Anne Hünecke

Die Hypernomas

„Ausgerechnet um fünf wurden sie abgeholt“, sagte Gerda mit bedrückter Mine.

„Warum ausgerechnet um fünf?“

Ihr Mann blickte sie verständnislos an.

„Es hätte genau so gut um sieben Uhr sein können. Das macht keinen Unterschied. Es ist nicht wichtig wann es war. Hauptsache es passiert etwas.“

Seine Frau ließ sich nicht beirren. „Aber um fünf Uhr in der Frühe schlafen die Leute. Es hat einen Grund, dass es immer um die Zeit geschieht.“

„Das mag sein. Trotzdem ist die Zeit nicht wichtig“, sagte Hans.

Gerdas Augen wanderten über die kahlen Wände ihrer Wohnung. Sie saßen im Wohnzimmer auf zwei Klappstühlen. Der Raum wirkte leer. Die Kisten, die die einstigen Inhalte der Schränke enthielten, füllten die vier Wände nicht.

Hans gähnte. Zu Gerda gewandt meinte er: „Komm, legen wir uns auf die Matratze. Es hat keinen Zweck zu warten. Heute kommt keiner mehr.“

„Du hast Recht. Lass uns schlafen!“

Das alte Ehepaar trottete ins Nebenzimmer. Auf einer Anrichte befand sich ein Fernseher. Die Wände hatten vor einigen Tagen einen frischen weißen Anstrich bekommen. Außer dem provisorischem Bett und der Kommode befand sich nicht viel in dem engen, schmalen Zimmer. Gerda hörte noch das Lachen ihres ersten Kindes, welches in diesem Raum geschlafen hatte. Damals verzierten gelbe Blumen die Tapete. Nun starrte das kalte Weiß sie an. Ein Lufthauch durchflog den Raum. Noch immer erhellte kein Sonnenstrahl die Wohnung.

 

Plötzlich schreckte Gerda aus ihrem Traum auf. Draußen klirrte es. Eine Stimme ertönte. Es klang verzerrt, wie eine schlecht gemachte Tonstudioaufnahme. Sie hörte Stimmen im Treppenhaus. Gerda versuchte angestrengt etwas zu verstehen. Doch der Straßenlärm verhinderte eine klare Akustik. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Sie weckte ihren Mann. Hans murmelte verschlafen: „Was 'n los, Gerda? Ich will schlafen!“

„Sie sind da!“ Mit gepresster Stimme brachte sie die drei Worte heraus.

Hans schreckte hoch. Er zog sich einen Pullover über und ging in den Flur. Er blickte durch den Spion. Nichts. Die Stimmen entfernten sich. Sie verhallten. Auch die Schritte wurden leise. Dann war es ruhig im Treppenhaus. Hans wartete einige Minuten. Dann ging er zurück zu seiner Frau.

„Falscher Alarm. Leg dich wieder hin.“

Gerda fröstelte. Ihre Haut ähnelte dem Weiß ihrer Wände. Hans legte sich zurück ins Bett.

„Ob sie wiederkommen?“, fragte die kleine Frau.

„Vielleicht waren es nur die Wagners. Du weißt doch, dass Krügers Besuch gehabt haben.“

„Mag sein.“

Nachdenklich strich sie sich ein Haar von der Stirn.

„Wie stellst du dir die Hypernomas vor?“, fragte Gerda.

„Bisher habe ich erst einen näher kennen gelernt. Ein gut gebautes Modell. Einer von der neuen Beta-Serie. Sein metallisches silberglänzendes Aussehen verrät zwar das er ein Roboter ist, aber sein Verhalten ähnelt immer mehr einem Menschen. Er wirkte seriös und freundlich, grüßte jeden Passanten. Aber sein Blick gefiel mir nicht. Er starrte mich zu lang an.“

„Sie sind merkwürdig. Ob sie genau so leben wie wir?“

„Karl behauptet, sie ernähren sich von Solarzellen. Das System ist aber noch nicht ausgereift. Im Winter fallen viele aus“, erklärte Hans.

Gerda blickte zum Fenster hinaus. Es begann zu regnen.

„Torben 37 und … wie hieß der andere noch mal? Ist ja auch egal. Die beiden Hypernomas aus der Bank hatten letztens einige Aussetzer, als ich Geld holen wollte. Sie stotterten und ließen sich viel Zeit mit der Bedienung.“

Hans entgegnete: „Ja, ja. Es gibt noch viel zu verbessern.“

„Wo führt das hin?“, fragte Gerda.

„Mach dir nicht so viele Gedanken. Es nützt ja doch nichts“, sagte Hans.

„Ich hoffe, die Neuen belassen die Wohnung so wie sie ist. Sie sollen nicht anfangen alles umzugestalten. Wenigstens etwas soll bleiben wie es war.“

„Es wird schon werden“, kommentierte ihr Mann.

Nachdenklich blickte Gerda zum Fenster hinaus. „Bald wohnen hier nur noch Roboter. Kannst du dir das vorstellen? Tagein tagaus wird man Hypernomas ein- und ausgehen sehen, sie werden sich verhalten wie richtige Menschen und sogar Lebensmittel einkaufen, obwohl sie die gar nicht brauchen.“

Seit Monaten war die komplette Umsiedlung geplant worden. Alle Menschen der Rabenstraße sollten ihre Häuser verlassen und sich eine neue Wohnung suchen. Das Wohngebäude war nur noch für die Hypernomas vorgesehen.


Am nächsten Tag, zwei Minuten nach fünf, klingelte es. Drei Männer standen vor der Tür. Hans öffnete. Ein kräftiger, muskulöser, blonder Mann begrüßte ihn.

„Guten Morgen, Herr Kobalski. Nun ist es endlich soweit. Sie entschuldigen die Verzögerung. Eigentlich sollten sie gestern umziehen, aber es gab Komplikationen. Ist alles bereit zum Abholen?“

„Ja, alles eingepackt“ sagte Hans.

Die drei Umzugshelfer räumten alle Kartons aus den Räumen. Die restlichen Möbel wurden in den Transporter verfrachtet. Die Wohnung leerte sich. Nach etwa einer Stunde erinnerten nur noch drei gräuliche Flecken an die langjährigen Bewohner der dritten Etage.

Mit den Umzugskartons verschwand auch das Kinderlachen aus alter Zeit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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