Joachim Güntzel
Die Legende der Frauen
Warum die Legende nie schriftlich fixiert wurde, ist unbekannt. Ihr Ursprung verliert sich in den Nebeln der Vorzeit, als die Menschen sich um Feuerstellen versammelten, um den Gefahren einer feindlichen Welt zu trotzen. Sie wollten jene Geister der Zwischenwelt fernhalten, die die Seelen der Menschen über den dunklen Fluss zu sich herüberzuziehen suchten, damit sie den Pfad des Lichts verließen. Niemand weiß genau, wie die Legende ihren Weg zu uns gefunden hat. Doch um sie vor der Vergessenheit zu bewahren, soll sie weitererzählt werden. Dies also ist die Legende der Frauen:
Am Anbeginn der Zeit schuf die ewige Kraft den Menschen als Frau und sandte sie in die Welt, diese zu bewohnen. Und obgleich die Mensch-Frau keinen anderen Menschen hatte, mit dem sie reden konnte, genügte sie sich selbst. Denn sie sprach mit den Tieren und den Erdgeistern und sie machte sich die Welt zum Freund. So gab es keine Grenze zwischen ihr und der Welt, sie war ganz in der Welt und die Welt war ganz in ihr. Aber eines Tages erblickte die Mensch-Frau ihr Spiegelbild im Wasser und freute sich darüber, dass sie von nun an nicht mehr alleine sein sollte. Als sie jedoch gewahr wurde, dass sie sich vom Wasser hatte täuschen lassen, wurde sie sehr traurig und fühlte sich einsam in der Welt und verlassen. Sie weinte und grämte sich und wollte nicht mehr mit den Tieren und den Erdgeistern reden.
Als die ewige Kraft nun sah, wie traurig die Mensch-Frau geworden war, wollte sie ihr Leid lindern und sprach zu ihr: Siehe, ich habe dir eine Gabe gegeben. Ich will einen Gefährten an deine Seite stellen, den du dir selbst aus deiner Vorstellung erschaffst. Doch bedenke: Wenn du dies tust, so wird dein Gefährte anders sein als du. Denn ich habe dich erschaffen und du kannst dich nicht selbst erschaffen. Auch du wirst dich ändern, ebenso wie die ganze Welt, denn wo fortan zwei Menschen sind, da wird auch eine Grenze zwischen ihnen sein.
Als die Mensch-Frau dies hörte, wurde ihr Herz froh und sie fragte, was sie tun müsse. Die ewige Kraft antwortete, sie solle erneut zum Wasser gehen und ihr Spiegelbild darin betrachten. Dieses Spiegelbild solle sie in ihrem Geist verändern und sich dann mit dem Bild ihres künftigen Gefährten schlafen legen. Dies tat die Mensch-Frau, und nachdem sie vom Wasser zurückkam, legte sie sich auf ihr Lager und schlief ein. Und aus ihren Träumen ließ die ewige Kraft den Mann entstehen.
Am nächsten Morgen erwachte die Mensch-Frau und erblickte den Mensch-Mann. So groß war ihre Freude, dass sie ihn innig umarmte und ihm dabei so nahe kam, dass ihre Lippen die seinen berührten. Und alles fühlte sich gut an. Die Frau dankte der ewigen Kraft und gelobte, dem Mensch-Mann nicht mehr von der Seite zu weichen.
Doch wie groß war ihre Enttäuschung, als sie feststellte, dass der Mensch-Mann nur manchmal ihre Nähe suchte, oft aber in der Welt mit sich alleine sein wollte. Alles versuchte sie, um dem Mensch-Mann zu gefallen. Doch was sie auch tat, wie sehr sie sich ihm auch hingab, stets stand der Mensch-Mann auf und ging wieder in die Welt hinaus, um sich mit ihr zu messen. Denn es war ihm von Anbeginn an ein Bedürfnis, seine Stärke zu beweisen. Und immer hinterließ sein Gehen in der Mensch-Frau ein großes Gefühl der Leere. So groß war die Leere, dass ein ganzes Meer von Tränen sie nicht zu füllen vermochte.
Da sprach die ewige Kraft zur Mensch-Frau: Ich will ein unsichtbares Band schaffen zwischen dir und deinem Gefährten. Es soll eure Herzen verbinden und die Grenze zwischen euch überwinden. Doch wird dieses Band euch nicht nur Freude bringen, sondern auch Schmerz. Jedes Mal, wenn eure Herzen im gleichen Takt schlagen, wird eure Freude unermesslich sein. Dann werdet ihr sein wie ein Wesen, das mit einem einzigen Herzen zwei Körper nährt. Doch wenn eure Herzen den gemeinsamen Takt verlassen, wird Gram, Sorge, Zweifel und schließlich großer Schmerz euch quälen. Ihr werdet sein wie ein Wesen, das in einem einzigen Körper zwei Herzen hat, die gegeneinander ankämpfen. Keines wird die Oberhand gewinnen, und schließlich wird der Blutstrom in euren Herzen versiegen und euch als kraftlose Hüllen zurücklassen.
Doch die Hoffnung der Mensch-Frau war größer als ihre Furcht. So tat sie, wie die ewige Kraft ihr hieß, legte sich erneut zur Ruhe und schlief ein. Und aus tiefstem Herzen der Mensch-Frau zog die ewige Kraft einen dünnen Faden aus Licht, flocht daraus ein Band und legte es zunächst um das Herz der Mensch-Frau und danach um das Herz des Mensch-Mannes, der schlafend an ihrer Seite lag. Dies war der Moment, da die Liebe in die Welt kam.
Als nun aber die Schlange, die in der Nähe der Menschen lebte, des Liebesbandes zwischen ihren Herzens gewahr wurde, ergriff sie eine große Traurigkeit. Denn sie war alleine und wollte auch geliebt werden. Also kroch sie zum Ohr des Mannes, der noch schlafend auf dem Boden lag, und flüsterte in sein Ohr: Möge das Band der Liebe, das dein Herz mit dem der Mensch-Frau verbindet, auch mein Herz umfassen. Gleiches flüsterte sie in das Ohr der Mensch-Frau. Doch als sie so sprach, trat ein winziger Tropfen Gift aus ihrem Zahn aus und tropfte in die Ohren der Menschen und kam von dort in ihre Körper. Darüber erschrak die Schlange so sehr, dass sie schnell davon kroch und sich von den Menschen fernhielt und sich vor ihnen versteckte. Denn sie bereute ihren Mangel an Vorsicht.
Seit jenen ersten Tagen der Menschen ist das Band der Liebe, das die ewige Kraft einst schuf, bedroht. Denn von Zeit zu Zeit beginnt das Gift der Schlange zu wirken und die Herzen aus ihrem Gleichtakt zu bringen. Dann leiden die Menschen und mit ihnen die Schlange. Denn sie wollte das Band nicht zerstören, sondern daran teilhaben. Und immer wenn die Herzen zweier Menschen zueinender finden, leuchtet ein Licht in ihnen auf. Dann werden sie wieder von einem gemeinsamen Herzen genährt, die Freude verdrängt alles Leid aus dem Leben der Menschen, und auch die Schlange findet wieder Hoffnung.
(c) Joachim Güntzel
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2008.
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