Marina Liebing, geb. Steuernagel

Der Kuss


Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit und doch nicht richtig.
 
Er ist eben nur der Bruder meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
Natürlich sieht er gut aus, aber eine Beziehung? -
 
Wir wollen nur spazieren gehen, an diesem heißen Sommertag. Nur wir beide, weil sonst keiner Zeit hatte.
 
Erzählt haben wir wie immer, über alles Mögliche. Ob ich verliebt in ihn bin? Nein nie!
 
Man kann über alles mit ihm reden.
 
Aber, er ist der Bruder meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
OK. Ich wusste, dass er mich gern hatte, aber Liebe? -
 
Wir hatten uns in den Schatten unter die Linden gestellt und viel gelacht. Wie schon so oft.Doch plötzlich wurde er ernst, schaute mich mit seinen großen schönen Augen an. Er müsse mir etwas wichtiges sagen. Ich wandte meinen Blick von ihm ab und bekam ein seltsames Gefühl in der Magengegend.
 
Der Himmel war von einem Wolkenschleier verhüllt. Ich starre seine Hände an. Zitterten sie? Ich spürte, dass er um Worte rang. Sah in sein Gesicht – Oh Gott – er grinste. War ich wiedereinmal auf ihn eingefallen?!
 
Wie von weitem hörte ich ihn sagen, „Ich glaub, ich hab mich verliebt!“ - -
 
„Aha – verliebt! In wen?“ flüsterte ich leise. Der Wind frischte plötzlich auf.
 
Das war klar. Es musste ja irgendwann so kommen. Nun würde er mir erzählen wo und wann er sie kennengelernt hat. Wie sie so ist und am Ende würde er mich fragen, wie er es ihr sagen sollte.
 
Aber das sollte mir egal sein.
 
Er ist ja bloß der Bruder meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
Zu meinem Ärger hatte ich einen Kloß im Hals. Ich zitterte richtig. Vor Wut? Vor Angst?
 
Ganz leise drangen seine Worte zu mir vor. „Sie steht vor mir!“
 
Der Himmel war nun von dicken, schweren Wolken verhangen. Kein Lüftchen wehte mehr. Ich stand da und starrte seine Hände wieder an.
 
Die Hände des Bruders meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
Hatte er das gesagt? War es ein Traum?
 
Die Wut in mir war verschwunden. Nun zitterte ich vor Angst und Hoffnung, vor Zweifel und Fragen.
 
Liebe ich ihn auch? Sollte das gut gehen? Ist es richtig? Darf ich den Bruder meiner Freundin lieben?
 
„Was sagst du?“ Ich schreckte auf und schaute in seine ängstlichen Augen. „Ich weiß nicht...“ krächzte ich.
 
„Du weißt was nicht?“
 
„Ob das gut gehen würde – mit uns.“
 
„Heißt das du magst mich nicht?“
 
„Das schon, - “ aber ich bin 16 und du der Bruder meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
„Ist es wegen meiner Schwester?“
 
Ich fühlte mich ertappt. Sollte ich ihm deswegen keine Chance geben?
 
Langsam fielen vereinzelte Regentropfen. Wir sagten nichts mehr, sondern schauten uns nur an. Alles war still um uns. Wie er mich so in seine Arme nahm, vergaß ich alles.
 
Wie in einem Traum küssten wir uns...
 
Von Zweifel und Angst war keine Spur mehr...
 
Es regnet – allein sitze ich an der Bushaltestelle. Es ist schon dunkel. Die Laternen sind aus. Das Plakat des Musicals „Jesus Christ Superstar“ an der Wand ist kaum noch zu erkennen.
 
Mein Kleid ist nass und zerknittert. Doch das stört nicht.
 
Vor 10 Minuten ist sein Bus gefahren.
 
Sein Fußabdruck ist noch im Sand zu sehen. Aber er verschwindet langsam im Wasser. Nur seine sanften Lippen und warmen Hände spüre ich noch immer ganz deutlich.
 
Ich zittere. Vor Kälte? Vor Glück!
 
Ich könnte weinen.
 
Da kommt mein Bus.
 
Ich schaue noch mal zu seiner Fußspur. Ob es gut geht?
 
Das weiß ich nicht. Aber ich gebe uns eine Chance.
 
Mir und dem Bruder meiner Freundin. Acht Jahre älter. Ein netter Kerl.
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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