Gina Grimpo

Hunger

Es war keine gute Idee gewesen, Michas Angebot abzulehnen, sie nach Hause zu bringen.
Das erkannte Isabelle in dem Moment, als das Licht der Straßenlaternen erlosch und sie sich von einer Sekunde auf die andere in völliger Dunkelheit wiederfand.
Warum hatte sie nur darauf bestanden, nach Hause gehen zu wollen?
Die Abätze ihrer Schuhe klackerten unnatürlich laut auf dem Gehweg. Vor ihrem Gesicht bildeten sich weiße Atemwölkchen.
Das Licht des Mondes, der normalerweise wenigstens etwas Licht gespendet hätte, war hinter einen dicken Wolkendecke verschwunden.
Isabelle zog den Reißverschluss ihrer Jacke höher und fröstelte.
“Wirklich, es macht mir nichts aus, dich zu fahren”, hatte Micha vor kaum einer halben Stunde noch zu ihr gesagt.
“Und mir macht es nichts aus, zu laufen”, hatte sie geantwortet, “Es ist eine so schöne klare Nacht. In fünfzehn, spätestens zwanzig Minuten bin ich zu Hause.”
“Und außerdem”, hatte sie hinzugefügt, als Micha protestieren wollte, “hast du etwas getrunken.”
Sie hatte ihn zurück ins Haus geschoben und versprochen anzurufen sobald sie angekommen war.
Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in Michas warmen Auto zu sitzen und das Radio aufzudrehen.
Das Klackern ihrer Absätze in der ansonsten vollkommenen Stille um sie herum, machte sie fast wahnsinnig. Sie versuchte, einen gleichmäßigen Laufrhythmus aufzubauen, versuchte ihre Schritte selbstbewusster klingen zu lassen, als sie sich fühlte.
Als sie ein leises Rascheln in der Hecke neben sich wahrnahm, zuckte sie zusammen. Ihr Atem beschleunigte sich hörbar, ebenso wie ihr Tempo.
“Das ist nur der Wind”, redete sie sich ein und verstummte gleich darauf wieder. Ihre eigene Stimme zitterte fast noch mehr als ihre Knie.
Eilig lief sie weiter.
Es kann nicht der Wind gewesen sein, sagte eine kleine hämische Stimme in ihrem Kopf, es ist absolut windstill.
Isabelle versuchte, die Stimme zu ignorieren.
Was sie jedoch nicht ignorieren konnte, war die Tatsache, dass sich zu dem Geräusch ihrer Schritte ein zweites, gleichklingendes gesellt hatte. Diese Schritte hinter ihr hatten genau dasselbe wie Tempo wie ihre eigenen.
Isabelle lief schneller. Die Schritte hinter ihr klackerten synchron zu ihren eigenen weiter.
Sie verlangsamte ihr Tempo und wer auch immer hinter ihr herlief, tat dasselbe.
Isabelles Hand krampfte sich um den Henkel ihrer Handtasche. Sie blieb stehen.
Kein Geräusch war zu hören. Keine Schritte, kein Rascheln, kein Atmen.
Kein Wind.
“Sei ruhig”, murmelte Isabelle.
Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung. Zeitgleich begannen die Schritte hinter ihr wieder damit, in ihrem Kopf zu hallen.
Sie wurde schneller und die Schritte taten es ihr gleich, als wüsste ihr Verfolger schon im Voraus, was sie als Nächstes tun würde.
“Hey!”
Mit einem wütenden Aufschrei wirbelte Isabelle herum - und erstarrte.
Niemand war hinter ihr. Die Straße lag dunkel und verlassen da. Das einzige Geräusch, dass sie nun noch hörte, war das Keuchen ihres Atems.
Sie gab ein nervöses Lachen von sich.
“Jetzt reiß dich zusammen”, ermahnte sie sich selber, “du bist kein Teenie mehr, der zu viel Horrorfilme gesehen hat.”
Wie, um sie in Sicherheit zu wiegen, kam jetzt auch der Mond hinter den Wolken hervor.
Isabelle betrachtete noch einmal die Straße hinter sich, die jetzt nicht mehr ganz so finster aussah und dann ihren eigenen Schatten, der sich kaum sichtbar auf dem Gehweg abzeichnete.
Und sich dann bewegte.
Das ist nicht mein Schatten!
Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr sie herum.
Nichts. Da war wieder nichts. Und doch glaubte sie, eine Bewegung im Gebüsch neben sich gesehen zu haben.
“Nur der Wind”, flüsterte sie kaum hörbar, “nur der Wind.” Es klang fast flehentlich.
Mit zitternden Knien ging sie weiter und lauschte angestrengt, ob sie hinter sich wieder Schritte vernahm. Erleichtert stellte sie fest, dass das nicht der Fall war.
Sie wünschte sich plötzlich, dass der Mond wieder hinter den Wolken verschwinden würde.
Sein Licht zauberte seltsame Schatten in Bäume, Büsche und Häuser.
Der dort, hinter dem Rosenstrauch im Vorgarten eines Einfamilienhauses sah aus, wie die geduckte Gestalt eines Werwolfs.
Isabelle verlangsamte ihren Schritt. Und wenn es nun nicht nur ein Schatten war?
“Beweg dich”, schimpfte sie, “red dir nicht solche Schauermärchen ein.”
Sie straffte die Schultern nach hinten und ging festen Schrittes an dem Rosenstrauch vorbei. Kein Werwolf.
“Siehst du”, murmelte sie, “kein Grund Angst zu haben. Gleich bist du zuhause.”
Ihre Einbildungskraft hatte ihr einen Streich gespielt. Und sie tat es wieder.
Der große, längliche Schatte an dem Eingang zu dem Hinterhof dort drüben sah fast aus wie eine Mensch.
Dieses Mal verlangsamte Isabelle ihre Schritte nicht. Stattdessen blieb sie abrupt stehen, als der Schatten plötzlich mit einem leisen wusch im Hinterhof verschwand.
“Nein!”
Isabelles Herz klopfte ihr bis zum Hals. Plötzlich waren auch die Schritte hinter ihr wieder da.
Sie kamen näher. Langsam, als wüssten sie, dass Isabelle keine Chance hatte, zu entkommen.
Der Rhododendron neben ihr raschelte. Zu laut, als das man es als Einbildung hätte abtun können.
Sie glaubte ein Zischen zu hören.
Oder ein Fauchen?
“Sei ruhig”, wollte sie wieder rufen, doch ihre Stimme versagte.
Sie spürte eine Gestalt hinter sich, ganz deutlich. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie ihre  Hand nach ihr ausstreckte, wie lange, kalte Finger nach ihrem Hals griffen - und zudrückten.
Sie wollte loslaufen, wollte wegrennen auch wenn sie wusste, dass sie keine Chance haben würde.
Doch ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie auf dem Boden und schürfte sich die Handflächen auf.
Wimmernd drehte sie sich auf den Rücken. Wieder lag hinter ihr nichts als Dunkelheit.
Ihr Herz wummerte schmerzhaft gegen ihre Rippen, ihr Atem ging stoßweise und sie versuchte, gegen die immer wieder aufwallende Übelkeit in ihrem Inneren anzukämpfen.
Wer trieb da ein Spielchen mit ihr? Da war jemand (oder etwas?) gewesen, dessen war sie sich sicher.
Vorsichtig richtete sich wieder auf. Ihre Augen suchten hektisch die Gegend ab, ihre Ohren lauschten auf jedes noch so kleine Geräusch, das hier nicht hingehörte. Ihre Handtasche rutschte ihr von der Schulter und landete auf dem Boden, doch sie bemerkte es nicht.
All ihre Sinne waren zum zerreißen gespannt, als sie sich im Zeitlupentempo einmal um die eigene Achse drehte.
“Wo bist du?”, flüsterte sie.
Das Knacken des Rhododendron ließ sie zusammen fahren. Ein leise Knurren ertönte, wurde für den Bruchteil einer Sekunde fast unerträglich laut und verschwand dann wieder.
Das, was sie für den Schatten eines Baumes gehalten hatte, löste sich von seinem Platz und verschwand hinter im Hinterhof.
Isabelle gab ein leises Stöhnen von sich. Ihr Kinn zitterte unkontrolliert.
Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. Immer mehr liefen über ihr Gesicht und hinterließen kalte Streifen auf ihren Wangen.
“Lass mich in Ruhe”, flehte sie in die Dunkelheit. Die Antwort war ein Fauchen. Dann herrschte wieder Stille.
Isabelle überlegte, ob sie bei einem der dunklen Häuser um Hilfe bitten sollte. Doch was sollte sie den verschlafenen Bewohnern sagen? Das jemand (oder etwas) sie verfolgte, sich aber nicht zeigte und bisher auch noch keine Anstalten gemacht hatte, ihr etwas zu tun?
Dann hörte sie etwas, das so gar nicht in dieses unwirkliche Geräuschkulisse passen wollte, die sich immer wieder um sie herum aufgebaut hatte.
Das leise, aber deutlich hörbare Schluchzen eines Kindes.
Es kam aus dem Hinterhof. Isabelle machte ein paar Schritte darauf zu.
Was hatte ein Kind um diese Uhrzeit draußen zu suchen? War es ebenso alleine wie sie selbst?
Sie näherte sich erneut dem Hinterhof um wenige Schritte.
“Mama”, schluchzte das Kind, gerade laut genug, dass Isabelle es noch hören konnte, “wo ist meine Mama?”
Isabelle ging weiter, durch die enge Gasse in den dunklen Hinterhof. Es war eisig kalt. Wer weiß, wie lange das Kind schon hier draußen war.
Sie entdeckte es sofort. Ein kleines etwa sieben Jahre altes Mädchen mit blonden Haaren, das wie ein Häuflein Elend in der hintersten Ecke des Hofes kauerte.
“Hey.” Isabelle wusste nicht, was sie sagen sollte.
Das Mädchen sah auf. Seine großen Augen waren vom Weinen gerötete und es zitterte vor Kälte.
Isabelle eilte auf das Kind zu.
“Scht, alles in Ordnung. Ich bin ja da.”, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen - und sich selbst, denn die unheimlichen Geräusche waren immer noch nicht aus ihrem Gedächtnis gewichen.
Das Mädchen hörte auf zu Schluchzen und sah Isabelle unverwandt an. Sie zitterte immer noch.
“Bist du alleine?”
Das Mädchen nickte. “Ich hab so einen Hunger.”
“Wo ist deine Mutter? Weiß sie, dass du hier draußen bist?”
Wieder nickte das Mädchen. “Ich hatte Hunger, da hat sie mich losgeschickt, damit ich mir mein Essen selber hole. Und ich habe immer noch Hunger.”
Isabelle klappte die Kinnlade herunter. “Es ist mitten in der Nacht. Normale Kinder haben um diese Uhrzeit im Bett zu liegen.”
“Wer sagt, dass Adina ein normales Kind wäre?”
Isabelle fuhr herum - und verschluckte sich fast an ihrem unterdrückten Aufschrei.
Zwei Gestalten standen hinter ihr, ein junges Pärchen, wie es auf den ersten Blick schien.
Doch Isabelle hatte in dieser Nacht zu viel gehört, als das sie de beiden als solche abtun würde.
Zu deutlich stachen die hellblauen, fast weißen Augen der Beiden hervor, zu blass war ihre Haut, zu leise hatten sie sich genähert.
Die Frau lächelte.
Isabelle würgte, als sie die beiden spitzen Zähne erblickte, die unter den roten Lippen der Frau verborgen gewesen waren.
“Vampire!”, entfuhr es ihr.
So unglaublich es auch klang, aber für die Wesen, die sie vor sich sah, fiel ihr keine andere Bezeichnung.
Schützend schob sie sich vor das kleine Mädchen, Adina hatte die Frau es genannt. Plötzlich glaubte sie zu wissen, warum sie geweint hatte.
“Lasst sie in Ru...”
Weiter kam sie nicht. Kleine dünne Finger, stark wie Schraubstöcke krallten sich um ihren Arm.
Isabelle schnappte nach Luft.
Adinas blasse Lippen hatten sich zu einem bösartigem Grinsen verzogen. Spitze weiße Zähne funkelten im Mondlicht.
“Du hast dich geirrt, Mama”, sagte sie, “Ich kann meine eigene Beute jagen.”
Sie wandte sich Isabelle zu.
Das ist nicht real. Das kann unmöglich real sein.
 Adinas durchbringender Blick bohrte sich in ihren und ließ ihn nicht mehr los. Isabelle wollte sich abwenden, sich ihrem schmerzenden Griff entziehen und laufen, einfach nur weglaufen, nach Hause, wo es so etwas wie Vampire nur im Fernsehen gab. Doch sie konnte nicht.
“Ich hab so einen Hunger”, flüsterte Adina in Isabelles Ohr, bevor sich ihre Zähne in ihren Hals bohrten.
Zwei Straßen weiter klingelte in Isabelles Wohnung das Telefon. Michas Name leuchtete auf dem Display auf. Sie hatte vor zwanzig Minuten seine Wohnung verlassen.
                

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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