Nicolle Eccarius

Samstag-Nacht-Visionen

Wenn man am Samstag Morgen aufwacht und genau weiß, daß die Party am Abend zum Fiasko wird, sollte man auf sein Bauchgefühl vertrauen und im Bett bleiben. Dort ist es kuschlig und warm und sicher – auch wenn man das Gefühl hat, gerade etwas zu verpassen.
Mein Bauch wußte auch schon beim ersten Weckerklingeln, daß ich dabei war, direkt ins Elend zu rennen aber ich wußte es besser und plante, wenn auch wenig lustvoll, meine abendliche Garderobe. Edel, eng, genau ein bißchen zu viel Haut und rabenschwarz – als nächtlicher Engel wollte ich durch die Tür der neuen Wohnung treten. Die Lust würde mit Beginn der Jagd beginnen, da war ich sicher. Die bleierne Müdigkeit verursachte, daß ich solch nützliche Dinge wie aufräumen und für AVL lernen, die ich mir vorgenommen hatte, bleiben zu lassen.
Ich lag vorm Fernseher, unfähig mich dazu aufzuraffen irgendetwas zu tun; was auch nicht besser wurde, als ich mich im Aufzug der Dämmerung zum Duschen zwang.
Zweifelnd atmete ich das heiße Wasser. Ich versuchte die Kopfschmerzen zu ertränken, welche sich in meinem Nacken festgesetzt hatten. Sie zogen mich bleiern in seltsame Gedankengänge, deren Verworrenheit mich schwindeln ließ. Wasser rann unaufhörlich meinen Körper hinab. Ich bekam keine Luft während ich mich an den Grund zu erinnern versuchte, der es mir unmöglich machte, im Wohnheim zu bleiben.
Dann hastete ich zum klingelnden Telefon: Nicoles gutgelaunte Stimme belebte meine umnebelten Sinne. Trotzdem versuchte ich sie eine halbe Minute lang zu überreden, zu mir zu kommen.
Das folgende Anziehen, schminken und Haare stylen war spannungslose Routine. Es fehlte jenes Cinderella – Gefühl, das mich sonst in wollüstigen Schauern durchfuhr, wenn ich mich verwandelte, dem Ruf der nächtlichen Schatten zu folgen, die neugeboren ihre Huren suchen.
Der letzte prüfende Blick in den Spiegel zeigte nur einen Schatten, der seinem Licht entfliehen will.
Ich kam zu spät, eine ganze halbe Stunde zu spät. In mir reifte die kribbelnde Hoffnung, den Weg zu Stephans Wohnung allein finden zu müssen, wodurch sich die Möglichkeit ergeben hätte, einfach wieder ins Bett zu verschwinden und die Einzugsfete Einzugsfete sein zu lassen.
Nur mittler Weile hatte ich Lust bekommen, mich mit Musik zu laben und ein bißchen Gesellschaft zu schockieren, was einerseits auf die kühlende Nachtluft, welche den Kopfschmerz betäubte anderseits aber auch auf den rennbedingten Adrenalinschub zurückzuführen war. Der in Dunkelheit gemalte Augustusplatz trieb mein Blut durch meine Adern. Ich begann Leben zu fühlen.
Henrie schoß vor mir aus dem Boden und während ich ihn stürmisch erschreckt umarmte, schob ich die letzten depressiven Regungen zur Seite.
Die Nacht lebte auf. Sie berauschte uns alle vier. Wir hörten dem Straßenbahnmusiker zu, der sich schwertat, die Melodie seiner Lieder zu halten. Wir lachten frierend durch Straßen und Gassen. Unseren Herzen flogen zu den Sternen und kamen kalt zurück. Vier Seelen verbanden sich zum Reigen, der toller und toller wurde.
Wir fanden unseren Weg. Das Haus lud dunkel zum Feiern ein. Wir waren beschwipst und schwammen heiter durch gelächelte Tränen zum Eingang, der sich öffnete und uns verschlang.
Drinnen überkam mich das Gefühl am falschen Ort zu sein. Mein Mut sank. Unbehaglichkeit suchte sich einen Weg in meinen Magen. Ich unterdrückte den Drang auf dem Absatz kehrt zu machen und in die bergende Stille der klaren Dunkelheit zu flüchten.
Ein Blick zeigte, daß wir die Kinder der Veranstaltung waren – fremde Kinder, die niemand eingeladen hatte. So standen wir eine Sekundenlange Ewigkeit an der Tür herum, schätzenden Blicken preisgegeben, zusammengedrängt. Stephan kam auf uns zu.
Anstatt mich zu umarmen, gab er mir erstmal die Hand. Die klamme Vorahnung in mir verstärkte sich zur Gewißheit. Ich fühlte mich unwillkommen und doch folgte ich den anderen. Schemenhaft nahm ich die mir gezeigten Räume wahr. Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Etwas stimmte nicht und ich erblindete zusehend. Erste Angstzustände ließen mich Gesellschaft suchen.
Als ich am Tisch saß und meinen Magen fütterte, taute ich auf. Der Sternenstaub verflog. Ich gewöhnte mich an die vielen fremden Augenpaare und begann munter mit allen um mich herum zu plaudern. Stephan trat nur sporadisch in Erscheinung. Wütige Unlust durchzuckte mich kurz, doch ich gebot dieser unbegründeten Eifersucht Einhalt und versuchte zu ignorieren, daß die Blicke des Menschen hinter mir mich nicht losließen.
Irgendwann vor zehn verkündete ich, daß ich sowohl den Alkoholgenuß als auch den Speisen-
Konsum einzustellen gedachte und sprach die Absicht aus, mich ins Nebenzimmer auf die Tanzfläche zu begeben.
Nach drei Anläufen blieben Nicole, Jana, Henrie und ich dort endgültig hängen. Die Luft und das Licht verdichteten sich zu einer schwerverdaulichen Atmosphäre, die sich musikdurch - drungen auf mein Gemüt legte. Einer Droge gleich begann sie die Wirklichkeit zu verzerren. Die Haltlosigkeit setzte ein. Bier floß in Strömen meine Kehle hinunter. Glückshormone gingen milliardenfach auf die Reise. Ich tanzte; tanzte ohne groß nachzudenken, tanzte und tanzte bis mich mein Gleichgewicht fast im Stich ließ. Alkoholgespinste stoben durch mein Hirn. Henrie war gegangen, Nicole vom Erdboden verschluckt. Überall fremde Gesichter. Schwindel grapschte nach mir. Die Eifersucht brach sich erneut Dämme. Eine schattendünne Vision verschwand seltsam verzerrt auf meiner Netzhaut. Jana zog mich beiseite. Mein Atem ging schnell und stoßweise. In mir tobte sich die Eifersucht aus. Stephan – kurz, fast flüchtend
Tauchte er im Lichtgewimmel auf.
Jana als Ruhepunkt, dem ich folgte. Ich saß seltsam starr in ihrer Gesellschaft.
Mein Fleisch entwickelte ein Eigenleben, daß dem Druck der ausklingenden Magen – Darm –
Grippe nicht standhielt, da der Alkohol, die letzten Medikamente und das Essen meinen Magen überforderten.
Meine Kehle verbrannte. Tränen sammelten sich. Ich saß gekrümmt vor der Badezimmertür und versuchte mich zu erinnern, wo Nicole abgeblieben war. Ich sehnte mich nach ein bißchen Ruhe, nach Zärtlichkeiten und Geborgenheit.
Schließlich fand ich auf weißen kühlen Kacheln wieder. Stetig strömte ein Unrat mit sich tragender Fluß aus meinen Mund. Äderchen platzten in meiner Nase. Blut sammelte sich in meinen Rachen und der warmsüße Geschmack paarte sich auf meiner Zungen mit den bitteren Gallensäften. Tränen salzten den jämmerlichen Anblick, den ich bot. Mein Kopf leerte sich mit meinem Magen.
Ich weinte; schob verzweifelt die Gespräche mit Jana beiseite, in denen Stephan die Rolle des begehrten Objekts übernommen hatte. Ich hätte auch versuchen können, einen Planeten aus seiner Umlaufbahn zu stoßen.
Ich saß vor dem Toilettenbecken und beschloß mich mir selbst zustellen. Es klopfte. Ich ließ die fremde Blondine ins Bad. Wir plänkelten kurz. Ein Rinnsal erfrischendes Wasser rann meine Hals hinunter und über meine Handgelenke. Dann verließ mit kalten Tropfen im Gesicht das Badezimmer.
Mein Körper hatte seine Innereien wieder im Griff, nur war er auch ausgelaugt und schwach, zu schwach um dem neuerlichen Ansturm meiner Seele Stand zu halten. Der Schwindel hatte mich noch immer fest im Griff. Ich taumelte. Mein Gemüt saß fest in einer emotionalen Achterbahn, die erbarmungslos talwärts bretterte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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...doch man schweigt... Ist ein Gemeinschaftswerk von Menschen, welche sich seit 2005 für Betroffene im Hartz IV und SGBII engagieren. Sie erleben Ausgrenzung, Schikanen, Sanktionen bis hin zu Suiziden von vielen Freunden aus eigenen Reihen, welche für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Die Autoren versuchen in ihren Episoden und Gedichten das einzufangen, was das Leben zur Zeit für fast 10 Millionen Menschen birgt. Der Erlös des Buches geht zu 100% an den Verein Soziales Zentrum Höxter e.V., da wir wissen, hier wird Menschen tatsächlich geholfen.

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