Jürgen Stubbe

Der Lorbass


Exposee:
 
Deutschland im Jahr 1942. Der Krieg hinterlässt seine Spuren in einem Harz-Kurort. In diesem Jahr wird das Wunschkind Joachim geboren. Seine Eltern sind Eigentümer einer Lungenheilstätte. Hier wächst Joachim als Einzelkind auf. Sein Vater ist sehr streng zu ihm. Mit drei Jahren erlebt Joachim die letzten Kriegsereignisse. Amerikaner, später die Russen, besetzen den Ort, der nun zur Sowjetischen-Besatzungs-Zone gehört. Er spürt die Angst seiner Eltern. Seine Oma väterlicherseits, eine Französin, glaubt, dass alles gut geht. Sie hat ihren Enkel Joachim fest ins Herz geschlossen. Er mag sie nicht.
 
Joachim entwickelt sich zu einem unruhigen Geist. Im Kindergarten schikaniert er seine Spielgefährten, zu Hause versucht er seinen Kopf durchzusetzen, will im Mittelpunkt stehen.
 
Dann stirbt seine Oma. Es ist der erste Tod, den er miterlebt. Was wird nach dem Tod?
 
Die Schule langweilt ihn. In diesen Flegeljahren versucht er sich zu behaupten. Nach Mutbeweisen wird Joachim zum Kopf einer Clique und setzt sich mitunter handgreiflich durch.
 
Dieses und die schlechten Zeugnisse erzürnen seinen Vater. Es folgen Bestrafungen für den Lorbass.
 
Sein Vater merkt, dass er Joachim mit Strafen nicht zur Vernunft bringen kann. Er versucht es psychologisch und besucht mit ihm eine Besserungsanstalt, in dem der Sohn des Hausarztes sitzt.
 
Wenig später erkrankt Joachim. Er schwebt zwischen Leben und Tod und es scheint, dass Joachim zu einem weiteren Tuberkulose-Opfer in der Familie wird. Sein Vater scheut keine Mühen, Medikamente aus dem Westen zu besorgen. Diese retten Joachim.
 
 Zurück bleibt eine hochgradige Schwerhörigkeit.
 
Die Krankheit hat sein Gemüt verändert. Die anfängliche Angst vor der Zukunft verwandelt sich mit zunehmendem Alter in den Ehrgeiz, zu beweisen, dass er sich im normalen Leben behaupten kann.
 
Textprobe:               Omi und Pucki
 
„Nun komm endlich!“, sagt Vati und schaut auf seine Taschenuhr.
 
„Oma wartet schon.“
 
„Ich will aber nicht!“, und trample mit den Füßen. Mutti fragt: „Muss jeden Sonntag Frühstück bei Oma sein?“, sie kneift die Lippen zusammen.
 
„Oma freut sich auf uns“, Vati fasst derb meine Hand und zieht mich hinter sich her.
 
Nach dem Frühstück sieht Omi mich an und sagt traurig:
 
„Bubi hat fast nichts gegessen. Er ist dünn, ganz dünn.“ Vati schaut Mutti an, sie sagen nichts und gehen früher nach Hause. Wie immer hat Omi schon das Märchenbuch liegen. Sie setzt ihre dicke Brille auf. Dann grapscht sie nach mir und nimmt mich auf den Schoß. Wenn Omi spricht, klappern manchmal ihre Zähne. Aus ihrem Mund riecht es nach Zwiebeln oder so. Ängstlich schaue ich sie an. Sie hat eine große krumme Nase und schwarze Augen. Ihr Gesicht ist ganz runzlig. Mit zitternder Hand legt sie das Buch weg, holt einen kleinen Pinguin aus der Schublade und zieht ihn auf. Dann flattert er mit den Flügeln und brummt auf dem Tisch herum. Omi lacht, ich nicht. Den kenne ich und auch die Märchen. Ich will vom Schoß runter. Sie hält mich mit ihren großen Händen fest.
 
Dann schaut sie sich lange meine Hand von innen an. Tick-tack-tick macht die Kuckucksuhr, der gelbe Fink schwirrt im Käfig. „Mein Gott, mein Gott“, ihre Augen werden größer.
 
„Omi, ist was?“
 
„Nein, nein“, murmelt sie, reibt sich am Kinn und sagt etwas auf französisch. So spricht sie immer mit Vati, wenn ich was nicht verstehen soll.
 
Nun kann ich vom Schoß springen und mache die Tür auf. Da steht Pucki, Omis schwarzer Spitz. Er knurrt und bellt. „Still“, ruft sie. Die Haustür geht schwer auf. Dann bin ich draußen, renne nach Hause und springe die Stufen der Freitreppe hoch. Unsere große Wohnung ist von den Kranken abgetrennt. Durch die hintere Flurtür darf ich nicht, da ist die Heilstätte. Vati hat mir das streng verboten. Die Krankheit ist ansteckend. Deshalb darf ich auch nicht mit den Kranken sprechen oder ihnen die Hand geben. Außerdem passt der Doktor auf, dass ich das nicht tue. Er hat mich schon erwischt, als ich bei Vati im Büro war. Dort habe ich nur Bleistifte angespitzt, da kommt er herein. Ich zucke zusammen. Er nimmt mich am Ohr und zieht mich in unsere Wohnung. Das tut so weh, dass ich brülle. „Kannst du denn nie hören!“, sagt er und fuchtelt mit dem Zeigefinger. Er ist Sani-Sani-täts..., ich kann mir das Wort nicht merken. Deshalb darf ich ,Onkel-Sani’ zu ihm sagen.
 
Mutti ruft: „Es gibt gleich Mittagessen, wasch dir die Hände!“
 
Sie sitzt im weißen Kittel am Tisch, weil sie für die Kranken kochen muss. Es gibt immer das, was die auch bekommen. Heute gibt’s Klopse. Die Soße schmeckt säuerlich. Als ich darin herumstochere und den Teller wegschiebe, sagt Vati böse: „Iss!“ „Nö, ich mag nicht.“ Vati wird rot: „Na gut, dann bekommst du es heute  Abend noch mal!“ Nun verziehe ich den Mund und Vati trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. „Du tust was ich dir sage, du
 
Lorbass. Im Herbst kommst du in die Schule, wie willst du dann deinen Ranzen tragen...?“
 
Mutti unterbricht ihn: „ Die Russen nehmen den Leuten Möbel weg für ihre Unterkunft. Sie schlachten dort das gestohlene Vieh.“
 
„Dagegen ist nichts zu machen, es gibt Schlimmeres. Drei Heil-
 
stätten haben sie enteignet. Wir sind noch mal davongekommen“,
 
antwortet Vati, kratzt sich auf seiner Glatze und schaut aus
 
dem Fenster.  „Und morgen lassen wir den Park umpflügen. Da kommen Kartoffeln und Gemüse hin.“
 
„Die schönen Pflanzen und Blumen“, mehr sagt Mutti nicht.
 
Sonntagnachmittags ist es langweilig. Zu den Nachbarskindern darf ich heute nicht. So gern möchte ich Geschwister haben. Schon lange lege ich Würfelzucker auf das Fensterbrett im Schlafzimmer, aber es nützt nichts.
 
Vati spielt nicht mit mir. Ich glaube, er ist dafür zu alt. Und einen dicken Bauch hat Vati auch. Er legt sich aufs Sofa und schläft. Raus kann ich auch nicht, es regnet. Nun hole ich meine kleinen Holzautos, den Trecker mit Anhängern und die Eisenbahn. Damit fahre ich auf dem Teppich herum. Da finde ich auf dem bunten Muster Straßen und Plätze wie in einer Stadt. Und verirren tue ich mich auch. Dann geht’s vor und zurück.
 
Zum Abendbrot würge ich die aufgewärmten Klopse runter, sonst haut mich Vati vielleicht. Schon um halb neun muss ich ins Bett und bin nicht müde. Ich ziehe mich aus und stelle mich vor den Schrankspiegel. Jede einzelne Rippe kann ich erkennen und da, wo der Bauch ist, ist eine Kuhle. Mutti kommt und deckt mich zu. Wie immer beten wir zusammen: ,Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.’ Mit offenen Augen liege ich da und höre auf einmal Muttis laute Stimme. Schnell stehe ich auf und horche an der Tür.
 
„...Wenn du das nicht lässt, fahre ich zu meiner Schwester...“
 
Von Vati ist nichts zu hören. Warum schimpft sie?
 
Ich nehme meinen Teddy in den Arm und schlafe ein. Am nächsten Morgen zieht mir Mutti das Leibchen und die langen Strümpfe
 
an. Sie sieht blass aus und sagt fast nichts. Manchmal gucken die Strumpfhalter unter den kurzen Hosen vor. Das mag ich gar nicht
 
und auch nicht die Klemme im Haar, damit es nicht in die Stirn fällt. Manche Jungen haben Lederhosen, solche möchte ich auch.
 
Aber Vati sagt, dass es die nur im Westen gibt. Nun hängt mir Mutti die Brottasche um den Hals und sagt:
 
„Das ist mit Spiegelei, du isst das doch gerne und sei schön artig.“ Der Weg zum Kindergarten an der Kirche ist nicht weit. In diesem Tal gibt es nur eine Straße. Hinter den Häusern beginnt schon der dunkle Wald. Vati sagt, die Waldluft ist gut für die Kranken. Deshalb dürfen hier keine Autos fahren. Nur die Russen machen das trotzdem, sogar mit den Panzern.
 
Der Kindergarten ist ein großes Kirchenzimmer. Da stehen nur Holzbänke an den Seiten und ein Regal mit Bauklötzern. An den Wänden hängen Kreuze. Ich weiß nicht, was ich spielen soll, aber ein Mädchen hat ein schönes Malbuch und Buntstifte mitgebracht. Das nehme ich ihr weg und sage: „Staunste, was?“ Sie weint und schreit: „Das ist meins!“ Eine Tante kommt und fragt: „Was machst du da?“ Ich male weiter. „Du nimmst den Kleinen die Spielsachen weg und stänkerst, stell dich in die Ecke!“ , Das Mädchen ist doof’, denke ich und stehe in der Ecke, bis die Brottaschen ausgeteilt werden. Meine packe ich nicht aus. Und nun will keiner mehr mit mir spielen. Am liebsten würde ich weinen, aber ich weine nicht. Zu Hause sagt Mutti: „Schade drum, na dann gibt es heute abend Hasenbrot.       
 
Einige Monate später.
 
Wir sitzen beim Abendbrot, aber Vati ist nicht da. Mutti guckt so komisch und sagt nichts. Erst später habe ich sie gefragt, warum sie mit Vati geschimpft hat.
 
„Er ärgert sich immer über die Ungerechtigkeiten gegen uns Kapitalisten. Dann trinkt er viel Schnaps...“ „Was sind  Ka-Kapita-
 
listen?“ „Das sind solche, die einen Betrieb haben, wie wir.
 
Und schlechte Menschen  sollen es sein, weil...
 
Außer Atem steht nun Vati vor uns. Er sagt: „Oma ist umgefallen, Onkel Sani hat sie ins Krankenhaus bringen lassen.“
 
„Hat sie sich angesteckt?“, frage ich. „Nein, nein, sie hat eine innere Blutung“, sagt Vati und kratzt sich am Hinterkopf.
 
Weil es kein Benzin gibt, fahren wir mit den Fahrrädern in die Klinik zu Omi. Ich sitze auf Vatis Gepäckträger. An jedem Berg
 
steigt Vati ab und schiebt. Ich laufe auch. Mutti fährt weit vorneweg und winkt uns manchmal zu. Im Eingang zum Krankenhaus steht eine Frau in einem langen schwarzen Kittel. Ihr Kopftuch geht über ihre Schultern. Nur ihr Gesicht guckt aus einem weißen runden Rand heraus. Auf ihrer Brust baumelt an einer Kette ein Kreuz. Sie geht voran. Vati flüstert mir ins Ohr: „Das ist eine katholische Schwester.“ Sie öffnet eine Tür und sagt streng: „Der Junge darf nicht rein.“ Durch die Tür sehe ich Omi allein im Zimmer. Nur ihr Kopf schaut aus dem Bett hervor. Ihr Gesicht ist blass und noch runzliger. Die Schwester bringt mich in den Garten und sagt: „Warte hier.“ Es dauert lange. Endlich kommt Mutti und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Vati geht krumm und schaut auf die Erde.     
 
Einen Monat später.
 
Mutti weckt mich, sie weint. Ihre Augen sind ganz rot.
 
„Omi ist gestorben“, sagt sie und schluckt.
 
„Mutti, bin ich schuld, weil ich sie nicht gern gehabt habe?“ Mutti schüttelt den Kopf. Sie streichelt über mein Haar und sagt: „Jeder muss sterben, aber die Seele kommt in den Himmel.“
 
„Was ist das, Seele?“ Verdattert sieht sie mich an und überlegt.
 
„Das ist so wie ein unsichtbarer Vogel, der in den Himmel fliegt“. Tränen kullern über ihre Backen. „Kommt der auch wieder zurück?“ Mutti zuckt mit den Schultern und sagt nichts.
 
Ich frage Vati, wie Omi jetzt aussieht. Er überlegt lange und runzelt die Stirn. „Sie liegt im Sarg in ihrem Wohnzimmer. Morgen ist die Beerdigung. Willst du sie noch mal sehen?“ „Ich habe Angst..., nur wenn du mich auf den Arm nimmst.“ An der Tür zum Wohnzimmer nimmt mich Vati hoch. Oma liegt da, als ob sie schläft. Pucki liegt neben dem Sarg auf dem Bauch. Er blinzelt. Die Kuckucksuhr tickt nicht mehr. Auch der gelbe Fink ist weg, der Käfig steht offen. Vati lässt mich runter. Auf Zehenspitzen gehe ich zu ihr und fasse vorsichtig an ihre gefalteten Hände. „Omi ist ja ganz kalt und atmet nicht mehr.“ „Komm“, sagt Vati und nimmt mich an die Hand.
 
Am nächsten Vormittag stehen viele Leute vor Omis Haus. Alle sind schwarz angezogen. Ganz langsam tragen Männer den Sarg und stellen ihn auf einen Wagen mit einem hohen Dach aus Stoff. Obendrauf steht ein Kreuz. Die Pferde sind mit schwarzen Tüchern verhüllt. Nur ihre Augen und die Ohren gucken raus. Vor den Pferden gehen Jungen in langen weißen Hemden mit schwarzen Deckchen über den Schultern. Einer trägt ein großes Holzkreuz vorneweg. Dann frage ich Vati, was das für Jungen sind. „Das sind Messknaben“, sagt er ganz traurig. Hinter uns kommen viele, viele Menschen.  Der Pastor redet lange. Das verstehe ich nicht und höre nicht zu. Ich schaue in den Himmel und denke: ,Sieht Omi mich jetzt?’ Am Sarg wedelt nun der Pastor mit einer goldenen Kugel, aus der Qualm kommt. Der riecht so ähnlich, wie verbrannte Tannennadeln. An langen Seilen lassen sie den Sarg in die tiefe Grube.
 
Später hat Vati gesagt, dass Omi ein Geheimnis mit ins Grab genommen hat. Ich frage ihn, ob es das ist, was sie in meiner Hand gesehen hat. Vati zieht seine Augenbrauen hoch und  sagt:
 
“Nein, es ist was anderes, das verstehst du noch nicht. Wenn du größer bist, erzähle ich dir davon.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Seinen wohlverdienten Urlaub hat sich Kommissar Heinz Kelchbrunner anders vorgestellt: Erst stößt er beim Graben in seinem Garten auf menschliche Gebeine, dann beschäftigt ihn ein weitaus aktuellerer Todesfall in seiner freien Zeit: Anna Einarsdóttír wird beim Spaziergang von einem Ast erschlagen – und das ist, wie sich herausstellt, nicht dem stürmischen Wetter geschuldet. Kelchbrunner und seine Kollegin Katharina Juvanic nehmen die Ermittlungen auf. Die Spur führt schließlich nach Island, die Heimat der Toten, und zum geplanten Bau eines Staudammes, der eine wertvolle Naturfläche akut gefährdet. Dass Kelchbrunner von oberster Stelle dorthin beordert wird, um weitere Nachforschungen anzustellen, kommt dem umweltbewussten Kommissar gerade recht. Vielleicht gelingt es ihm, nicht nur Licht ins Dunkel zu bringen, sondern gleichzeitig seine eigenen Schlafstörungen und einen schmerzhaften Verlust zu überwinden. Kaum in Island angekommen, muss er sich jedoch gleich mit störrischen Behörden und verstockten bis feindseligen Einheimischen auseinandersetzen. Es scheint, als sei niemandem hier an der Auflösung des Falles gelegen …

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