Andre Kiesler

Macho

 

Macho

 

„Bist du ein Macho?“

 

Die Frage kam überraschend. Nur mit Mühe bekam ich den linken Handschuh über meine ohnehin vor Kälte fast erfrorenen Finger. Sämtliches Blut schoss im Bruchteil einer Sekunde aus meinen Extremitäten ins Hirn. Ein imaginäres Rotes Licht leuchtete vor meinen Augen und ein Schriftband mit dem Hinweis „Vorsicht Falle" zog ebenso imaginär vorüber.

Eigentlich hatte diese Verabredung ein kleiner Spaziergang werden sollen, völlig entspannt, nur ein wenig frische Luft an die Lungenflügel lassen, eine Prise Poesie, ein Schuss Muse. Nebenbei die Dame schwer beeindrucken, quasi eine Art Suchtpotential aufbauen. Selbstverständlich völlig unbedarft und ohne verwerfliche Hintergedanken. Doch nun dieses Gefühl, als wenn urplötzlich an Brust, Kopf und Handgelenken Elektroden angelegt würden die direkten Weges zu einem Lügendetektor führen.

 

Ich hatte noch nicht genügend Luft geholt, um ihr mit einem klaren Nein die erste unhaltbare Lüge aufzutischen, als sie zu zitieren begann. Worte, die ich vor zwei Jahren an sie gerichtet hatte. Nicht einmal ansatzweise konnte ich mich erinnern. Ich beschloss, ihr Glauben zu schenken. Bewusst wurde mir eines: sie hört zu und das macht sie sehr gefährlich.

 

Unter meiner Schädeldeckel jagte in diesem Augenblick ein Gedanke den anderen. OK, dachte ich,  ich war ja mal so was wie ein Kamikaze- Macho. Aber das liegt lange, lange zurück. Augenscheinlich  drang etwas von innen nach außen, das ich geglaubt, verloren zu haben. Da musste noch etwas sein., das ihre Aufmerksamkeit erweckt hatte.

 

„Petra“, begann ich nachdenklich, „ich verbringe meine Zeit nicht damit, Gedanken daran zu verwenden, wie ich Anderen das Leben retten kann. Mein eigenes kostet mich genügend Energie. Ich kann dir nur anbieten, dich ganz nah an mich heran zu stellen und es kann dir nichts passieren.“

 

Nach diesen meinen Worten musste sie herzlich lachen. Ich war mir sicher, dass sie mich lange schon durchschaut hatte und nun ein Spiel mit mir spielte.  Die Dämmerung war hereingebrochen. Mittlerweile fand ich mich in einem Wald wieder.

 

„Darf ich davon ausgehen, dass du in diesem Wald sozusagen... ich meine, so etwas ähnliches wie beheimatet bist? Äh, ich gehe mal davon aus, du weißt, wo wir uns befinden, kennst dich hier aus? Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.“

„Aber natürlich, Andreas. Seit Jahren gehe ich hier entlang. Bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit.“

„ Du bist der Scout. Ich denke, du könntest mich jetzt zwei Stunden um das gleiche Karree führen und ich würde behaupten, dass wir an jeder Stelle, welche wir zum x-ten mal passieren würden, noch  niemals vorbei gekommen sind.“

 

Was war nur los mit mir?  Insgeheim hoffte ich, dass sich die Frage, die sich zu Beginn unseres Ausfluges stellte, erübrigt hätte. Doch wurde ich selbst sie plötzlich nicht mehr los. Manisch bohrte sie sich in mein Hirn. Von innerer Panik getrieben fühlte ich, weitere Vorsichtigkeiten abwägen zu müssen.

 

„Du weißt, dass ich dir hier und jetzt hilflos ausgeliefert bin. Du könntest mich sehr tief in diesen mir unbekannten Wald führen und dann selbst in der Dunkelheit verschwinden.“Petra machte ein vergnügliches Gesicht und schwieg.

„Auch könntest du einfach davon rennen. Wenn ich dich nach fünfzig Metern nicht einhole, würde ich es gar nicht mehr tun können."

Ich hatte sechs Wochen zuvor mit dem Rauchen aufgehört. Mein first aid Programm in eigener Sache war also gerade erst angelaufen und konnte bestenfalls meinen Antritt etwas verbessert haben, Das heißt, ich würde jetzt immerhin erst nach siebzig Metern das erste Mal schlapp machen anstatt, wie bisher, bereits nach fünfzig. Das dürfte es an bahnbrechender Reform aber auch schon gewesen sein. 

 

„Ich möchte dir meinen Baum zeigen“, wurde ich aus meinen resignierenden Gedanken gerissen. Petras Augen funkelten in der Dämmerung. Ein vor Freude strahlender Gesichtsausdruck, der ihre Überlegenheit zum Ausdruck brachte. „Hier gibt es doch bestimmt Wildschweine, die frei herumlaufen?“ 

Beim Aussprechens dieses Gedankens merkte ich, welch gehöriges Wörtchen das Hormon Adrenalin bei der Regulation des Herzschlages und weiterer Körperfunktionen mitzureden hatte. Für einen Schweißausbruch auf der Stirn war es zwar zu kalt, doch unter meinen Armen fühlte ich den Ansatz von Transpiration.

 

„ Ja sicher.“  Sie klang wenig überrascht und in ihrer Stimme schwang ein geheimnisvolles Hauchen mit. „Eine ganze Menge sogar.“

 

Meine Ohren begannen, sich auf jedes Geräusch zu konzentrieren. Meine Augen versuchten krampfhaft, den Wald um mich herum abzusuchen. Mehr als drei Meter Sicht waren nicht mehr drin. Zu wenig, um einem wild gewordenem Keiler rechtzeitig auszuweichen. Vor meinem geistigem Auge sah ich mich bereits in wildem Nahkampf mit einem Schwarzkittel. Machte es wirklich Sinn, ständig nach einem Baum zu suchen, der zu erklettern wäre. Selbst wenn ich einen entdecken würde und tatsächlich eine Wildsau käme, müsste ich die unerschrockene Petra wohl erst einmal von der Gefahr überzeugen, ihr zweitens den Vortritt beim Aufstieg lassen und ihr eventuell sogar noch Hilfestellung geben. Petra wäre oben auf dem Baum und ich unter dem Keiler. Selbstverständlich würde mir dieser in klassischer Manier einen seiner spitzen, krummen, gelben Hauer in meinen kräftigen, fleischigen  Oberschenkel jagen, mir die Schlagader durchtrennen und ich würde lngsam ausbluten. Petra wüsste dann, Andreas war ein Macho, der ihr Leben gerettet hat, aber so einen Typen wollte sie nicht haben.

 

Also besser gar nicht mehr warten und sofort auf einen Baum springen, um mir zuerst einmal einen Überblick über die Lage zu verschaffen? Könnte aber peinlich enden. Vor vielen Jahren nämlich war ich einmal mit meiner Familie auf einem Spaziergang unterwegs auf einer romantischen Straße zwischen einem kleinen Wald und einem riesigen Maisfeld. Da geschah es, dass eine weitere Familie in etwa fünfzig Meter Entfernung hinter uns den gleichen Weg wählte. Eine Wildschweinfamilie. Natürlich hatte ich sie zuerst gesehen und während ich rief :„Achtung Wildschweine!“, sprang ich auf einen zwei Meter hohen Wall neben der Straße. Wieder einmal hatte mich keiner meiner Familie wahrgenommen. Sie ignorierten mein Rufen und Gestikulieren schlechthin. So stand ich ziemlich einsam auf der Böschung und musste hilflos und mit Bestürzen zusehen, wie die Tiere immer näher kamen. Also sprang ich zurück auf die Straße. Gerade, als ich breitbeinig, mit festem Halt und geschwellter Brust dem Feind ein Bild des Widerstandes und der Familie mein Zeichen zur entschlossenen Verteidigung bot, schwenkte die Wildsaurotte nach links ab, über die Felder in Richtung Wald. Gesagt hatte anschließend keiner etwas, nur in ihrem Blick lag irgendwie so etwas Mitleidvolles.

 

Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, dass ich Petra auf jeden Fall verliere. Sie würde mich verachten, egal, ob ich wieder der erste auf dem Baum gewesen wäre, oder ob ich mein Leben zwischen sie und den Keiler geworfen hätte.

 

„Andreas.“ Als ich meinen Namen hörte, fiel ich aus meinen Gedanken. „Ich muss mal ins Gebüsch." „Fang jetzt nur nicht an, Wildschweine aufzuschrecken.“ „Nein, ich muss nur mal kurz.“ „Wie, was musst du mal kurz? Ah, verzeih, ich verstehe. Ich warte hier auf dich.“ „Ja bitte, du musst mir jetzt wirklich nicht hinterher laufen.“

 

Als ich ihr noch hinterher rief: „Tritt mir bitte nicht auf eine Wildsau“, bekam ich schon keine Antwort mehr. Nach drei Schritten verloren sich ihre Konturen in der Dunkelheit.

 

Zu allem Unglück begann es auch noch zu nieseln. Da stand ich, allein im Regen, in einem mir völlig unbekannten, schwarzen Wald, umgeben von Horden von Wildschweinen. Und es war bereits finstere Nacht.  Auch wenn ich noch keinen Druck verspürte entschloss ich mich, der plötzlich eingetretenen Einsamkeit einen Sinn zu geben und meine Blase ebenfalls zu leeren. Der Gedanke kam auf, die Frau könnte sich durch das Unterholz aus dem Staub machen. Hier hatte sie Heimvorteil und ich würde Stunden brauchen, um aus dem Wald wieder herauszukommen. Irgendwann würde ich dem Geräusch entfernt fahrender Autos folgen, denn sonst würde mich mein eigener Orientierungssinn garantiert in die entgegengesetzte Richtung führen.

 

Bis auf das Plätschern, das ich durch das Entleeren meiner Blase verursachte, gab es hier keinerlei Geräusche. Als ich wieder völlig korrekt auf den Waldweg zurückkam, rief ich ihren Namen, um mich davon zu überzeugen, dass sie noch in der Nähe war.

 

Sie war es.  „Was hättest du gemacht, wenn ich nicht mehr da gewesen wäre?“

 

Also doch. Den Gedanken, mich hier allein stehen zu lassen, fand sie faszinierend.

 

„Ich hätte die Stelle, an der ich dich zuletzt vermutet, solange abgesucht bis ich mir sicher gewesen wäre, dich hier nicht mehr zu finden. Anschließend müsste ich den Weg zu dir nach Hause suchen. Wenn du am nächsten Tag nicht aufgetaucht wärst, hätte ich vermutlich bis zu deiner Rückkehr im Knast gesessen. Mein Schicksal und meine Freiheit liegen in deiner Hand.“

 

Als ich mich von meiner ehrerbietenden Verbeugung wieder aufgerichtet hatte, fuhr mir etwas ganz anderes durch den Kopf. Ich stellte mir vor, wenn ich verschwände, was würde dann passieren?  Zunächst überhaupt nichts. Meine Hausbank würde alle laufenden Posten weiter bedienen und zwar solange, bis die Beleihungsgrenze meiner Wohnung ereicht wäre. Meine Kunden würden denken, ich würde wegen plötzlich eingetretenen Reichtums von meinem weiteren Erscheinen in der Werkstatt absehen, Vielleicht würden sie versuchen, mich noch das eine oder andere Mal telefonisch zu erreichen. Aber dann -  Ende.

Plötzlich wurde mir die Bedeutung Petras klar, mit der ich hier allein mitten in der Nacht im Wald umherspazierte, Sie wäre die erste, der mein Verschwinden auffallen, und im Augenblick die einzige, die dies auch bedauern würde. In Anbetracht dieser harten Erkenntnis hätte es mir den Magen umdrehen müssen. Nur konnte ich mir bei der unmittelbaren Bedrohung eines eventuellen Wildschweinangriffs Schwäche nicht erlauben.

 

„Ich wollte dir doch meinen Baum zeigen, Andreas. Jetzt ist es aber schon dunkel und wir können ihn nicht mehr sehen.“

 

Ihre Worte waren eine Erleichterung bei diesem Anfall von Schwermut, der über mich zu kommen drohte. Ihre Stimme zu hören signalisierte mir: ich bin nicht allein. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf, mein Atem hob meine Brust, ließ mein Herz höher schlagen. Ich spürte eine Kraft, die es möglich machen kann, ein wildes Tier in den Wald zurück zu schreien. "Hau ab, du Sau!", müsste genügen.

 

„ Macht nichts. Ich würde auch lieber bei Tag deinen Baum kennen Lernen. Lass uns zurück gehen. Und überhaupt brauche ich bei der nächsten Nachtwanderung mein Schwert.“

 

„ Wozu brauchst du ein Schwert?“

 

„Prinz Philipp von Makedonien, der Vater von Alexander dem Großen, hatte ein Schwert, als er auf seiner Flucht einem fünf Zentner schweren Eber über den Weg lief, von seinem Pferd stieg.........“

 

 

 

 

Auszug aus der Sammlung „Nachgedanken“ von André Kiesler.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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