnitt noch einen Teil von jedem Ohr ab. Sodann nähte er Kurzohr zwei zurechtgeschnittene Teile an ihre Ohren an, versehen mit einer weißen Umrahmung sowie nadeligen Druckknöpfen. Dann packte er die restlichen Ohrteile in eine Rindenholzkiste, verabschiedete sich bei den beiden Haseneltern und sagte: „Bleiben sie da, wenn die beiden aufwachen und erzählen sie ihnen, was passiert ist. Für die Operation berechne ich 20 Stängel Löwenzahn sowie 25 Kohlköpfe. Einen schönen Tag noch!“ Dann hoppelte er mit der Kiste fort. Die Eltern winkten ihm nach und waren gespannt auf die Ergebnisse. Nach einiger Zeit wachten die Hasenkinder auf. Sie sahen sich gegenseitig an und kuschelten sich ineinander, sodass die Haseneltern ihre helle Freude hatten. Keiner schien Schmerzen zu haben. Es gab ein Riesenfest und alle bestaunten die wundersame Veränderung der beiden Hasen.  Alles was zu knabbern in Feld und Wald wuchs, das kam auf den Tisch. Und während alle feierten, fragte Langohr Kurzohr, ob sie nach Schulschluss die nächsten Tage  bei ihnen vorbeikommen würde und Kurzohr sah Langohr verliebt an und seufzte mit ihren halbfarbenen Ohren: „Gerne liebes Langohr, äh - wie soll ich dich denn nun nennen?“

 

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