Mehr und mehr löste ich mich aus der Situation. Sie wurde
für mich immer bedeutungsloser, bis sie schließlich ganz aufhörte, mich zu
interessieren. Gleichzeitig driftete ich unaufhaltsam, wie von einem
unsichtbaren Band gezogen, in eine andere Welt... grenzenlos, schwerelos,
unfassbar, fremd und doch auf eine Weise vertraut... ich kannte dieses Gefühl
und wusste intuitiv, wohin mich die Reise jetzt führte. Ein Meer wohliger
Vorfreude umspülte mich, ließ mich lächelnd darin schwimmen. So frei und doch
angenehm behütet und getragen hatte ich mich in meinem ganzen Leben nicht
gefühlt, obwohl ich mich gerade danach immer so sehr gesehnt hatte.
Aber was hatte doch gleich dieser weise Meister zu mir gesagt,
als ich mich wieder einmal traurig und verlassen nach Trost und Liebe verzehrte:
„Was du suchst, ist jenseits der Form. Du wirst es in dieser Welt nicht
finden.“ Und damit hätte ich eigentlich gleich meine Suche beenden können, denn
ich wusste innerlich, wie Recht er hatte. Anstatt mich damit zufrieden zu
geben, hatten mich damals diese Worte nur noch trauriger gemacht und das Leben
erschien mir zeitweise ziemlich sinnlos. Erst jetzt, wo ich die Grenzen der
Form hinter mir gelassen hatte, konnte ich den alten Weisen verstehen und ein
Gefühl allumfassender Liebe umhüllte mich. Mit körperloser Leichtigkeit folgte
ich meiner Sehnsucht, die mich dem Licht immer näher brachte. Nur da wollte ich
hin... schon immer... jetzt kannte ich mein Ziel, wusste was mein Zuhause war: die
sich unaufhörlich verströmende Quelle bedingungsloser Liebe... und ich flog mit
Lichtgeschwindigkeit mitten hinein.
„...und hast du auch genug geliebt?“ stellte sich mir die
Gretchenfrage, oder treffender ausgedrückt: mein Einlasspfand in den Himmel.
Bedeutende und unbedeutende Szenen meines Lebens spulten
sich in Kurzfilmen durch mein Bewusstsein, Bruchstücke, an die ich mich kaum
bis gut erinnern konnte, die aber allesamt scheinbar einen geheimen
Zusammenhang hatten. Viele Ereignisse erschienen mir jetzt wichtiger, als ich
sie damals eingestuft hatte, obwohl oder gerade weil mir die Situationen damals
weniger gut getan, sondern eher viel Leid beschert hatten. Ein unbändiges
Sehnen nach Liebe und Erfüllung war mir als Kind in die Wiege gelegt worden und
sollte sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben ziehen.
Der Umgang in meiner Familie war eher kühl. Umarmungen und
Küsse waren mir gänzlich unbekannt. Geborgenheit beschränkte sich auf ein
warmes Dach über dem Kopf und genug zum Essen. Häufig wurde über
Belanglosigkeiten gestritten und meine Geschwister ergötzten sich daran, mich
zu provozieren. Verständnis und Liebe glaubte ich nur in anderen Familien zu
sehen, wenn ich Freunde einträchtig beim Abendbrot versammelt sah, die scherzhaft
das Alltägliche miteinander austauschten. Das machte mich oftmals neidisch und
traurig, fachte aber gleichzeitig meine Sehnsucht nur weiter an.
Zu lieben hatte ich in meiner Kindheit wohl nicht gelernt,
sofern man das überhaupt lernen kann.
Ich glaube eher, dass die meisten Menschen das Lieben verlernt und unter Qualen
aufgegeben haben. Dennoch war da dieses innere Drängen, meinen Gefühlen
Ausdruck zu verschaffen, mich mitzuteilen, meine Freude und mein Leid mit
anderen zu teilen. Ich konnte gar nicht anders, denn die Liebe war ja in mir. Mit
einem ungeheuren Druck bahnte sie sich immer wieder einen Weg nach draußen, so
sehr ich sie oft aus Angst, weiteres Leid ertragen zu müssen, zu unterdrücken
suchte. Ich konnte sie nicht verbergen, wollte lieber meinen Brustkorb
aufreißen und mein strahlendes Herz allen Menschen zeigen, so verletzlich es
auch war. Sie sollten wissen, dass es Liebe gibt, auch wenn es manchmal schwer
ist, sie unter all den schlimmen Dingen zu finden, die wir darüber geschichtet
haben. Liebe ist immer da, wie die leuchtende Sonne hinter den Regenwolken.
Am meisten konnte ich mich über die Freude anderer Menschen
freuen. Aber leider wollten oder konnten sie meine Liebe oftmals nicht
annehmen. Auch wenn ich ihre Ängste und Muster erkannte, tat das sehr weh und
ich fühlte mich vor den Kopf gestoßen, weil ich nicht glauben wollte, dass sie mich
mit meinen Gaben abwiesen und sich lieber für das Leid entschieden. Sie waren
viel zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, fühlten sich innerlich für alles
mögliche und unmögliche schuldig oder beschuldigten andere und fanden deshalb,
dass sie es einfach nicht wert waren, geliebt zu werden. Die merkwürdige Logik,
dass man sich Liebe erst verdienen müsse, habe ich nie verstanden. Liebe ist!
In jedem Menschen, immerdar. Aber die bequeme Opferrolle aufzugeben, die ja
obendrein noch billige Zuwendung einbrachte, war dann doch zu viel des Guten.
Bis ich das endlich begriffen hatte, musste mein Leben oft
zur Bühne kläglicher Dramen werden. Trotz
allem konnte ich nicht anders, als einfach weiter zu lieben. Vielmehr war die
Liebe in mir noch stärker geworden, so als wenn sie mit jedem Mal wachsen
würde, je mehr ich davon verteilte. Weil ich aber so oft zurückgewiesen,
verletzt und enttäuscht wurde, hatte ich mir eine Zeit lang vorgenommen, die
Perlen nicht länger vor die Säue zu werfen und wollte mir sehr genau aussuchen,
wem ich Liebe schenken wollte und wem nicht. Aber natürlich funktionierte das
nicht. Liebe hat da ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wenn einmal das Gefühl,
Liebe zu geben, da ist, dann kann man das nicht einfach abstellen, wie einen
Wasserhahn, den man zudreht. Dann droht nämlich der Schlauch zu platzen.. und
das hätte dann erst recht eine unkontrollierte Überschwemmung gegeben. Und
schließlich sucht sich der Apfelbaum auch nicht aus, wer seine Früchte essen
darf. Er streut sie einfach unter sich und lässt sie von denen aufheben oder
pflücken, die mögen. Und über das Fallobst freuen sich am Ende noch die Würmer.
Also entschied ich mich, einfach dem nachzugehen, was mir mein Herz zeigte,
auch wenn es mich manchmal zu Menschen führte, die mir sehr weh taten.
Mit Männern teilte ich viele schöne Stunden... aber wenn es
um die Liebe ging, wussten die meisten nicht, wovon ich überhaupt sprach.. Liebe?
Nähe? Vertrauen? „Gemeinsam einsam“ zerstörte todsicher jede Beziehung. Wenn
ich gebraucht wurde, war ich der Fels in der Brandung. Aber wenn ich selbst einmal
jemanden brauchte, stand ich allein auf weiter Flur.. alle hatten genug mit sich
selbst zu tun, waren in ihrem eigenen Leid verhaftet. Da war kein Platz für
mich... Und wie sollte nun mein Bedürfnis nach Liebe gestillt werden? Hatte ich
nicht auch ein Recht darauf, geliebt zu werden?? Immer wenn ich diese Fragen
stellte, war es meistens aus mit der Freundschaft. „Du verlangst zu viel, du
hast zu hohe Erwartungen!“ waren ihre letzten Worte. Und damit hatten sie sogar
Recht, denn ich hatte ja immer noch Erwartungen. Es sollte ja immer noch etwas
an mich zurückfließen.. und zwar gefälligst von demjenigen, dem ich etwas
gegeben hatte. Der Arme war dann meistens ziemlich überfordert und musste
fluchtartig das Weite suchen!
Es musste anders gehen! Ja, genug geliebt hatte ich – mit
ganzem Herzen, war ganz darin aufgegangen. Diese Frage konnte ich mit ruhigem
Gewissen beantworten. Aber auch ich wollte geliebt werden, war zeitweise
regelrecht süchtig danach, was mein menschliches Umfeld meistens dazu antrieb,
sich noch weiter von mir zu entfernen. Also drängte sich mir die Frage auf,
wenn mich schon kein anderer lieben wollte, warum liebte ich mich dann nicht
einfach selbst? Ganze Bibliotheken waren mit solchen Ratgebern gefüllt. Ich war
doch nicht von der Liebe anderer abhängig! Wozu brauchte ich die überhaupt? Tolle
Idee!!
Ich hatte dabei nur vergessen, dass ich immer noch der
Meinung war, dass mir etwas fehlte, das ich mir unbedingt geben oder irgendwo
abholen musste. „Wenn ich doch nur endlich Liebe bekommen würde, dann wäre ich glücklich,
vollständig und ganz. Dann ginge es mir endlich gut und ich könnte die Suche
auf der Stelle beenden!“ geisterte es mir oftmals durch den verworrenen Kopf,
wobei ich mir mächtig schlau vorkam. Zwanghaft liebte ich meinen Körper, liebte
meine Eigenschaften, kurz, ich liebte mich und liebte und wenn ich nicht
gestorben wäre, dann würde ich mit dem Blödsinn wohl heute noch weiter machen!
Nie wurde ich das Gefühl los, dass es jemals genug war. Immer fehlte noch
etwas. Ich war nie zufrieden, so wie ich mir den glückseligen Zustand wahrer
Liebe vorgestellt hatte. Genau, es war ja auch nur eine weitere Variante, eine
weitere Vorstellung von der Liebe. Das war es also auch nicht. Aber was konnte
ich tun?
„Gar nichts“ röhrte scharfsinnig meine innere Stimme mit ironisch
schallendem Lachen. „Wie bitte?“ durchzuckte es mich zornig und dem Ende nahe. „Waren
die ganzen Anstrengungen etwa umsonst?“ „Ja!“ gackerte der geheime Klugscheißer
weiter. Dieses besserwissende Etwas meldete sich immer nur dann, wenn gar
nichts mehr ging und ich tief in der Klemme saß. Ich war wohl im wahrsten Sinne
so ziemlich auf die falsche Spur geraten. Ein dicker Kloß saß mir in der Kehle.
Oh, oh, das bedeutete nichts Gutes! Ich schluckte und entschied mich, besser
mal aufmerksam zu lauschen.
„Du kannst gar nichts tun,
sondern nur sein. Was willst du woanders
finden, was schon immer in dir war? Dir fehlt absolut nichts! Du bist unendliche Liebe. Da gibt es nichts
hinzuzufügen. Lebe es doch endlich!“
Wow, diese Ansage ließ mich unter einer ergreifenden
Gänsehaut erbeben. „Hättest du mir das nicht schon früher sagen können?“ stotterte
ich entgeistert in die Stille. „Klar,“ kam die prompte Antwort, „aber du warst
so sehr mit der Suche beschäftigt, dass du nichts hören wolltest!“
War das jetzt Erleuchtung? Da hatte ich mich mein ganzes
Leben lang abgestrampelt und nach etwas gesucht, das ich niemals verloren
hatte. „Besser spät als nie,“ konnte ich mir die zynische Bemerkung nicht
verkneifen. Mit einem Mal durchschoss mich ein Strom bedingungsloser Liebe. Ich
fühlte mich, als wäre ein Staudamm in mir gerissen. Ich war plötzlich so
erleichtert, dass ich meine Arme ausstrecken und fliegen wollte... unendlich
leicht und frei, nichts konnte mich mehr am Boden halten...
...in dem Moment krachte es, hörte ich einen
ohrenbetäubenden Knall, ein Bersten, Klirren und Knirschen... dann war alles
still... Heiliger Frieden breitete sich über mich. Ich war reinste Liebe, löste
mich darin auf, verlor jede Form, war allumfassend, pures Sein in der Ewigkeit.