Sebastian Kurzeja

Weg in den Norden


Ich steige aus dem Bus. Es ist kaum auszuhalten, so kalt ist es. Der Winter hat Einzug gehalten und ich bin wieder hier. Nach einem halben Jahr zum ersten Mal wieder. Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht wiederzukommen. Das Beste wäre es sicher gleich wieder in den Bus zu steigen.
Zu spät. Nun, bevor ich hier noch festfriere, kann ich auch losgehen.
Eins, zwei, drei… Hm… wie ich sehe, haben sie die kleine Ruine endlich abgerissen. Wurde auch langsam Zeit. BETRETEN VERBOTEN. Das typische Schild, an das sich jeder halten soll. Überall. Doch es gibt genügend Menschen, die dagegen verstoßen.
Achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Die erste Straße, über die ich muss. Wie sehr wünschte ich mir, hier würden ununterbrochen Autos fahren, sodass ein Überqueren unmöglich ist. Aber so leicht macht man es mir nicht. Heute nicht, genauso wenig wie bei den anderen tausend Mal zuvor.
Hey, war das nicht eben der erste Kläffer? Zumindest der Erste auf meinem Weg. Wenn die Leute hier auch sonst nichts haben, dann doch wenigstens Hunde und Katzen. Doch den ungeschlagenen Rekord, wenn man die Quantität betrachtet, hält eine klein Familie in der Kirchstraße.
Komisch. Haben die Kinder es geschafft wegzulaufen, so doch nie die Hunde. Na ja, das kommt vielleicht auch noch.
Siebenundsechzig, achtundsechzig, neunundsechzig. Der Frisör am Berg. Kaum einhundert Meter vor der Haustür bin ich doch fast nie hier her gegangen. Nein, für mich hieß es immer: Hauptsache weit weg.
Langsam wird es immer kälter. Wie lange war ich schon nicht mehr hier, nur um die Kälte zu spüren. In alle Glieder schleicht sie und ich zittere ein bisschen. So lange sie nicht bis zum Herz vordringt, ist ja noch alles in Ordnung.
Neunundneunzig, einhundert. Ich bleibe stehen. Die Erinnerungen plagen mich. Ich sehe Ostern, Weihnachten, Geburtstage. Ich sehe den Gürtel und die Hand und höre die ewigen Schreie. Ich will mich nicht mehr erinnern, will alles hinter mir lassen.
Aber es geht nicht. Wie soll man das alles vergessen? Das gute, wie das Böse. Wie soll man Wärme spüren, wenn sie sogleich wieder von Kälte vertrieben wird? Ich bin mir sicher, dass ich vor einem halben Jahr das Richtige getan habe. Die Lügen nicht mehr ertragend, bin ich gegangen.
Ich bin gegangen und “gut” gemeinte Hinweise kamen von beinahe jeder Seite.
“Denk noch mal darüber nach!”
“Bist du sicher, das Richtige getan zu haben?”
“Geh lieber wieder zurück.”
Aber nach 18 Jahren habe ich zum ersten Mal meinen Kopf durchgesetzt. Wenn ich bedenke, was es mich für Kraft kostete… aber das Schlimmste habe ich überstanden. Endlich.
Ich sollte lieber weitergehen. Die Kälte kriecht immer weiter. Noch fünfzig Schritte. Schritte, die ich schon unzählige Male gegangen bin, die sich in mein Gehirn gebrannt haben, wie mein Name. Um immer zu wissen, nie zu vergessen.
Das gelbe Haus des Nachbarn. So neu und frisch. Und daneben mein altes Haus. Das schmutzige Weiß von 12 Jahre alter Farbe, die nie erneuert wurde, ist ein krasses Gegenteil zum sauberen Gelb.
Und hier ist das Tor. Schwarz. Zwei Schilder leuchten in einem grässlichen gelb entgegen:
VORSICHT VOR DEM HUND! BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR!
AUSFAHRT FREI HALTEN!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.09.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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