Andreas Rüdig

Der buddhistische Tempel

Ich soll einen Tempel bauen. Einen buddhistischen Tempel, um genau zu sein. Da hat sich hier vor Ort eine buddhistische Gemeinde gebildet, die nun ein zuhause sucht.
Da ich Architekt bin und religiösen Gruppierungen eigentlich nahe stehe, bekomme ich sofort den Auftrag. Doch oh wehe! Von Buddhismus wußte ich bisher nicht viel. Also mußte ich mich erst einmal einlesen. Im Internet fand ich einen Text der „Freunde des Westlichen Buddhistischen Ordens“.
Die erste Idee habe ich schon. In der Mitte wird es einen Versammlungsraum geben. Quadratisch ist er und grün gestrichen. In der Mitte wird eine riesige Buddhafigur stehen. Die Rückseite der Figur ist ständig abgedunkelt, die Vorderseite immer beleuchtet. Die Buddha – Figur ist eigentlich aus Kupfer gemacht. Sie stellt einen lächelnden, rundlichen Buddha dar. Die Figur weist aber zwei Besonderheiten auf. Der Unterkiefer ist beweglich. Und im Rachen ist ein Lautsprecher installiert. Der Lautsprecher ist verkabelt; der Kabel führt durch die Figur und durch den Boden in einen Nebenraum. Die Figur kann also bei Versammlungen reden. Ansonsten weist der Raum keine Besonderheiten auf.
Es gibt eine kleine Bibliothek. Wesentlich wichtiger ist der Yoga – Raum. Dort sollen die Buddhisten meditieren. Dort liegen diverse Sitzkissen. Diese Sitzkissen sind eine Spezialanfertigung. Die Bezüge sind aus Seide. Man sitzt bequem auf ihnen. Spüren die Sensoren, daß der Buddhist eine höhere Sphäre während des Meditierens erreicht, setzen sie einen besonderen Mechanismus in Gang. Dieser Mechanismus bewirkt, daß die Sitzkissen vom Boden abheben und frei schweben. „Meditieren ist ein erhebendes Gefühlt,“ behauptet mein Auftraggeber. Das soll er am eigenen Körper spüren.
Neben der Küche ist ein Werkraum. Dort können die Buddhisten töpfern, malen, schnitzen und bildhauern. Ich bin gespannt, wie sich die Leute betätigen werden. Ich habe keine Ahnung, wie die buddhistische Phantasie aussieht. Haben sie auch feuchte Träume? Sicherheitshalber habe ich einige Geheimfächer in die Wände und in den Fußboden eingebaut. Dort können die Künstler, die „unanständige“ Kunstwerke herstellen, ihre Objekte lagern.
In einem nahegelegenen Gebäude gibt es die kleinen Wohnungen der Buddhisten. Eine Naßzelle, ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank. Mehr erlaubt mein Innenarchitekt nicht. Spartanisch sollen die Zimmer sein. Da Buddhisten keinen Alkohol trinken, sind Minibars entbehrlich. Ein Liebesleben ist nicht vorgesehen; daher gibt es nur Einzelbetten. Da es vernünftige Heizungen gibt, brauchen die Leute kein Lagerfeuer anzünden. Kerzen ersetzen aber elektrische Lampen. Der Kerzenschein wirkt – zumindest in meinen Augen – romantisch. Gerade an langen dunklen Winterabenden sollen die Leute über sich und die Welt nachdenken. Daher liegen auch immer Papier und Bleistift parat. Wenn ihnen ein kluger Gedanke kommt, können ihn die Leute gleich aufschreiben.
Das Studierzimmer kann auch als Gesellschaftsraum genutzt werden. hier gibt es einen Tisch, auf dem Gesellschaftsspiele herumliegen. In diesem Raum gibt es auch die einzige Ausnahme vom Prinzip der Kargheit. Hier gibt es Tische mit eingebauten Computern. Jawohl! Tastatur, Laufwerk und Bildschirm sind in die Tischplatten integriert. Warum diese Tische hier untergebracht sind und nicht in die Bibliothek? In der Bücherei soll absolute Ruhe herrschen. Wenn schon das Blättern in den Büchern die Nutzer stört, dann wird das Klappern erst recht stören. Ein paar Zimmerstauden trennen die verschiedenen Bereiche des Zimmers voneinander ab.
Ich verzichte auf Räume wie die Sauna, Gymnastikraum, Terrasse, Kegelbahn und Bar. Ich weiß nicht, wie der Buddhismus dazu steht. Also lasse ich es weg. schließlich sollen die Leute Geist und Charakter und nicht den Körper stählen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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