Andreas Rüdig

Travestie

Travestiekünstler nehmen auf der Bühne die Rolle des anderen Geschlechts ein. Sie unterhalten ihr Publikum. Gesang, Tanz und humoristische Einlagen gehören zu den bevorzugten Präsentationsformen.

Travestiekünstler parodieren große Künstler oder stellen bekannte Stoffe, zum Beispiel  aus der Dichtung, in komisch-lächerlicher Form dar. Dabei ist das Spiel mit den Geschlechtern entscheidend. Männer schaffen die perfekte Illusion, wenn sie auf der Bühne eine Frau verkörpern. Einige tragen beispielsweise übertriebenes Make-up, bunte Kostüme, Perücken, Pelzmäntel, aufwendige Galaroben oder Straß- und Federschmuck.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebes Publikum, liebe Hörer draußen an den Rundfunkempfangsgeräten.

Wann ist ein Mann ein Mann? Dieser Frage ist der Bochumer Sänger Herbert Grönemeyer in einem seiner populären Lieder nachgeganen. Und hat auch gleich eine Antwort geliefert. Doch eine Sache vergaß er dabei völlig. Nämlich die Frage: Wann ist eine Frau eine Frau? Oh, biologisch ist die Frage einfach zu beantworten. Sie muß weibliche Rundungen an den richtigen Stellen haben, die genetische Erbinformation des weiblichen Geschlechts besitzen und was sonst noch dazugehört.

 

Doch reicht das? Bei den Vorbereitungen auf mein Referat habe ich mich mit Thusnelda unterhalten. Na ja, eigentlich heißt sie Friedemann Leberecht. Nur wenn er auf der Bühne steht, ist er eine Frau. "Friedemann, Leberecht, wird mir bestimmt helfen können," dachte ich bei den Vorbereitungen. Wer sonst, wenn nicht er? Diese berechtigte Frage führte mich in sein kleines Zimmer hinter der Bühne.

 

Als ich ihn dann aber fragte, was eine Frau ausmache, schüttelte er nur den Kopf. "Ich weiß es nicht," behauptete er steif und fest. Natürlich müsse er sich öfter und intensiver rasieren als andere Männer, Make-up benutzen. Anfangs habe sein Friseur schon blöd geguckt, als er nach einem betont femininen Haarschnitt und Haarpflegemitteln gefragt habe, berichtet Friedemann Leberecht. Der Hinweis darauf, daß er Künstler sei, beendete dann jegliches Gelächter.  Warum er denn Travestiekünstler geworden sei, verlange ich zu wissen. Sei es da nicht erforderlich, sich in das jeweils andere Geschlecht hineinversetzen zu wollen? "Nein," betont Friedemann Leberecht. Man müsse nur wissen, in welcher Tonlage das andere Geschlecht rede, welches Themenspektrum es drauf habe und könne sich dann das entsprechende Sprechen angewöhnen.

 

Doch zurück zur Ursprungsfrage: Warum ist er Travestiekünstler geworden? Natürlich wolle er Geld damit verdienen, berühmt werden und ein gefeierter Star sein. Er stehe also gerne im Rampenlicht und auf der Bühne. Die Lust zum Verkleiden, ein gewisses parodistisches Talent und der Drang zur Selbstdarstellung kämen hinzu.

 

Und das soll alles gewesen sein? Keine traumatischen Kindheitserlebnisse? Kein unterdrückter Hang zur gleichgeschlechtlichen Liebe? Kein schlagender Vater, keine übertrieben liebevolle Mutter? Nichts davon, wenn man Friedemann Leberecht glauben darf. "Für meine Eltern ist der Schauspieler ein ganz normaler Beruf, einer so wie viele. Männer in Frauenkleider kannte sie bereits aus Klamaukfilmen der `50er und `60 er Jahre. Sie wußten also, daß es diese Kunstform gibt. Als sie mich auf der Bühne sahen, waren sie total begeistert. Als sie sahen, wie erfolgreich ich bin, wurden sie regelrecht stolz auf mich," berichtet Friedemann Leberecht.

 

Erst als ich die frage stelle, wo er seine Schauspielkarriere begonnen habe, wird Friedemann Leberecht ein wenig verlegen. Anfangs waren es schon Etablissements mit zweifelhaftem Ruf. Rot war dort die bevorzugte Farbe gewesen. Das habe sich erst geändert, als das neue Variete in der Stadt aufgemacht habe. Dort erhielten Kleinkünstler wie er eine Chance. Das Variete wurde zu seinem Sprungbrett - heute füllt Thusnelda Hallen. Kleine Filmrollen übernahm Friedemann Leberecht zwar auch schon; wirklich befriedigen konnte ihn diese Arbeit aber nicht. "Man kann seine Rolle nicht wirklich entwickeln," behauptet Thusnelda.

 

Natürlich habe ich mich auch mit Lothar unterhalten. Er heißt ja eigentlich Franziska. Männer seien ganz einfach zu spielen, behauptet sie. Derbe Kleidung, ein paar Macho-Sprüche, Bier in der Hand und Zigarette im Mund und schon sei der Kern des Mannes getroffen. "Männer sind immer noch Jäger und Sammler. Heute sind wir Weibchen ihre Trophäen," behauptet Franziska. Ihr Bruder habe ihr sehr geholfen, in eine Männerrolle zu schlüpfen. Nicht etwa, daß ein inzestuöses Verhältnis vorgelegen habe, nein, mitnichten. "Zeig mir mal, wie ein Mann ... und er zeigte mir, wie ein Mann ... ." Beruflich sei ihr Bruder immer eine große Hilfe gewesen, betont Franziska. "Außerdem ist er glücklich verheiratet und Vater zweier entzückender Kinder."

 

Ich gestehe gerne, daß ich noch nie in einer Travestie-Vorstellung gewesen bin. Ich kenne sie nur aus dem Fernsehen und habe keine Ahnung, was in der Vorstellung geboten wird. Trotzdem traue ich mich, Ihnen, liebe Zuhörer, diesen Vortrag darzubieten. Was meinen Sie: Bin ich Mann oder Frau? Lüge ich, wenn ich Ihnen eine Antwort gebe? Mann oder Frau - wer weiß das so genau? 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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