Rolf Kirsch

Die Dalfter Klippen - ein Knobelkrimi

Es war 15.30 Uhr, als Oberinspektor Lattmann mit den Worten "Komm, Ludolf" die Beifahrerseite seines alten Golfs öffnete und seine Bulldogge aus dem Fußbereich des Beifahrersitzes entließ. Ludolf schaute etwas missmutig nach oben und bequemte sich gemächlich, das Fahrzeug zu verlassen.

Lattmann schlug die Wagentür zu und beide machten sich auf den Weg zur Haustür von Frau und Herrn Hecker, während Ludolf unterwegs noch ein paar Astern beschnupperte, die den Plattenweg zum Haus säumten.

"Frau und Herr Hecker" brummelte Lattmann. Nur noch Herr Hecker, seine Frau gibt es nicht mehr. Und ich habe die Aufgabe, diese Nachricht zu "überbringen", wie es so schön heißt, dachte er.

Lattmann klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sich etwas regte. Er wollte ein zweites Mal klingeln, als die Haustür geöffnet wurde.

"Ja bitte?"

"Guten Tag, Herr Hecker, mein Name ist Lattmann, Oberinspektor Lattmann, Kripo". Wie ein Automat zog er seinen Ausweis heraus und hielt ihn Hecker kurz hin.

"Polizei?"

"Ja, Herr Hecker, Kriminalpolizei. Es wäre sehr nett, wenn Sie uns hineinlassen würden, das heißt, meinen Hund und mich. Wenn Sie aber etwas gegen Hunde haben, ... Ludolf, Ludolf heißt er, Ludolf ist es  gewohnt, auch im Auto auf mich zu warten."
"Nein, nein, kommen Sie nur herein. Ich habe nichts gegen Hunde."

Hecker ging voraus. Lattmann folgte. Ludolf trabte hinterher, neues Haus, neues Revier, neue Gerüche. Sein Hinterteil wackelte beträchtlich.

"Bitte nehmen Sie doch Platz. Jetzt bin ich aber schon neugierig, worum es geht." Hecker wählte einen Sessel, den er offensichtlich immer wählte und zeigte auf einen anderen, der für Lattmann gedacht war. Als der Oberinspektor sich setzte, war dieses ein Zeichen für Ludolf, sich auf dem Teppich niederzulassen und das Kinn auf die Vorderpfoten zu betten. Die Augen behielt er jedoch misstrauisch geöffnet.

"Herr Hecker, wenn wir von der Kripo kommen, ist es in der Regel unangenehm. So auch in diesem Falle. Aber ich möchte mit einer Frage beginnen. Vermissen Sie Ihre Frau?"

"Natürlich vermisse ich meine Frau. Was soll diese Frage?"

"Seit wann?"

"Seit Monaten. Sie hat mich im Mai verlassen. Sie ist zu einer Freundin gezogen. Wie das manchmal so geht. Wir haben uns zuletzt nicht mehr verstanden. Sie hat dann gemeint, es wäre besser, wenn man sich für eine Weile trennt."

"Ach so ist das. Sie haben sie also seit Monaten nicht gesehen. Hatten Sie überhaupt keinen Kontakt mehr?"

"Sie hat mich in dieser Zeit zwei- oder dreimal angerufen. Wollte wissen, wie es mir geht. Das war's."

"Wie würden Sie denn ihre Beziehung zu Ihrer Frau beschreiben?"

"Sag ich Ihnen gerne. Aber sagen Sie mir zuerst, was geschehen ist."

Lattmann machte eine Pause.

"Sofort Herr Hecker. Haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrer Frau? Möglichst ein ganz neues."

"Bestimmt."

Hecker stand auf und machte sich an der Regalwand zu schaffen. Nach einer Weile kam er zurück.

"Das ist das letzte Foto von ihr. Ich habe es etwa 2 bis 3 Wochen vor ihrem Weggang aufgenommen. Sie ist schön, finden Sie nicht? Sie war immer sehr sportlich, Fitness-Studio, Waldläufe und so weiter, nichts für mich."

Lattmann taxierte das Foto. Eine schlanke Frau, brünette, sehr kurze Haare, groß, wie es schien, fein geschnittenes Gesicht, wenig geschminkt.

"Ja", sagte Lattmann, "sie ist sehr schön. Darf ich das Foto behalten?"

"Selbstverständlich," antwortete Hecker eilfertig. "Wird sie gesucht?"

"Herr Hecker, es ist so!"
Lattmann gab sich einen Ruck.

"Sie wird nicht mehr gesucht. Wir haben sie gefunden. Sie lag am Fuß des Steilhanges der Dalfter Klippen. - Tot."

"Was? Tot?"

Hecker vergrub sein Gesicht in den Händen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder aufsah.

"Das ist ja fürchterlich. Was ist passiert?"

"Nach den derzeitigen Ermittlungen müssen wir davon ausgehen, dass sich Ihre Frau von den Klippen gestürzt hat, um sich das Leben zu nehmen."

Hecker stöhnte.

"Gab es dafür Anzeichen?" Lattmann wartete ab.

"Nein, eigentlich... oder warten Sie. Im letzten Telefonat mit mir erwähnte sie, dass sie jemanden kennengelernt habe. Ich habe noch gefragt, ob es ein netter Mensch sei. Sie antwortete: 'Ach ihr Männer, ihr seid doch alle gleich.'"

Hecker machte wieder ein Pause. "Offensichtlich war sie sehr unglücklich."

"Warum?" fragte Lattmann.

"Nun, dieses Telefonat. Mit ihrer neuen Bekanntschaft schien sie sehr unzufrieden. Wie soll ich sonst die Bemerkung 'Ach, ihr Männer...' deuten?"

"Nicht gerade ein Grund sich umzubringen."

"Nein, aber vielleicht ein Indiz. Es war ja nur eine Andeutung. Wir wissen ja nicht, was sonst noch im Busch war."

"Kennen Sie die Bekanntschaft Ihrer Frau?"

"Nein!" sagte Hecker entschlossen und blickte dann wieder trübsinnig vor sich hin.

Lattmann räusperte sich.
"Herr Hecker, kennen Sie eigentlich diese Gegend um die Dalfter Klippen?"

"Ja. - Allerdings bin ich sehr lange nicht mehr dort gewesen. Als meine Frau und ich jung waren, sind wir oft auf den Klippen gestanden. Man hat dort einen wunderschönen Ausblick über die Landschaft. Ja, wenn man jung ist, dann hat man ein Gefühl für Romantik. Ich weiß noch, dass meine Frau sich immer etwas geängstigt hat. Wir mussten mindestens 5 Meter vom Klippenrand entfernt stehen bleiben. Aber der Ausblick war wunderbar. Der Aufstieg war ja immer mühselig. Seit man vor kurzem den Wanderweg befestigt hat, geht es ja etwas leichter. Aber der Ausblick muss immer noch grandios sein."

Hecker machte wiederum eine Pause.

"Und diese Stelle hat sie ausgewählt, um.... um sich.....was mag nur in ihr vorgegangen sein?"

Lattmann nachdenklich: "Kann man das nicht irgendwie verstehen? Die Beendigung der Beziehung mit Ihnen, dann die Beziehungskrise mit der Bekanntschaft, wer weiß, welche Hoffnungslosigkeit noch dazu kam...?"

"Ja, so wird es gewesen sein," antwortete Hecker zögerlich. Nach einer Pause fuhr er, mehr zu sich selbst sprechend, fort:

"Man muss sich das vorstellen, sie steht am Klippenrand, schaut hinunter in den Abgrund, erinnert sich an unsere junge und von Beschwerden freie Zeit, die gemeinsamen Erinnerungen. Der wunderschöne Ausblick, die romantischen Stunden, die wir dort verlebten, der Wind spielt mit ihrem Haar, das Kleid flattert. Dort oben weht ständig ein scharfer Wind. Kein Wunder. Die Dalfter Klippen stehen ja vollständig allein in unserer Gegend. - Dann fasst sie den Entschluss zu springen. Sie war immer eine sehr mutige Frau. Sie entschließt sich, ihr Leben...."

Hecker schüttelt sich. Wieder bedeckt er mit beiden Händen sein Gesicht.
Lattmann registrierte, wie Tränen zwischen den Fingern rannen. Dem Oberinspektor schien es, dass er nun seine Aufgabe erfüllt habe. Die "Überbringung" einer traurigen Nachricht war erledigt. Einen Moment blieb er noch sitzen.

"Herr Hecker, es gibt für Sie natürlich noch einiges zu erledigen. Meine Aufgabe war es lediglich, Sie zu informieren. Ich schlage vor, dass Sie morgen am Vormittag ins Präsidium kommen, Zimmer 217. Dort erfahren Sie alles Weitere und können die mit der Bestattung verbundenen Angelegenheiten regeln. Ich gehe davon aus, dass dann die Leiche Ihrer Frau freigegeben wird. Ich darf Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen."

Lattmann stand auf. Auch Ludolf stellte sich auf seine kurzen Beine, reckte den Körper und gähnte.

"Danke", sagte Hecker gequält, ging voraus, um beide Besucher aus dem Haus zu lassen.

Lattmann öffnete den Golf an der Beifahrerseite, half Ludolf beim Einsteigen und machte eine Runde um das Auto, um die Fahrerseite zu erreichen. Hecker stand noch in der Haustür. Als Lattmann anfuhr, winkte er Hecker noch einmal zu. Der winkte dankbar zurück.

Nach kurzer Zeit wandte sich Lattmann an seinen Hund: "Ludolf, ich glaube, wir haben gerade mit einem Mörder gesprochen. Einige Indizien dafür hat der Hecker frei Haus geliefert. Wenn er morgen ins Präsidium kommt, werden wir etwas weniger freundlich mit ihm verfahren."

 


>Wie kommt Oberinspektor Lattmann zu dieser Ansicht? Überlegen Sie zunächst, bevor Sie weiterlesen.<

 

 

 

 


Nach einer Rechtskurve setzte Lattmann das Gespräch mit Ludolf fort.

"Erstens; Hecker sagte, dass seine Frau vor vielen Jahren immer mindestens 5 Meter vom Klippenrand entfernt blieb, da sie Angst vor der Tiefe hatte. Ist es plausibel, dass eine Frau, die sich das Leben nehmen will, eine Todesart wählt, die sie bereits im Vorfeld ängstigt?
Genau, Ludolf, es ist nicht plausibel. Aber natürlich ist das kein Beweis. Frau Hecker hätte ihre Abneigung gegen Abgründe überwinden können.

Zweitens; Hecker sagte, dass er seit vielen Jahren nicht mehr auf den Dalfter Klippen war und dass damals der Weg sehr beschwerlich war, heutzutage aber nach der Ausbesserung des Wanderweges leichter zu begehen sei. Woher wusste er, dass der Wanderweg vor kurzem ausgebessert worden war und vor allem, dass er nun leichter zu begehen sei?
Ich weiß, Ludolf, er könnte es in der Zeitung gelesen haben. Aber dass der Weg nun leichter begehbar ist, weiß man doch erst, wenn man es ausprobiert hat. Mir scheint, er ist diesen Weg vor wenigen Tagen gegangen. Ja, sicherlich, kein Beweis. Aber nun kommt es etwas dicker.

Hecker zeigte mir ein Foto seiner Frau, das er kurz vor ihrem Verschwinden gemacht habe. Dieses Foto zeigt Frau Hecker mit sehr kurzen Haaren. Seitdem habe er sie nicht mehr gesehen, sagte er.
Wie aber kommt er zu der Vorstellung, dass sie am Klippenrand gestanden habe und der Wind mit ihrem Haar gespielt hätte?
Ludolf, du weißt, die Leiche hatte längeres Haar. Das aber hat Hecker nicht wissen können. Es sei denn, er hat sie entgegen seiner Aussage doch gesehen, und zwar an ihrem Todestag. Was meinst du, Ludolf?

Ich weiß, alles nur Indizien. Aber das Gespräch mit Hecker wird morgen früh mit diesen Indizien beginnen. Und auf alles wird der Hecker eine Antwort haben müssen.

Ist dir übrigens aufgefallen, Ludolf, dass er sagte, 'sie war immer sehr sportlich' statt 'sie ist immer sehr sportlich', als ich ihren Tod noch gar nicht erwähnt hatte? - Ja, mir auch.

Noch etwas, Ludolf, warum meinte er, dass sie ein Kleid getragen habe?"

Ludolf schaute Lattmann von unten an und schien zufrieden mit seinem Chef.

 


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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