Elnaser Abdelwahab

Der Orientale (Erinnerung an den 11ten September)

Unter den Trümmern einer trüben Lässigkeit, umwoben mit dem grauen Schleier dunkler Staubwolken, deren wundersame Körner die Saat einer bösen Frucht ähneln, findet man den „Homo Sapiens Orientalis“. Im anthropologischen Buche wird er gelegentlich „Mensch“ genannt. Jene erhabene Schöpfung, die Krönung der Lebewesen, Zierde reicher Welten und ungemein weise sein soll. Seine Grösse wurde ihm auf dem Berge Sinais offenbart, in Olivenbäumen Nazareths aufgezogen und durch die unerschöpflichen Quellen Farans endgültig verliehen. Das erzählen uns die alten Überlieferungen.

Wir sehen sie als Legenden an. Seit geraumer Zeit ist in unserem biologischen Buche kein Platz mehr für Wörter wie „Schöpfung“ oder „Krönung“. Es gehört zu unseren wichtigsten Errungschaften bewiesen zu haben, dass der Mensch eine Art Kellerautomat ist. In seinen Kellern hat er alles begraben, was der Orientale heute wehmütig beklagt : Seine Freiheit, denn er ist Sklave eitler Gewohnheiten, seine Fruchtbarkeit, denn niemals zuvor war die Welt um ihn so eintönig und die Gerechtigkeit : Jedes Zepter seines Rechtsinns wird Säbel einfältiger Tyrannen.

Doch weit davon entfernt, diese Tugenden zu besitzen, verfällt der Orientale ab und zu in den erbärmlichsten Selbstmitleidskrisen. Im Grunde hat unsere Auseinandersetzung mit ihm nur diesen einen Inhalt : Wir können seine pathetischen Ausfälle nicht leiden. Wir betrachten es als niederträchtig, wenn er sich selbst beweint. Wäre es mit uns anders bestellt, dann hätten wir vielleicht, im Dunkeln unserer eigenen Welt festgefangen, den reumütigen Tränen einen Schimmer Seligkeit schenken können. Doch wir trauen uns nicht. Wie hässlich wirkt deshalb sein Jammern auf uns!

In langen Bettelkolonnen wird er stehen und seine melancholischen Lieder singen, die typische Leier in der Hand. Verärgert darüber, werden wir mit den Ältesten und Weisen seines Volkes sprechen wollen. Wir finden sie in Sackgassen, scharenweise sitzend über derben Spielen in Kaffees und in den Bushaltestellen darauf wartend, dass ein irrendes Glück sie zur nächsten Station eines sinnvolleren Lebens trägt. Und sie warten lange. So lange, bis alle Gebete ihrer Gotteshäuser vorbei sind und der greise Vorbeter in erhobener Stimme seine Rede hält :

„Es ist das Jahr des Drachens, Kinder“, wird er ihnen erzählen, „Unsere alten Götzen haben lange darauf gewartet, in diesem Jahr wieder unter uns ihr Unwesen zu treiben. Sie hatten es satt, der senilen Gefangenschaft antiker Religionen zu erliegen und wollten endlich freigelassen werden. Sie sind aus unbekannten Gräbern bei den Pyramiden, ausgestorbenen Landschaften Babels und schleichenden Flüssen Syriens auferstanden. Nun sind sie da und richten über uns. Ein jeder trägt sie in seinem Gewande mit. Da sieht ihr Sethos, herrlich in seiner bösen Blüte, wie er den Vater über seinen Sohn grimmig macht und Zwietracht in der Familie stiftet. Anubis steckt dem Manne den Zorn seiner Frau in die weichen Gewänder ihres Kleides. Baal, der durstige Blutgott, ergreift die Seelen der Soldaten und lässt sie nur auf seine tyrannischen Befehle hören. Doch dies alles, gemessen an dem was sie bald vorhaben, ist nichts. Sie werden auf dem Berge bei Jerusalem einen Tempel bauen und ihren Durst damit stillen, das Blut unserer Kinder auf dem lebendigen Altar der Bösheit auszuschütten, auf das er ewig blühe. Statt Gebete werden sie derbe Tänze einführen und statt keusche Tugend masslossen Frevel lehren, die Sonne rot vor Sünden färben und dem Mond die Tracht ihrer Nacht aufzwingen.“

Wie durch die Hand des Schicksals ergriffen, versammelt man sich um jede Predigtstätte des Orients, dies zu hören. Erschrocken stellen wir fest, dass dem Orientalen eine neue, aussergewöhnliche Kraft auf einmal verliehen wird. Er meint, durch Seligkeit diesen Bann auflösen zu könne. Daher begeben sich fromme Juden immer mehr zu ihren Synagogen in der Gewissheit, dass ein Götzenhaus nur auf ihre eigenen Leichen errichtet werden kann. Christen sehen im Lichte der Belagerung Bethlehems zum ersten Mal ihre heilige Welt zusammenbrechen. Sie kämpfen in Dörfern und Gassen Palästinas dagegen.

Nur in den Moscheen wird gezögert. Es herrscht ein grosses Durcheinander, denn längere Stellen des Korans, die man für Jahrhunderte gelesen hatte, scheinen auf einmal zu fehlen. Es sind die Stellen über den Bund mit dem ewigen Gott, den alle Lebewesen vor ihrer Geburt geschlossen hatten. Es entgeht den Muslimen heute die Schreibweise der Verse. Gelehrte sammeln sich um den heiligen Text und können nicht feststellen, wo der Bund im Koran anfängt und wo er endet. Sind Frauen und Kinder im ewigen Kampfe mit einbezogen oder ist es eine Angelegenheit reifer Männlichkeit ? Sind Steine und Kugeln die einzigen zugelassenen Ausdrucksmittel oder teilen Wissenschaft und Kunst das Los der harten Materie ? Gewiss ist nur das : Ein Zittern geht in die Gelehrtenmenge aus und ein und es ist nicht das ängstliche Vorgefühl eines baldigen Scheiterns. Vielmehr ist es das unbehagliche, schwere Herzklopfen vor dem grossen Auftritt.

Wir verlassen bald ihre Welt und kommen zu uns zurück um zu begreifen, dass sie in ihren geschlossen Sphären noch einiges an ungeschehenen Ereignissen zu erleben haben, bevor ein Ausbruch aus der Sackgasse gelingt. Es stärkt uns in dieser Annahme die wissenschaftliche Kenntniss, dass dunkle Götzenbilder nur erhöhte, deformierte Eigenschaften eines Menschen sind. Man sucht sie vergebens in Natur und Himmel. Sie sind mitten in unseren Herzen drin.

 

 

 

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