Stefan T. Pinternagel

Der Steg des Doktors

Es war nicht so, dass die jungen Burschen keine andere
Alternative zum Steg des Doktors gehabt hätten – tatsächlich gab es entlang des
Flusslaufs genügend schöne und flache Stellen, von denen aus man ins Wasser
gehen konnte. Aber nur auf dem Anwesen des Doktors gab es diesen Steg und ein
ausreichend tiefes Flussbett, um sich mit einem Hechtsprung in das kühle Nass
zu stürzen. Dazu kam noch die Wiese, die sich hinter dem Haus des Doktors
erstreckte, saftig grün, selbst im trockensten Sommer, weil der Doktor genügend
Geld hatte, seinen Rasen zu sprengen.
«Ein gepflegter Garten ist das Alpha und Omega eines
gepflegten Lebensstils», pflegte sich der Doktor selbst zuzumurmeln und er
nickte dazu kaum merklich mit dem Kopf und betrachtete die Knaben, die sich auf
seiner Wiese in der Sonne räkelten.
Hin und wieder ließ er auch Kaltgetränke kredenzen. Limonade
oder Orangensaft. Manchmal auch Apfelsaft. Die Gläser und die Karaffen mit den
Säften standen in der Regel auf einem mit einem weißen Tuch gedeckten Tisch
ganz in der Nähe der Terrasse, auf der sich der Doktor in seinem Schaukelstuhl
niederzulassen pflegte.
Der Doktor war unverheiratet und Gynäkologe. Die wenigsten
seiner jungen Badegäste wussten, was ein Gynäkologe eigentlich war und die, die
es wussten, die Älteren, lächelten zwar vielsagend, behielten ihr Wissen aber
hinter dieser Maske verborgen.
Den Meisten war es ohnehin gleichgültig, was ein Gynäkologe
war – wichtig waren in diesen Sommern nur der Steg und der Fluss und die
Möglichkeit, sein Können vor den anderen Jungen unter Beweis zu stellen. Es war
ein Springen und Hechten und ein Sich-aus-dem-Wasser-Ziehen, dass es eine wahre
Freude war. Manchmal mussten die Jungen sogar anstehen, um mit ihrem Können zu brillieren.
Einer der großen Vorbilder war Marc, der mit seinen 14
Jahren zu den Burschen mittleren Alters gehörte. Für die Jüngeren war er ein
Idol, die Älteren sahen auffällig oft weg, wenn er zu einem seiner perfekten
Hechtsprünge in den Fluss ansetzte – oder sie überspielten ihren Neid mit
abschätzigen Bemerkungen.
Ihr Neid beschränkte sich dabei nicht nur auf das Können des
Kontrahenten, sondern auch darauf, dass er in ihren Augen zweifelsohne zu den
Lieblingen des Doktors gehörte. Immerhin war er derjenige, dem der Doktor vor
einigen Tagen eigenhändig ein Glas Limonade eingeschenkt und überreicht hatte.
Und das, obwohl Marc, trotz seines Namens, kein Hiesiger war, sondern ein
Bastard mit schwarzen Locken und verräterischer dunkler Haut.
Auch Marcs Glück bei den Mädchen im Dorf war den Älteren ein
Dorn im Auge, obwohl die Mädchen, aus welchen Gründen auch immer, keinen Zugang
zum Paradies des Doktors hatten. Es galt als ungeschriebenes Gesetz, dass nur
Knaben dort geduldet wurden und keiner hätte es gewagt, seine Freundin – oder
gar nur die Schwester – mitzubringen.
Der Doktor saß an diesem Samstag Nachmittag wie gewohnt in
seinem Schaukelstuhl und sein Interesse galt den Knaben und deren
unverbrauchter straffer Haut, ihren muskulösen und sehnigen Körpern, die das
Licht der Sonne zu reflektieren schienen. Wunderbare nasse Leiber, von denen
man nicht sagen konnte, ob es Schweiß oder Flusswasser war, was da auf ihnen
glitzerte.
Der Doktor sah schnell nach links und rechts, ob nicht
jemand seine Blicke oder Gedanken verfolgte. Er lenkte seine Blicke um, sie
wanderten zum Fluss, wanderten darüber hinweg bis hinüber auf die andere Seite,
wo die blütengesprenkelten Äste der Bäume bis zum Wasser hinab hingen. Was für
eine herrliche Aussicht! Wie gerne hätte er jetzt an einer dieser fernen Blüten
gerochen, sie genauer betrachtet, sie in sein Knopfloch gesteckt! Er seufzte
tief.
Vielleicht war es die Hitze oder der Übermut an diesem
lebensbejahend schönen Tag oder die zweite Flasche «La Côte», oder vielleicht
war es auch alles zusammen, was ihn dazu antrieb, seinem spontanen Wunsch
nachzugeben. Er klatschte unvermittelt in die Hände und labte sich an den
irritierten Blicken, die in seine Richtung schossen.
Der Doktor hatte etwas zu sagen! Man hielt inne. Selbst der
Junge, der auf dem Steg zu einem Sprung angesetzt hatte, verharrte in seiner
Bewegung als wäre er in Blei gegossen.
«Meine lieben Freunde», sagte der Doktor und legte eine
Pause ein, um die vorherrschende Spannung weiter auszubauen. «Ich möchte ein
Wettschwimmen ankündigen. Ein Wettschwimmen auf die andere Seite und wieder
zurück.»
Kampfeseifriges Lächeln machte sich auf den Gesichtern der
Knaben breit. Darauf war noch nie einer von ihnen gekommen. Stets waren sie in
den Fluss gesprungen, hatten tief getaucht und ein paar Meter geschwommen, um
sich dann baldmöglichst zurück zum Ufer und dem Steg zu bewegen, um erneut zu
springen oder sich auf der Wiese auszuruhen. Aber hinüber zu schwimmen, quer
hinweg über die Strömung, das hatte in all den Jahren noch keiner gewagt.
Der Doktor fühlte bei der ausgefallenen Idee so etwas wie
einen trunkenen Stolz in sich. Und der verstärkte sich noch, als er in die
Gesichter der Jungen sah. Er erhob sich schwerfällig, nahm noch einen Schluck
Wein – solche Momente mochten gefeiert werden – und begab sich zum Steg, wo er
sich wie ein Bademeister positionierte. Brust raus, Bauch rein.
«Wer mir als Erster eine Blüte vom anderen Ufer überreicht»,
sagte er mit gewichtiger Stimme, «dem soll ein lebenslanges Baderecht auf
meinem Grundstück garantiert sein!».
Die Badegäste sahen einander fragend an – dann erhellten
sich ihre Gesichter.
Für die jungen Männer war ein lebenslanges Recht etwas
schier Unabsehbares und von daher nicht weniger wertvoll als die Liebesschwüre
junger Mädchen; ja, vielleicht sogar noch wertvoller, da man es allein genießen
konnte.
Die Älteren, allen voran Lukas, der Sohn des Schusters,
sahen ihre Zeit gekommen, sich die Gunst des Doktors zu sichern -  die lebenslange Gunst wohlgemerkt. Lukas nahm
sich vor, aus diesem Wettstreit als Sieger hervorzugehen. Es war ja nicht
auszumalen, was für eine soziale Stellung er sich innerhalb seines
Freundeskreises – und des ganzen Dorfes – damit erschwimmen konnte. Ganz
abgesehen von der Möglichkeit, den verhassten Marc mit seiner Sprungkunst und
seinem Glück bei den Mädchen nun endlich auf seinen Posten verweisen zu können.

Ehe es sich der Doktor versah, umkreisten ihn auch schon
Alle und jeder bettelte darum, sich als Erster vom Steg in die Fluten stürzen
zu dürfen. Der Doktor sah sich einem Dilemma ausgesetzt, dass er nicht bedacht
hatte. Wie allen Knaben gerecht werden? Es konnten höchstens zwei Jungen
gleichzeitig an der Kante des Steges stehen. Was war mit den anderen? Es gab
nur diesen einen schnellen Weg ins Wasser; vom Ufer aus konnten die Knaben zwar
in den Fluss rennen, aber nicht springen, und so ein Sprung brachte gleich
einen großen Vorteil ein.
«Wir starten am Ende der Wiese», sagte der Doktor und fühlte
sich in diesem Moment von salomonischer Weisheit durchtränkt. «Wer am
schnellsten läuft, ist als Erster am Steg und im Wasser und damit seinem Ziel
ein gutes Stück näher.»
Nun gab es kein Halten mehr. An der Hecke, nicht einmal 30
Meter vom Fluss entfernt, drängten sich die Jungen um eine gute
Ausgangsposition und der Doktor musste über so viel Enthusiasmus sanft lächeln.
Ach, die Jugend!
«Bitte in einer Reihe aufstellen», forderte der Doktor und
die Knaben taten, wie ihnen befohlen und wie sie es im Turnunterricht gelernt
hatten. Bald nun standen sie also in Reih und Glied und der Doktor ließ seinen
wohlwollenden Blick über angespannte Körper und verbissene Gesichter gleiten.
«Auf die Plätze
Fertig
Los!»
Und schon rannten sie. Rannten wie die Verrückten, zuerst
noch nebeneinander, dann immer enger, trichterförmig, auf den Steg zu.
Ellenbogen wurden eingesetzt. Dann wurde ganz offensichtlich geschubst. Dann
gestoßen. Marc, von einigen Älteren bedrängt, ging beinahe zu Boden, fand aber
noch im Lauf sein Gleichgewicht wieder und sprintete weiter. Schon sprangen die
Ersten in den Fluss, Lukas, dann Jörg und Markus… und erst jetzt, als Vierter,
stieß sich Marc kräftig von der Kante des Stegs ab, schnellte durch die Luft,
ging nieder und tauchte wie ein Kormoran ins Wasser. Ehe sich’s Markus versah,
war er auch schon von Marc untertaucht und überholt, der Krauskopf platzte
durch die Wasseroberfläche und schwamm weiter, als müsse er nicht einmal Atem
holen, als wäre er vom Vogel zum Fisch mutiert. Markus gab sich alle Mühe, den
jüngeren Knaben einzuholen, aber der kraulte schon an Jörg vorbei und war jetzt
an zweiter Stelle, zwar immer noch hinter Lukas, doch es war absehbar, dass er
ihn einholen würde; spätestens auf dem Rückweg! Im Moment aber lagen die ersten
Plätze noch dicht beieinander und die Jungen erreichten nun die Mitte des
Flusses. Hier war die Strömung stärker als am Ufer und alle vier wurden einige
Meter abgetrieben. Sie gaben ihr Bestes, kraulten und strampelten und schwammen
weiter, bis die Strömung überwunden war. Die Blüten der Bäume schienen jetzt
zum Greifen nah! Weiß und großblättrig und verlockend schillerten sie aus dem
grünen Geäst.
Die Reihenfolge noch immer unverändert:
Als erster Lukas, dann, etwa drei Meter hinter ihm Marc.
Jörg und Markus strengten sich an und holten mit jedem Zug ein wenig auf.
Dann waren die ersten Äste erreicht und Lukas versuchte eine
der Blüten abzureißen, aber – was für ein Missgeschick – er glitt ab und
platschte in den Fluss zurück. Noch im selben Moment stieß sich Marc vom
steinigen Flussbett ab, schnellte bis zur Hüfte aus dem Wasser und seine Hand
schoss zielstrebig empor. Er riss eine Blüte ab, hielt sie fest in seiner Faust
umklammert und für den Bruchteil einer Sekunde sah er aus wie ein
fleischgewordenes Siegerdenkmal!
»Dieser verfluchte Marc!« dachten Jörg und Markus unisono.
So jung und so schnell! Das ging nicht mit rechten Dingen zu, da musste ein
Zauber am Werk sein, irgend so ein Hottentottenzauber. Was für eine Schande,
von einem Auswärtigen überholt zu werden, noch dazu von einem Jüngeren!
Ähnliche Gedanken schienen auch Lukas durch den Kopf zu
gehen, als er wieder auftauchte und sah, wie sich Marc mit der Blüte in der
Hand anschickte zurück zu schwimmen. Dann wurde der Krauskopf plötzlich nach
hinten gezogen und sein Schädel versank für kurze Zeit im Wasser.
«Recht so!» dachte Markus erleichtert, denn er erkannte,
dass Lukas ein Bein von Marc erwischt hatte und ihn nun unter Wasser zog.
Markus näherte sich Marc und auch Jörg war schon da und sie bekamen den Körper
des Jüngeren zu fassen und tauchten ihn und sie zerrten ihn abwechselnd hinab,
wieder und wieder, lachten und gröhlten dabei, spornten einander an, gerieten
in einen kurzzeitigen unbeschreiblichen Rausch. Was für ein Gefühl der Macht!
Dieser Leib, der sich unsichtbar und doch spürbar unter ihnen wand, der keine
Chance hatte gegen sie, diesmal nicht, nein, diesmal waren sie die Besseren!
Eine große Menge Luftblasen sprudelte an die Oberfläche. Hei, was für ein Spaß!
Ihre Augen blitzen vor Freude. Noch einmal in die Locken gefasst und den Kopf
nach unten gedrückt, noch einmal gegen die Schultern getreten, bis sich der
Körper nicht mehr bewegte, bis er langsam von ihnen wegtrieb, von der Strömung
mitgenommen wurde.
Es dauerte eine Weile, bis der Doktor auf der anderen Seite
des Flusses registrierte, was dort drüben gerade vor sich ging. Hatte er zu
Anfang noch geglaubt, es würde sich um eine harmlose Balgerei unter Knaben
handeln, erfasste er nun in einem Augenblick der Eiseskälte, dass Marc nicht
mehr auftauchte. Einige der anderen Kinder hatten von alledem nichts mitbekommen,
schwammen weiterhin wie die Besessenen, um eine Blüte zu ergattern. Andere
hatten den Wettkampf abgebrochen, ihre Köpfe wippten wie Bälle auf dem Wasser
und ihre Augen starrten voller Entsetzen und Unglaube auf Lukas, Jörg und
Markus, die noch immer lachten, aber nicht mehr laut und ehrlich. Etwas in
ihrem Lachen klang falsch.
»Holt den Jungen!« rief der Doktor, als er sich aus seiner
Erstarrung gelöst hatte. Seine Gedanken waren nun wieder klar und kein bisschen
trunken. Nur sein Kopf fühlte sich noch immer an, als wäre er in Watte gepackt.
Am liebsten wäre der Doktor selbst in den Fluss gesprungen, um nach Marc zu
tauchen, aber er konnte nicht schwimmen – bei Gott! – er konnte doch nicht
schwimmen!
«Holt den Jungen aus dem Wasser!» schrie er noch einmal und
langsam löste sich der Schock unter den Beteiligten und die ersten begannen,
nach Marc zu rufen. Dann taten es ihnen auch die anderen gleich, immer mehr,
bis alle Knaben schwammen und riefen und tauchten und den Fluss nach Marc
absuchten. Der Doktor, völlig in sich zusammengesunken, kauerte auf seinem Steg
und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel; man möge den Jungen
doch finden und ihn aus dem Wasser ziehen und er möge atmen und nach ein paar
Minuten die Augen aufschlagen und lächeln, freundlich lächeln, und sagen «Es
war doch alles nur ein Spaß!»
Sie fanden Marc später, zu spät, in der nächsten Biegung des
Flusses. Sein Körper hatte sich in den tiefer hängenden Ästen eines Baumes
verfangen. Die Luft dort war schwer und süß vom Blütenduft.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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