Jana Weiß

Eine Laus im Pelz

 

Eine Laus im Pelz

 

„Ich gehe zum Gottesdienst“. Diese Worte murmle ich fast, ich spreche sie nicht laut und deutlich, so als hätte ich Angst, verlacht zu werden. Das wäre nicht neu, eine bekannte Reaktion auf bis dato unbekanntes Handeln. Auch hier wird man nicht ernst genommen, aber das ist mir egal, vor allem Heute. Noch eine Viertelstunde, die Kirchenglocken haben schon längst geläutet und uns erinnert, dass es Zeit ist zu Kommen. Ich gehe auch, nur mit dem Ankommen hapert es, so sehr ich mich auch bemühe. Zumindest, und das ist sehr tröstlich, scheint es einen neuen Weg zu geben, und ein Ziel. Es ist das erste Mal, dass ich diesen Weg nicht selbst gewählt habe, ich werde geführt. Zunächst wehrte ich mich dagegen, konnte nicht begreifen, dass es Dinge gibt im Leben, die nicht zu beeinflussen sind. Ich fühle mich leer, ausgesaugt und vom Leben verlassen, eine tote Hülle im Fluss, mitgerissen vom Strudel des Alltags. Wo geht es hin, was wird aus mir, und was soll ich tun? Nach und nach wird mir bewusst, dass ich auf der Suche bin, nicht nur nach Antworten auf meine Fragen, sondern vordergründig nach dem Sinn des Lebens. Und mir wird klar, dass diese Suche lange dauern wird, vielleicht sogar nie enden.

 

Ich wähle heute zum ersten Mal den Weg zum Dom. Der Gottesdienst beginnt um 12.00 Uhr, eine ungewöhnliche Zeit und ich bin mir sicher, dass nicht sehr viele Menschen in die Kirche kommen werden. Doch bereits beim Betreten der Burgstraße wird mir klar, dass ich mich einreihen muss. Ganze Ströme von Touristen zieht es zur Burg, ich unterscheide mich von ihnen kaum, nur das Programm wird ein anderes sein. Sie werden zur Burg gehen, dann folgt die Besichtigung des Doms. Ich habe ein anderes Ziel, kein vorgefertigtes Programm, ich folge meinem Herzen und ich werde gerufen. Der Anstieg zum Burghof ist beschwerlich. Unzählige Stufen, verschneit, spiegelglatt an einigen Stellen und oft fehlt das Geländer, um sich daran festzuhalten. Ungeduldig muss ich warten, bis mein Vordermann eine einigermaßen sichere Stelle gefunden hat, um darauf zu treten und die nächste Stufe zu erklimmen. Hinter mir dasselbe Bild. Nur langsam windet sich eine undefinierbare Menschenschlange die gefährlichen Stufen hinauf. Stürzt jemand, wird er die anderen mitreißen. Ein ungemütlicher Gedanke. Meine Hand schließt sich krampfhaft um die dünne Geländerstange aus verwittertem Metall. Jede Treppe hat ein Ende, diese hier auch. Endlich! Als ich oben angekommen bin, muss ich verschnaufen. Ich ringe nach Atem und verfluche meine verdammte Raucherei. Sie lässt meine Lunge eng werden und die geringste Anstrengung rächt sich mit Atemnot. Um mich herum viele Menschen, die lachend und lärmend in Gruppen stehen und die Aussicht genießen. Ihre Anwesenheit stört mich und ich bedaure bereits, auf den törichten Gedanken gekommen zu sein, ausgerechnet heute in den Dom gehen zu wollen. Wir haben Sonntag und damit frei, und es ist der 1. Tag im Neuen Jahr. Es bleibt nicht viel Zeit, um meine Pause auszudehnen, ich muss mich beeilen.

 

Noch gestern begann der Schnee wieder wegzutauen, und damit alle weiße Pracht. Doch schon heute verhärtete sich sein Mantel zu einem frostigen, starren Gebilde. Es knirscht gefährlich unter den Schuhen, der Weg ist glatt und unberechenbar. Wer nicht aufpasst, wird fallen. Vor mir laufen mehrere Paare, die meisten davon Hand in Hand. Ich senke meinen Kopf und kann deren Anblick nicht ertragen. Wenn ich falle, wird mich keiner aufhalten und keiner abfangen. Oder bin ich schon gefallen und weiß es nur nicht? Wirre Gedanken umkreisen meinen Geist wie Gespenster, während ich jede Unebenheit des Bodens abtaste. Unsicher setze ich einen Fuß vor den anderen, doch mir kommt es so vor, als würde ich mich nur schleichend fortbewegen. Trotz aller Zweifel durchflutet mich ein bisher unbekanntes Gefühl und nimmt Besitz von mir: Mein grenzenloses Vertrauen in Gott, zu dem ich kommen will, und wenn es sein muss, sogar auf Knien rutschend. Bei diesem Gedanken geht es mir sofort besser und ich trete kraftvoller auf. Es ist nicht mehr weit und ich bemerke mit freudigem Herzen, dass die schwere Eichentür der Kirche weit geöffnet ist. Bin ich willkommen? Zögerlich trete ich ein, atme tief die Luft aus längst vergangen Jahrhunderten, versuche Orientierung zu finden in dem uralt Gemäuer mit all seinen Geheimnissen, bin überwältigt von der Pracht und Herrlichkeit, den Kreuzgängen und Gewölben, den Mustern und den Farben der Bleiglasfenster. Wo aber geht es zum Gottesdienst? Es irritiert mich zutiefst, keinen Altar zu erblicken gleich beim Eintritt, keine Bänke, um sich zu setzen und keine Menschen, die gekommen sind, um zu beten. Vor mir liegt ein enger Gang, den es zu nehmen galt. Links daneben, in das alte Gemäuer eingelassen, befinden sich verwitterte alte Grabplatten. Die Namen darauf sind kaum noch zu entziffern. Ein Hauch des Todes schlägt mir entgegen. Meine Angst ist wieder da, realistisch und fühlbar. Ich mag keine Enge und dennoch muss ich sie überwinden. Hastig laufe ich den Gang entlang, der sich vor mir auftut und kein Ende zu nehmen scheint. Noch eine Windung, und da hinten schon die nächste. Was sich dann offenbart, verschlägt mir nicht nur den Atem sondern auch die Sprache. Mein Gott, sie haben deine Kirche aufgeteilt, eine Mauer gezogen für einen kläglichen Rest, dahinter ein Altar, dunkel und versteckt. Maßlose Enttäuschung macht sich in mir breit. „Warum?“ möchte ich schreien, doch mir bleibt jeder Laut in der Kehle stecken. Der Gottesdienst wird gleich beginnen, fast alle Bänke sind besetzt, worüber ich mich nun doch wundern muss. Es ist zu spät zur Umkehr. Ich nehme mir eines der bereitstehenden Gesangsbücher und suche nach einem Platz. Vier Bänke sind nicht belegt. Auch das wundert mich angesichts der vielen Leute. Ganz vorn möchte ich mich nicht hinsetzen, außerdem steht Domkapitel darauf und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich bin weder getauft noch Kirchenmitglied, also wähle ich eine Bank in der Mitte. Auch die ist noch frei und das ist mir recht so. Ich hatte mich kaum gesetzt, als ich eine leise Ahnung bekam, warum ausgerechnet diese Bänke leer blieben. Es zog wie Hechtsuppe, ein kalter Luftzug, der sich ausgerechnet an dieser Stelle kreuzte, mal von links, mal von rechts, und mir wurde schlagartig klar, dass ich sehr schnell frieren werde. Die Kälte kroch an mir hoch und mein Atem kringelte sich in weißen Wölkchen aus Nase und Mund. Ich begann zu zittern, ob nun aus Kälte, aus Empörung oder einer Mischung aus beiden, ich weiß es nicht. Die ersten Klänge des Orgelspiels ließen mich etwas ruhiger werden und ich versuchte zu entspannen, was angesichts der Kälte problematisch war. Es wollte sich einfach kein heimisches Gefühl einstellen und ich suchte vergeblich eine Verbindung zu Gott. Da nützten keine Predigt, keine Fürbitte, kein Gebet und kein Gesang. Erst die Zelebrierung des Abendmahles ließ mich ein wenig aufhorchen. Ich hatte es schon einmal miterlebt, auch hier als Zaungast, als Heidin, weil ich nicht dazu gehöre. Mein Glaube ist in mir, ich bin noch nicht soweit, ihn öffentlich auszuleben, und das Ritual – obwohl mir die Bedeutung durchaus bekannt ist – kann ich nicht nachvollziehen. Ganz profane Gedanken kommen mir beim Reichen des Bechers von einem zum anderen. Ist es nicht unhygienisch, und was ist, wenn jemand von den Mitgliedern krank ist? Darf man das die Leute fragen? Ich hab mir diese Fragen immer nur im Geist gestellt, aus Angst, sie könnten sie falsch verstehen. Wenn einer dem anderen den Becher gibt, dann spricht er etwas. Ich bin zu weit weg, um es verstehen zu können. Was sagen sie? Ein wenig verschämt sitze ich ganz allein auf meiner Bank, während sich alle anderen in einen Halbkreis aufgestellt haben und der Pfarrer pausenlos zu tun hat, um den Becher wieder aufzufüllen.. Es sind so viele Leute. Ich fühle mich ausgeschlossen, doch ich kann nicht zu ihnen, weil ich nicht zu ihnen gehöre. Wäre es besser gewesen, so zu tun als ob? Mich mit im Kreis einzureihen, den Becher an meine Lippen zu führen, obwohl ich mich davor ekle, einen Satz zu murmeln, ohne zu wissen, was ich spreche, in der Hoffnung, der andere könnte meine Unwissenheit nicht entlarven? Nein, ich sitze felsenfest auf meiner Bank, weil ich mit einer solchen Lüge nicht leben könnte. Einer  nach dem anderen kommt zurück, will wieder Platz nehmen und nicht wenige müssen auch an mir vorbei. Sie schauen mich merkwürdig an, einige entrüstet, die anderen fragend. Die meisten jedoch mit einem entrückten Blick, so als würden sie in weiter Ferne Gott erblicken, just in diesem Moment. Mein Magen rumort, gibt Laute, die nicht vom Hunger kommen. In  meiner Kehle formen sich Worte, die es hinausdrängt und die ich nur mühsam zügeln kann. „Er ist nicht hier!“ will ich schreien. „Merkt das keiner außer mir?“. Ich fühle mich verlassen von allen, auch von ihm, und ich muss mir eingestehen, dass ich den Weg umsonst gegangen bin. Die Tür der Kirche war weit geöffnet, als ich ankam, doch er wollte nicht eintreten und gab mich aus seinen Händen. Ich bin weitergelaufen, um das hier zu erfahren. War es das, was er mir zeigen wollte und warum das Ganze? Ich verstand weder Sinn noch Zweck.

 

Der Gottesdienst zog sich ewig in die Länge, ich wollte hinaus, jetzt und sofort. Unruhig rutschte ich auf meiner Bank hin und her, überlegte krampfhaft, um eine Lösung zu finden. Jedes Aufstehen würde unweigerlich alle Blicke auf mich lenken. Also blieb ich, wo ich war und sehnte mich nach Erlösung. Plötzlich sah ich sie vor mir. Nein, nicht die von mir erhoffte Erlösung, eher das Gegenteil. Warum ist sie mir erst jetzt aufgefallen? Zwei Bänke weiter vorn saß eine Dame im pelzverbrämten Mantel. Die Frau neben ihr schien dazuzugehören. Auch sie trug Pelz, aber auf dem Kopf. Sie hielt es nicht einmal für nötig, die Kopfbedeckung während des Gottesdienstes abzunehmen. Bewegung zwischen beiden Häuptern, sie unterhielten sich leise. Die Dame mit dem Pelzkragen kicherte. Und plötzlich zuckte ich zusammen. Fassungslos starrte ich auf ihren Kragen, kunstvoll drapiert um ihren Hals geschlungen, und gehalten mit einem Verschluss, der aus einem Tierkopf bestand. Tote Augen, die mich traurig anblicken. Das niedliche kleine Köpfchen, die schmale spitze Schnauze, das glänzende braune Fellchen, zusammengelegt zu einem Schauspiel der Eitelkeiten. Ich hätte heulen können vor Wut und Schmerz. Mit einem Schlag wird mir klar: Das also wollte er mir zeigen! Das und so vieles andere. „Ich habe verstanden“, rufe ich in Gedanken, und „es tut mir leid“ sage ich dem kleinen toten Lebewesen. Der Gottesdienst ist zu Ende. Ruckartig stehe ich auf, verlasse eilig das Gebäude, gebe nur ungern den geforderten Obolus, weil man auch hier nicht anders kann. Dem Pfarrer gebe ich  artig die Hand zum Abschied. Er sieht mich merkwürdig an, liegt Furcht in seinem Blick? Weiß er, dass ich sehen kann, mehr wie ihm lieb ist, und fühlen? Schnell löse ich meine Hand aus der seinen. Erst vor der Kirche komme ich endlich zur Ruhe, atme tief die herrlich frostige Luft ein, meine Lunge bläht sich auf, mein Körper tankt Kraft. Es ist, als würde eine schwere Last von mir abfallen und ich spüre, dass er auf mich gewartet hat. Dafür bin ich dankbar. Er ist da, er hat mich nicht verlassen, und jetzt nimmt er meine Hand. Zögerlich schau ich zurück auf das uralte Gemäuer, auf die schwarzen Domspitzen, auf ebenso schwarze Krähen, die sich darauf niedergelassen haben, und  mir wird klar: Ich werde diesen Ort verlassen und niemals wiederkehren.  

 

Gott sprach: „Ich lebe, und ihr sollt es auch!“

 

Glaube kann Berge versetzen. Mir würde schon der kleine Hügel ausreichen, den es zu nehmen gilt, zu mehr hab ich momentan keine Kraft. Mein Vertrauen ist stark, stark zu Gott, der mir Kraft gibt, um einen neuen Weg zu beschreiten. Aber wird sie reichen? Unsicher setze ich meinen Fuß darauf, will kaum vorwärts, blicke ständig zurück. Er ruft mich, ich kann es hören. Sanfte Worte, die sich mir einprägen.

 

Er sagt: Ich lebe, und du sollst es auch. Sparsam nur kommt ihm dieser Satz über die Lippen, mal tröstend, mal fordernd. Es verhilft zum nächsten Schritt, immer dann, wenn ich weglaufen möchte, zurück in die Vergangenheit, nicht loslassen kann von Altvertrautem. Warum? möchte ich ihn fragen, warum diese Prüfung und warum ist sie so schwer?  Sein Schweigen darauf ist Antwort genug, und ich beginne zu begreifen, dass mir nichts Böses widerfahren wird, dass diese Schritte notwendig sind zur Läuterung, zur Demut, zum Anders werden. Ich will sie tun, für ihn, für mich! Ja, er lebt und ich werde das auch.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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