Kirsten Bröcher

Agas Weihnachten

 

Vor ein paar Monaten waren die Schafe ins Weideland gezogen und hatten in ihren Nachbarn, den Eulen, neue Freunde gefunden. Der Sommer und der Herbst sind schon vorbei, das Jahr neigt sich nun dem Ende zu und es wird langsam kalt und neblig. Sehr ungemütlich, in der Tat. Die Eulen unternehmen abends gerne Ausflüge ins nahegelegene Dorf und beobachten mit großem Interesse das geschäftige Treiben der Menschen. Aga erzählt den Schafen früh am nächsten Morgen  immer von dem, was sie am Abend und in der Nacht im Dorf erlebt hat: „ Es ist wirklich wuuuunderschön. Alles ist hell und festlich und bunt. Die Menschen verjagen die Dunkelheit mit ewig brennenden Bäumen, die nicht nach Rauch stinken und die Menschen singen und machen Musik. Uuuund das ist noch nicht alles! Ich hab euch was mitgebracht! Tataaaaa!“ Mit dieser festlichen Ansprache schloss Aga ihre Erzählung für diesen Tag und zog unter großer Anstrengung mit dem Schnabel eine riesengroße rote Zipfelmütze mit weißem Bommel aus dem Gebüsch hinter sich und präsentierte sie den Schafen, die sie interessiert beobachteten.

 „Was ist das denn?“, blökte Holle. Aga erklärte: „Die Menschen tragen es auf dem Kopf. Damit ihnen nicht die Gedanken aus den Ohren purzeln...glaube ich. Und da war ein Mann, der hatte genau so ein weißes Fell aus Wolle im Gesicht wie ihr, dem stand die Mütze besonders gut und die Menschen waren sehr freundlich zu ihm. Da musste ich an euch denken. Holle, probier die Mütze doch mal auf!“ Die Schafe bedankten sich höflich und Holle ließ sich von ihren Freunden helfen, die Mütze aufzusetzen. Kokett drehte sie eine Pirouette und fragte mit einem gekonnten Augenaufschlag: „Na, wie seh’ ich aus? Bin ich genauso elegant wie der Wollmensch im Dorf?“ Aga und die Schafe staunten und warfen ihr bewundernde Blicke zu. Wolle wurde unruhig und hüfte aufgeregt auf und ab: „Lass mich auch mal! Ich will, ich will, ich will. Gib mir die Mütze! Jetzt bin ich dran!“ Holle blökte einmal schadenfroh und zeigte Wolle ihre lange rosa Zunge: „Hol’ sie dir doch, wenn du dich traust!“ Bald war eine wilde Jagd im Gange. Wolle und Bolle waren ganz begeistert von der Mütze und wollten sie auch unbedingt anprobieren, aber Holle machte sich einen Spaß daraus mit wehender Zipfelmütze auf dem Kopf vor ihnen wegzulaufen. Aber da Holles Kopf so zart und schlank und die Mütze so groß und weit war, rutschte der Saum immer weiter nach unten bis die Mütze schließlich Holles Augen vollständig verdeckte. „Hilfe, zu Hilfe, die Sonne ist weg! Ich seh’ nichts mehr,“ rief Holle während sie orientierungslos über die Weide huschte. Wolle packte die Gelegenheit beim Schopf beziehungsweise beim Zipfel und riss Holle mit den Zähnen in einem einzigen Ruck die Mütze vom Kopf. Aga beobachtete das alles aus der Luft und freute sich, wie gut ihr Geschenk bei den Schafen angekommen war. Die anderen Eulen freuten sich weniger, denn sie wollten nun schlafen gehen und die Schafe machten bei ihrer Mützenjagd viel Lärm. Schließlich hatte die Obereule genug und beschloss ein Machtwort zu sprechen. Sie flog auf den höchsten Punkt der Weide, einen dünnen hohen Baum in der Mitte der Wiese und rief: „Ruhe hier! Wir wollen schlafen!“ Weil die Schafe noch wussten, was das letzte Mal passiert war, als sie die Eulen verärgert hatten, gehorchten sie aufs Wort. „Entschuldigung, wird nicht mehr vorkommen!“, säuselte Holle und die Schafe begruben ihren Streit und begannen friedlich zu grasen. Sie beschlossen, dass sie die Mütze immer abwechselnd tragen wollten. Jeden Tag ein anderes Schaf. Heute war Holle an der Reihe, morgen sollte es Wolle sein und am übernächsten Tag Bolle und am überübernächsten Tag wieder Holle. So sollte es weitergehen. Es hatte sich inzwischen in der gesamten Gegend auch außerhalb des Eulenwaldes herumgesprochen, dass eine winzige Herde Schafe auf der Weide wohnte. Eine Herde Schafe, die so klein war, dass es noch nicht einmal einen Schäferhund gab, der sie beschützte. Der Schäfer war eigentlich kein Schäfer. Er war ein wohlhabender Supermarktbesitzer aus dem Dorf und hatte die drei Schafe von seinem Onkel geerbt, der im vorigen Jahr verstorben war. Diese drei Schafe waren alles, was von der ehemals großen Herde übrig geblieben war und eigentlich hatten sie geschlachtet werden sollen. Die Tochter des Supermarktbesitzers liebte aber Tiere und hatte ihren Vater so lange angefleht, bis der zusagte, die Schafe auf seinem Besitz auszusetzen. Dort bekamen sie eine große Weide und einen Schuppen. Anfangs war der neue Schäfer noch ein paar Mal vorbei gekommen um nach dem rechten zu sehen, aber nach einer Weile waren die Besuche immer seltener geworden. Im Winter wollte er den Schafen ab und an etwas zusätzliches Futter bringen. Im Prinzip überließ er die Schafe aber sich selbst und ließ sie auf der Weide tun und lassen was sie wollten. Selbst als sie von Aga völlig weidenuntaugliche Frisuren bekommen hatten (Holle hatte kleine Zöpfchen, Bolle wurde ein Zebraschaf mit schwarzen Streifen und Wolle hatte einen pinken Irokesenschnitt bekommen.) selbst da hatte er kaum einen Kommentar gegeben. Das Einzige war dieses gewesen: „Haha, da haben sich die Buben aus dem Dorf wohl einen Scherz mit euch erlaubt. Na ja, müsst ihr nicht so eng sehen. Das sind schließlich noch Kinder.“ Dann hatte er sein Mobiltelefon genommen und die Schafe fotografiert, damit er sich auch im Dorf noch über den gelungenen Scherz kaputtlachen konnte. Nicht nur die Schafe wussten inzwischen, dass ihr Schäfer sie in Sachen Sicherheit vernachlässigte, auch die Wölfe die in der Gegend lebten, hatten davon gehört. Sie fanden sich am Waldrand der Eulen im Rudel zusammen um einen Plan auszuhecken: „ Noch sind die Schafe ungeschützt. Wir können machen was wir wollen.“ Ein anderer Wolf rief begeistert: „Ja, was wir wollen, was wir wollen! Und auch wann wir wollen. Wir müssen bloß hingehen und zupacken! Hehe. Leckeres Schaf. Hatte ich lange nicht mehr.“ Der Rudelführer meldete sich zu Wort: „Wann wollen wir es anstellen? Ich habe gehört, es gibt einen Tag, an dem mit Menschen hier oben nicht zu rechnen ist. Die sind dann alle im Dorf und feiern.“ Ein grauzerzauster Wolf erkundigte sich interessiert: „Und wann ist das? Das klingt ja ideal. Keine Menschen, die uns in die Quere kommen. Ich meine, nicht dass der Schäfer uns hier jemals gestört hätte. Hehe. Aber man kann ja nie wissen.“ Der Oberwolf fuhr fort: „Am 24. Dezember hat ihr Retter Geburtstag. Sie stellen sich alle um die Krippe in der Kirche und singen dem Baby zu Ehren Lieder. Ich weiß nicht wie, aber dieses Baby hat es in sich. Es hat die Macht sie alle zu erlösen. Das habe ich mit eigenen Ohren belauscht. Nun, nach Anbruch der Dunkelheit werden sie jedenfalls alle unten in der Kirche sein und dem Baby Geschenke und Lieder darreichen. Und wisst ihr auch, was wir währenddessen machen werden? Nein?! Dann werde ich es euch sagen: In der Zeit, in der sie Baby Jesus verehren, schnappen wir uns unser Geschenk!“ Zwei junge Wölfe heulten mit viel Taktgefühl, Rhythmus und einem Anflug von Melodie: „ Und das sind drei fette Schafe, drei fette Schafe, es gibt- drei- fet- te- Schafe.“ „Holder-die-buschfee, Schnauze ihr Spinner!“, fuhr sie der Leitwolf an. Sie gehorchten demütig und zerknirscht und das gesamte Rudel machte sich nach der Observation des Territoriums und der Festlegung des Planes wieder auf den Heimweg. Aga saß verstört und wie versteinert auf einem Ast gleich in der Nähe des Ortes an dem die Wölfe sich versammelt hatten. Nein, das durfte nicht wahr sein. Die Wölfe wollte ihre besten Freunde reißen. Am 24. Dezember. Aga hatte alles mitbekommen. „Ich muss sofort mit der Obereule sprechen!“, beschloss Aga, die kleine Eule. Die Obereule war noch tief in ihre allnächtliche Meditation vertieft und machte gurrende Meditationslaute. Beim Einatmen hob sich ihr Bauch und wurde groß und rund wie ein Ballon, beim Ausatmen machte sie: „U-huuuuuh, u-huuuuuuuh.“ Es klang beinahe wie ein melodisches Schnarchen. Aga flog auf den Ast der Obereule und setzte sich dort hin. Der Ast begann zu zittern und die Obereule öffnete mit erschrockenem Blick die Augen. „Hilfe!“, schrie Aga, um die Obereule auf den geplanten Angriff auf die Schafe hinzuweisen. Aber die Obereule bekam nur den Schreck ihres Lebens und fiel ein lautes „U-huuuuuuuuAAAAAAAAH!“ kreischend Richtung Waldboden, konnte sich aber gerade noch fangen bevor sie aufprallte. „Komm sofort her! Aga! Aber sofort! Was fällt dir ein?!“, empörte sie sich. Aga stand mit gesenktem Schnabel vor ihr und sagte: „Entschuldigung, Herr Obereule. Ich kann das erklären. Ganz bestimmt.“ Inzwischen waren alle Eulen auf den Tumult aufmerksam geworden und hatten sich zum Platz des Geschehens begeben um als Schaulustige ganz nah dabei zu sein.

 „Da bin ich aber mal gespannt, was du zu deiner Verteidigung vorzubringen hast! Ist dir eigentlich klar, was hätte passieren können?! Ich hätte mich ernsthaft verletzen können!“, grummelte die Obereule verärgert und anklagend. Aga hüpfte währenddessen verlegen und verschämt von einem Fuß auf den anderen und kratzte verlegen an der Baumrinde. Sie wagte es kaum, die strenge Obereule direkt anzusehen, weil sie wusste, dass sie mal wieder unbeabsichtigt Ärger heraufbeschworen hatte. Doch es ging hier um etwas viel Wichtigeres! Sie musste ihre Freunde retten! „Also, da waren Wölfe,“, begann sie, wurde aber sofort von entsetzten Schreckensschreien der Eulen unterbrochen: „Wölfe! Hier im Wald!“ „Ungeheuerlich!“ „Oh nein, oh nein, wir werden alle sterben!!!“ Die Obereule breitete gebieterisch ihre Flügel aus und es kehrte Ruhe ein. Dann nickte sie Aga zu um sie zu ermuntern weiter zu erzählen. Aga räusperte sich und richtete sich zu voller Winzigkeit auf: „Die Wölfe haben einen Plan besprochen. Sie wollen nicht uns angreifen. Sie werden die Schafe reißen. Alle drei, am 24. Dezember.“ Einerseits waren die Eulen erleichtert zu hören, dass sie vorläufig nicht auf dem Speiseplan der Wölfe gelandet waren, andererseits waren sie erschüttert darüber, dass ihre Freunde und Nachbarn den wilden Tieren zum Opfer fallen sollten. Es machte sich wieder unruhiges Gemurmel breit. „Nicht zu fassen! Die armen Schäfchen!“ „Oh je, wo soll das mit unserer Welt nur hinführen! Nur noch Mord und Totschlag, wohin das Auge reicht!“ „Ja, aber wieso ausgerechnet am 24. Dezember?“, fragte die Obereule nach. Aga erinnerte sich: „Der große starke Wolf hat gesagt, dass dann alle Menschen im Dorf seien und blieben, weil sie dann ihren Erlöser feierten und ihm Geschenke und Ständchen brächten. In der Kirche. Die Menschen im Dorf haben ein riesiges Fest, weil das Baby sie erlöst hat. Es beschützt sie und deshalb feiern sie es und der Wolf hat gesagt, dass sie dann hier oben freie Bahn hätten und die Schafe fressen könnten.“ Panik machte sich breit. Die Eulen beschlossen die Schafe zu warnen und herauszufinden wann der 24. Dezember sein würde. Dann wollten sie ihrerseits einen Plan aushecken um die Wölfe ein für allemal zu vertreiben. Als der Morgen langsam dämmerte, hüpfte die Obereule mit einer kleinen Delegation Untergebener, darunter auch Aga, die ja alles berichten konnte, hinunter zum Schafunterschlupf. „Ahääahem, uhuu,“ räusperte sich die Obereule um die Schafe zu wecken. Zu leise, sie hatten nichts gehört. Aga hüpfte in den Schuppen und kitzelte den Schafen die Füße, wie sie das oft machte um sie zu ärgern. Aber dieses Mal war es ernst. Holle steckte wie immer als erste ihre feuchte Schafsschnauze aus der Türöffnung. „Guten Morgen! Das ist aber eine Überraschung! Und so früh!“ „Was ist da draußen los?“, brummelte Bolle unwirsch. „Oh, Schafe, so tretet hervor, bitten wir euch!“, säuselte der Ansager der Obereule. Eines nach dem anderen verließen die Schafe den schützenden Schuppen und fanden sich in der vormorgendlichen Dunkelheit wieder. Die Obereule und Aga berichteten, was vorgefallen war und baten die Schafe trotz allem Ruhe zu bewahren. Doch die drei Schafe begannen zu zittern und zu blöken und kuschelten sich vor Kälte und Angst ganz eng aneinander. „Unser Schäfer ist schuld! Der neue Schäfer ist schuld. Ganz allein. Er hat uns im Stich gelassen!“, rief Holle. „Ja genau, so was hätte es früher nicht gegeben!“, pflichtete ihr Wolle bei. Bolle brachte außer einem verängstigten „Määäääääh!“ nichts mehr über die Lippen. Er wusste, dass er als fettestes Schaf das leichteste und willkommenste Opfer der Wölfe sein würde. Seine Mutter hatte ihn schon gewarnt nicht so viel zu fressen als er noch ein kleines Lamm gewesen war, weil er sonst nur allzu schnell als Futter der wilden Tiere enden würde. Er hatte das immer als übertriebenes Gejammer abgetan und sich nicht weiter darum gekümmert. Mit der Bedrohung durch die Wölfe vor Augen, erschienen ihm die Ermahnungen der Mutter, Gott hab’ sie selig, in einem völlig anderen Licht. Sie hatte Recht gehabt. Oh, was war er bloß für ein dummes Lamm gewesen. Es war zu spät. Die Wölfe würden ihn sehen, höhnisch die Zähne fletschen und ihn reißen, das wusste er ganz genau. Es gab kein Entrinnen. „Theodor, du kannst ein wenig lesen. Begib dich ins Dorf und finde heraus, wie viel Zeit uns noch bis zum 24. Dezember bleibt und was es mit dieser Feier zu Ehren des Babys auf sich hat!“, befahl die Obereule ihrem Ansager. Der nickte, stand stramm und salutierte: „Jawohl, Herr Obereule!“ Dann flog er davon, Richtung Dorf. „Und was ist jetzt mit uns? Sollen wir hier untätig stehen bleiben und warten, dass die Wolfe kommen um uns zu reißen?“, fragte Bolle verängstigt.

 

 

Die Obereule sah streng in seine Augen und sagte: „Nur Mut, Kamerad! Sobald unser Kundschafter zurückkehrt, werden wir uns zusammensetzen und einen Plan aushecken wie wir die Wölfe ein für alle Mal loswerden können!“ Den ganzen Tag über waren die Schafe sehr beunruhigt. Immer wieder spähten sie in Richtung Dorf und hofften den Kundschafter bald wiederkehren zu sehen. Den Rest der Zeit bildeten sie die Kleeblattformation, um auf alle etwaigen Angriffe vorbereitet zu sein. Dabei stellten sie sich alle mit dem Rücken zueinander, so dass ihre Hinterbacken sich leicht berührten und ihre Gesichter alle in eine andere Richtung schauten, so wie ein dreiblättriges Kleeblatt und in dieser Formation bewegten sie sich auch über die Weide. Alleine hätten die Schafe das niemals geschafft aber eine Eule, die sonst immer bei offiziellen Anlässen das Eulenballett befehligte, rief ihnen die Befehle zu und koordinierte und synchronisierte ihre Bewegungsabläufe. Die Schafe waren wider Erwarten begabte Tänzer und der Eulenchoreograph überlegte schon heimlich, wie er beim nächsten Obereulengeburtstagsfest die Schafe in sein Ballett einbauen konnte. Den ganzen Tag lang hörte niemand etwas vom Kundschafter. Nachts blieben die Schafe ungewöhnlich lange wach um ja nichts zu verpassen und als sie sich schließlich erschöpft und müde in ihrem Schuppen niederließen beschlossen sie, die Kleeblattformation vorsichtshalber beizubehalten. Man konnte ja nicht wissen wann der 24. Dezember war. Die Obereule ließ Wachposten rund um den Schuppen aufstellen. Noch immer gab es keine Spur vom Kundschafter. Langsam wurden die Eulen immer nervöser, denn Theodor war sonst immer eine sehr zuverlässige und schnelle Eule. Deswegen hatte die Obereule ihn ja auch eingestellt. Als gegen Ende der Nacht immer noch nichts von Theodor zu sehen war, setzte die Lästereule die ersten Gerüchte in die Welt: „ Er ist unterwegs von den Wölfen erwischt worden, das ist ja wohl klar. Tja, der Theodor war aber auch immer schon ein Hallodri. Wahrscheinlich hat er Menschenschnaps getrunken und war dann nicht mehr in der Lage aufrecht zu fliegen. Da war er natürlich leichte Beute.“ Eine putzige junge Eule lispelte laut und aufgeregt: „Das ist eine Falle!“ Die Lästereule antwortete düster: „Ja, eine ganz gemeine Falle der Wölfe. Aber so sind sie, diese unmöglichen, hinterhältigen Flegel!“ So ging es in einem fort. Aga stopfte sich die Flügelenden in die Ohren. Das wollte sie nicht hören! Sie glaubte nicht an das, was die Lästereule erzählte. Schon so oft hatte sie Sachen erzählt, die sich als falsch herausgestellt hatten und Aga hoffte, dass sie auch dieses Mal mit ihren Vermutungen nicht richtig lag. Gerade die jüngeren Eulen hingen am Schnabel der Lästereule und glaubten jedes Wort. Es war eine Schande. Warum konnten sie nicht ein einziges Mal für sich selber denken, statt immer das zu übernehmen, was die Lästereule ihnen vorredete? Aga seufzte und entfernte sich ein wenig von der Eulentraube, die sich rund um die Lästereule gebildet hatte. Aga, die kleine Eule begab sich auf ihren Lieblingsbaum, der ein wenig abseits stand und zog sich in das kleine Baumloch zurück um nachzudenken. Dort war sie ganz allein und keine andere Eule konnte ihr dorthin folgen, weil sie die einzige war, die klein genug war um durch die Öffnung zu kriechen. Wenn die Lästereule nur halbwegs Recht hatte, bedeutete das eine Katastrophe. Es würde das Ende der Schafe bedeuten und wenn die Wölfe sich erst einmal Appetit angefressen hätten, wer weiß, ob sie dann nicht auch ein paar Eulen zum Nachtisch verschlingen würden! Aga verdrückte ein paar Tränen. Sie musste doch etwas tun können. Die Schafe waren ihre Freunde und die anderen Eulen waren ihre Familie. Sie wusste, dass sie sich als kleinste Eule einfach in ein Astlöchchen retten würde können, aber was sollte sie nur ohne ihre Familie und ohne ihre Freunde machen? Plötzlicher Tumult draußen vor dem Astloch, in das sich Aga, die kleine Eule zurückgezogen hatte riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sofort steckte sie den Schnabel aus dem Loch um zu sehen, was da vor sich ging. Erleichtert jubelnd, kroch sie aus dem Loch und flog, so wie die anderen Eulen, Theodor entgegen. Endlich war er zurückgekehrt! Jetzt würde alles gut werden! Theodor sah müde aus. Er blickte einmal über das Eulenvölkchen und flog dann nach oben auf den Obereulenbaum. Gespannt warteten die Eulen darauf, dass Theodor oder die Obereule eine Bekanntmachung geben würden. Aber sie mussten sich noch etwas gedulden. Erst im Morgengrauen, etwa eine Stunde nach der Rückkehr des Kundschafters, ließ sich die Obereule auf dem Ast blicken, von dem aus wichtige Dinge verkündet wurden. „Liebe Miteulen! Ich spreche nun zu euch um euch mitzuteilen was Theodor in Erfahrung bringen konnte. Anschließend werden wir uns beraten, was wir mit diesen Informationen anfangen werden,“, begann er. Die Lästereule rief: „Wo ist Theodor?“ Sie wollte hören, dass wenigstens eine ihrer Vermutungen richtig gewesen war und Theodor nun beschwipst im Bett lag. Die Obereule blickte sie mahnend an: „Liebe Frau Lästereule! Ich kann mir vorstellen warum sie sich nach dem Verbleib des tapferen Boten erkundigen und ich muss sie enttäuschen. Theodor kann nicht bei uns sein, weil er gerade einen gewitzten Plan ausklügelt, den er euch allen in kurzer Zeit vorstellen möchte.“ Die Lästereule empfing von Aga einen schadenfrohen Blick. Die Obereule fuhr fort: „ Theodor hat herausbekommen, dass bereits in einer Woche Weihnachten ist. Weihnachten ist der 24. Dezember, also der Abend, für den der Überfall auf unsere Nachbarn geplant ist. In dieser Nacht huldigen die Dorfmenschen einem Baby, dass in einem Stall mitten in der Kirche liegt. Sie gehen alle dorthin, um ihm Lieder zu singen und ihm zu danken, dass er gekommen ist um sie zu retten und Frieden auf die Erde zu bringen. Denn, haltet euch fest. Die Menschen behaupten, das Baby sei allmächtig und habe die Fähigkeit jegliche Not abzuwenden.“ In den Reihen der Eulen machte es laut „Ahhhhhhh“ und „Ohhhhhh“. Die Tiere waren beeindruckt. Aga rief: „Dann ist doch alles klar! Wir brauchen auch so ein Baby. Dann können die Wölfe uns nichts mehr tun und die Schafe sind gerettet!“ Alle wandten sich mit zustimmendem Gesichtsausdruck zu Aga um. Die Choreographeneule applaudierte: „Bravissimo! Ein guter Plan!“ Die Obereule gab zu Bedenken: „Du meinst also, wir sollten das allmächtige Baby zu uns holen, damit die Schafe geschützt sind... nun ja, da gibt es ein Problem. Da es sich um ein Menschenbaby handelt, können wir nicht wissen, ob es für Schafe und Eulen die gleiche Wirkung erzielt. Vielleicht schützt es ja nur Menschen?!“ Die Eulen flüsterten angeregt miteinander und diskutierten die Idee der kleinen Eule. Die Obereule war unschlüssig. Natürlich klang das erst einmal nach einem wunderbar einfachen Plan, aber was, wenn die Menschen zornig werden würden, weil ihr Weihnachtsbaby verschwunden war? Was, wenn alles klappte und sich dann herausstellte, dass das Baby wirklich nur ein wirksamer Schutz und ein Retter für Menschen war? Oh je, oh je. Er hoffte, dass Theodors Plan noch einleuchtender war und beschloss, ihn aus der Arbeitshöhle zu holen. Theodor hatte sich viele Gedanken gemacht und war bereit, den Eulen seinen Plan vorzustellen. „Geehrte Miteulen! Heute spreche ich zu euch nicht nur als ein Mitglied unseres Schwarmes, sondern auch als Interessenvertreter unserer Nachbarn, der Schafe. Wie wir alle wissen, gibt es Grund zur Beunruhigung, da die Wölfe angekündigt haben in feindlicher Absicht die Schafe zu überfallen und zu reißen und somit Macht über das gesamte Weideland zu erlangen. Um nun diesen hinterhältigen Überfall zu vereiteln, bin ich ins Menschendorf am Fuße des Hügels geflogen, um Informationen zu sammeln, die uns beim Kampf gegen die Feinde behilflich sein könnten. Ich habe in Erfahrung bringen können, dass uns noch genau sieben Tage bleiben um die Aktion ‚Schlagt den Wolf’ vorzubereiten. Ich weiß, dass uns nicht allzu viel Zeit bleibt, aber wenn wir uns zusammenreißen und alle mitmachen, können wir es schaffen. Erstens: Die Menschen schützen die Tiere im Dorf dadurch, dass sie ihnen stabile Ställe geben, die zugeschlossen werden können.

Zweitens: Auf den Höfen am Fuße des Hügels gibt es wolfsähnliche Hunde, die dazu da sind die Schafe zu bewachen und zu beschützen, statt sie zu reißen.

Drittens: In der Nähe der Menschen passieren weniger Übergriffe durch feindliche Wölfe.

Zusammengefasst kann man daraus Folgendes ableiten: Die Schafe brauchen einen sicheren, verschließbaren Stall, sie brauchen einen starken Bewacher und wenn es irgendwie möglich ist, müssen wir die Schafe in die Nähe der Menschen bringen- Oder die Menschen in die Nähe der Schafe. Was haltet ihr davon?“ Die Eulen waren begeistert, wie viele Informationen ihnen Theodor präsentieren konnte und sie beschlossen, ihn fortan nur noch Theodor den Tapferen zu nennen. Er hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Nun mussten sie noch versuchen, die Pläne wirksam und schnell in die Tat umzusetzen. Der Schafstall war schon einmal erfolgreich verriegelt worden. Allerdings war dabei im Sommer ein Bär behilflich gewesen, der nun schon Winterschlaf hielt. Die Eulen waren ratlos. Ohne den Bären waren sie einfach nicht stark genug. „Also gut, dann eben keine Stallpflicht für die Schafe. Gehen wir zu Plan B über!“, ordnete die Obereule an. „Was war noch mal Plan B?“, fragte eine der Eulen. „Die wolfsähnlichen gefährlichen Hunde dazu zu bringen, dass sie unsere Schafe nicht fressen sondern sie beschützen,“ erklärte Theodor im Brustton der Überzeugung. Die Obereule fragte: „Also gut. Wer ist bereit ins Dorf zu gehen, sich bissigen und gefährlichen Hunden zu nähern, ein Pläuschchen mit ihnen zu halten und sie nebenbei zu fragen, ob sie eventuell bereit dazu wären, auf unsere Schafe aufzupassen?“ Die Eulen schwiegen und wichen alle einen Schritt zurück um nicht als Freiwillige ins Hundegehege geschickt zu werden. Die Obereule überblickte die Eulenfamilie: „Niemand, so so. Ich habe mir gedacht, dass niemand mutig genug sein würde!“ „Das hat nichts mit Mut zu tun sondern mit Wahnsinn! Wer riskiert schon auf diese Weise gern sein Leben. Außerdem sind die Hunde meistens mit Ketten festgemacht, so dass sie ihre Höfe nicht verlassen können,“ sagte eine alte Eule, die in ihrem Leben schon so einige Erfahrung mit Hofhunden gesammelt hatte. „Ihr wisst, was das bedeutet, liebe Eulenfreunde!“, proklamierte die Obereule. „Wir gehen nicht ins Dorf und sprechen mit dem Hund?“, fragte Frau Lästereule. Die anderen Eulen nickten. „Plan C,“ sagte die Obereule, „Die Schafe müssen näher zu den Menschen oder die Menschen müssen näher zu den Schafen.“ Die Eulen überlegten, wie man das am besten regeln könnte. „Ihre Hütte ist hier auf der Weide. Wenn sie in der Nähe des Dorfes leben, haben sie keinen Schutz vor Wind und Wetter. Sie werden jämmerlich erfrieren. Wenn wir sie auf einen Hof schmuggeln wollen um sie dort unterzustellen, müssen wir erst mit den Wachhunden reden, damit sie uns durchlassen. Und damit wären wir wieder beim selben Problem wie gerade eben. Wer geht nach unten und verhandelt mit den Wachhunden?“, gab jemand aus dem Publikum zu bedenken. „Gute Frage...sehr berechtigter Einwand,“ grübelte die Obereule. „Soll das etwa heißen, dass mein Plan abgelehnt ist?“, fragte Theodor leicht empört. Die Obereule nickte langsam, sie waren alle verloren. Da erklang ein schüchternes Stimmchen aus den Reihen der Eulen: „Entschuldigung, was ist denn jetzt mit dem Wunderbaby in der Kirche? Wir könnten es hierher bringen und probieren ob es funktioniert. Wir haben nichts mehr zu verlieren, also wieso sollten wir es nicht wenigstens versuchen?“ Die Eulen grübelten und überlegten hin und her. Inzwischen war es wieder hell geworden im Weideland und es war fast an der Zeit für die Schafe, aufzustehen. Die Obereule beschloss schließlich: „Wir haben ja jetzt einige Vorschläge gehört. Am Besten lassen wir die Betroffenen, also die Schafe, selber entscheiden welcher Plan ihnen am meisten zusagt.“ Wieder machte sich die Obereule mit einem Teil des Hofstaates auf den Weg zum Schafschuppen. Die Schafe waren diesmal schon wach, denn sie hatten vor Aufregung nicht so tief und fest schlafen können wie sonst. Holle trug die Mütze auf dem Kopf, sie hatte bei den anderen Schafen durchgesetzt, dass diese Mütze nur etwas für feine Damen und nicht etwa für wilde unkultivierte Schafböcke sei. Holle machte, noch in der Türöffnung des Schuppens stehend einen eleganten Knicks und senkte das behütete Haupt, um die Gäste möglichst würdevoll zu begrüßen. Wolle hüpfte hinter ihr immer wieder ungeduldig auf und ab um einen Blick auf die Eulen zu erhaschen. Er wollte nichts verpassen und Holle stand genau im Weg. „Liebe Schafe, liebe Mitbewohner und Nachbarn. Ich bin hier um euch mitzuteilen, dass unser Bote hier, Theodor,“ er zeigte mit dem Schnabel auf den links von ihm stehenden Theodor, „wieder zurückgekehrt ist. Er hat interessante Informationen für euch.“ Holle trat einen Schritt nach vorne und Wolle und Bolle drängelten sich an ihr vorbei ins Freie. „Wann kommen die schrecklichen, gemeinen Wölfe?“, fragte Bolle ängstlich. „Wir haben nicht mehr viel Zeit, denn der 24. Dezember ist bereits in sieben Tagen, heute eingerechnet,“ antwortete Theodor. Bei Bolle brach der kalte Angstschweiß aus: „In sieben Tagen?! Sie werden mich fressen! Hilfe, zu Hilfe! Ahhhh, Formation, Kleeblatt. Wir sind nicht mehr in unserer Formation. Es ist aus!“ Mit diesen Worten auf den Lippen sank Bolle bewusstlos zu Boden. Alle Viere von sich gestreckt und mit heraushängender Zunge lag er da. Besorgt stupste ihn Wolle mit der Schnauze an. Holle pustete ihm in die Augen, weil sie dachte, dass ihn das vielleicht wecken würde. Aber Bolle zeigte keine Regung. „Nein, Bolle! Tu uns das nicht an! Wir brauchen dich doch. Lass uns nicht im Stich! Du kannst sogar meine Mütze haben. Für immer. Nur verlass uns nicht!!!“, schluchzte Holle aufgelöst. Langsam öffnete Bolle die zitternden Augenlider und zog die Zunge wieder zurück in den Mund. Dann hob er vorsichtig und schwach den Kopf und jammerte: „Ich werde der erste sein. Sie wollen mich, weil ich so fett bin!“ Holle, Wolle und die Eulen versuchten ihn zu trösten und als er sich endlich etwas beruhigt hatte, trug die Obereule Theodors und Agas Pläne vor. Bolle schien neuen Mut gefasst zu haben: „Die Lage sieht ja gar nicht so schlecht aus. Ich schlage vor, wir holen uns heimlich das Jesusbaby und nehmen es mit auf die Weide. Und wenn es der 24. Dezember ist, gehen wir zusammen mit dem Baby zurück ins Dorf. Das Baby wird uns beschützen. Wenn es den Menschen wirklich so wichtig ist, werden sie dankbar sein, dass wir es zurückbringen und vielleicht dürfen wir dann in der Nacht bei dem Baby im Stall in der Kirche bleiben.“ „Ja, aber was, wenn die Wölfe wiederkommen? Wir brauchen Schutz und wenn sie uns am 24. nicht auf der Weide sehen, dann werden sie es ein anderes Mal wieder versuchen,“, warf Holle ein. „Pah, du bist jetzt still und gibst mir erst mal das, was mir zusteht!“, befahl Bolle. Holle sah ihn verwirrt an: „Ich versteh’ nicht ganz...“ „Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen!“, quiekte Bolle und schnappte Holle die Mütze vom Kopf, „Die hast du mir für den Fall versprochen, dass ich nicht sterbe.“ Seine Angst war vorerst verflogen und er hüpfte mit der Mütze auf dem Kopf rasch über die Weide. „Ich verstehe dieses Schaf nicht,“ bemerkte Theodor kopfschüttelnd. „Wir auch nicht, wir haben es aufgegeben, ihn verstehen zu wollen. Aber so ist er nun einmal,“ pflichtete Holle ihm bei. Immerhin hatten sie nun einhellig beschlossen, dass sie das Baby brauchten. Alles weitere würde sich ergeben müssen. „Gut, wie kommen wir am besten an das Wunderding? Wer geht ins Dorf und holt es und wann wird wollen wir die Sache in Angriff nehmen?“, fragte Wolle. „Wie groß ist das Baby? Wer wäre geeignet es unbemerkt aus dem Dorf zu holen?“, fragte Holle. Bolle schrie begeistert: „Ich mach’s, ich mach’s. Ich schleiche mich noch heute nach unten. Ich werde uns retten!“ Die umstehenden Tiere tauschten skeptische Blicke aus. „Es sollte besser jemand gehen, der nicht so leicht aufzuregen ist,“ flüsterte Theodor der Obereule zu, die zustimmend nickte. „Wie wär’s mit mir?“, fügte Theodor immer noch flüsternd hinzu. Die Obereule hatte keine Lust großartig zu diskutieren und wichtige Zeit damit zu verlieren die Babydiebe zu bestimmen. Sie nickte abermals und verkündete dann: „Theodor hat uns schon im Vorfeld gute Dienste geleistet. Er kennt sich gut im Dorf und mit den Menschen aus. Er sollte auf jeden Fall dabei sein.“ Theodor hob seinen Schnabel ganz hoch und streckte sich stolz, sodass ihn jeder sehen konnte. „Aber er sollte nicht alleine gehen! Wer weiß, wie schwer das Baby ist. Zu zweit ist es bestimmt einfacher,“ entgegnete Holle. Das leuchtete allen ein. Lediglich Theodor warf ihr einen vernichtenden Blick zu und sagte: „Ich arbeite alleine. Vergiss nicht wer ich bin! Traust du mir etwa nicht zu, dass ich die Mission alleine erfüllen kann? Undankbares Schaf. Man hat mich nicht umsonst alleine zum Ausspionieren in das Dorf geschickt. So wahr ich der Tapfere bin. Theodor der Tapfere.“ In dieser Art gab sich ein Wort das nächste. Es ging weder vor noch zurück. Die Eulen teilten sich in zwei Lager auf. Die einen waren auf Theodors Seite und die anderen unterstützten Holles Meinung, dass zwei Eulen besser waren als eine. Dieser Streit zog sich eine ganze Weile lang hin. Um genau zu sein, dauerte er sechs Tage an, ohne dass etwas geschah. Aga verdrehte die Augen und zog sich wieder in ihr Astloch zurück. Warum waren die anderen nur so unvernünftig? Die Sache war doch einfach; Egal wer nun das Baby holte, es musste schnell geschehen. Aber so wie es aussah, würden die Eulen und die Schafe sich noch am 24. Dezember streiten. So konnte das nichts werden. Aga beschloss, die Sache selber in die Hand beziehungsweise in den Flügel zu nehmen. Und sie hatte auch schon eine Idee. Die anderen würden ihr nicht zuhören, also musste sie mal wieder alles im Alleingang regeln. So wie damals, als sie die Schafe in den Schuppen gesperrt hatte. Zugegebenermaßen war das nicht das richtige Mittel gewesen, aber trotzdem hatte es ein gutes Ende genommen. Ohne die Streiche, die Aga den Schafen in der Vergangenheit gespielt hatte, wären die Eulen und die Schafe wohl niemals Freunde geworden. So lag selbst in Agas Fehler noch etwas Schönes und sie hatte die Tat ja auch bitter bereut, sich entschuldigt und alles wieder gut gemacht. Sie überlegte, ob es dieses Mal wohl auch so glimpflich ausgehen würde. Sie wollte doch nur das Beste. Sie wollte, dass die Schafe überlebten. Aber wen sollte sie fragen? An wen konnte sie sich wenden? Die Obereule war noch immer damit beschäftigt, sich bei den zwei streitenden Parteien Gehör zu verschaffen. Aga ließ den Blick über die Weide streifen, die bereits im strahlend hellen Mittagslicht dalag, als sie plötzlich am Rande der Weide Bolle erblickte, der einen sehr traurigen und beleidigten Eindruck machte. Richtig, die Obereule hatte ja einfach seine Freiwilligenmeldung ignoriert. Aga kroch aus dem Astloch und flog zu Bolle hinüber, der ganz allein in der Ecke saß. „Hallo Bolle!“, piepste sie freundlich und stupste ihn zur Begrüßung aufmunternd mit dem Schnabel an. Bolle versuchte zu lächeln und zeigte mit der Schnauze auf den Pulk vor der Hütte: „Hallo Aga, schau dir das nur an! Anstatt wirklich zu helfen, streiten sie sich tagelang darüber, wer der bessere ist! Ich kann diesen blöden Vogel nicht ausstehen,“ er äffte Theodor nach, „Ich bin der Tapfere, Theodor der Tapfere! Ich mein’ wofür hält der sich?“ Aga nickte eifrig: „Ja, ich finde es auch nicht gut, dass die sich jetzt nur streiten. So werden wir die Wölfe niemals besiegen können. Wir müssen zusammenhalten, sonst funktioniert es nicht. Du Bolle, ich habe eine Idee, aber ich schaff’s alleine nicht. Willst du mir vielleicht helfen?“ „Bist du deswegen gekommen?“, fragte Bolle, „Das ist sehr lieb von dir aber du hast ja gehört, was die anderen über mich gesagt haben. Sie haben gesagt, dass das lieber jemand machen soll, der sich nicht so schnell aufregt. Sie haben mich gemeint und sie haben ja auch recht.“ Aga legte das Köpfchen schief: „Was meinst du damit? Sie haben natürlich nicht recht. Schau doch mich an. Ich bin nur eine winzig kleine Eule und trotzdem habe ich es geschafft, euch in euren Stall zu sperren und euch jede Menge Streiche zu spielen. Wenn ich so etwas kann, dann kannst du das schon lange! Ich meine, du bist ein großes, starkes Schaf. Das größte und das breiteste von allen. Bestimmt auch das stärkste. Wir sind bestimmt ein gutes Team.“ Verwundert blickte Bolle auf: „Du willst den anderen jetzt Streiche spielen? Ich verstehe nicht, wie uns das weiterbringen soll!“ Aga rollte mit den Augen, Bolle war schwerer von Begriff als sie vermutet hatte. In Ermangelung eines besseren Komplizen beschloss sie, gute Miene zum Spiel zu machen und es mit Bolle zu versuchen. „Quatsch, ich will keine Streiche spielen. Ich habe da an was anderes gedacht. Wir zwei werden uns heute nacht ins Dorf schleichen. Wir zwei holen das Baby und verstecken es. Die anderen müssen noch nichts davon wissen, das wird eine Überraschung,“ erklärte Aga und fügte besonders laut und deutlich sprechend hinzu, „Hast – du – das – ka – piert??“ Bolle nickte zustimmend. Aga atmete erleichtert auf: „Gut, dann lass uns eine Zeit und einen Treffpunkt bestimmen. Ich möchte nicht, dass die anderen etwas merken.“ „Wir gehen für gewöhnlich um sieben Uhr schlafen, manchmal auch um acht. Also danach kriegen Wolle und Holle nichts mehr mit,“ dachte Bolle laut. Aga schüttelte den Kopf: „Das ist zu früh. Da sind noch zu viele Menschen auf den Beinen. Wenn die uns sehen, wenn wir Baby Jesus mitnehmen, lassen sie uns bestimmt nicht nach Hause gehen. Schließlich geht es ja um den Retter der Welt!“ Sie verabredeten sich für 23 Uhr, weil dann die Geschäfte im Dorf schon seit anderthalb Stunden geschlossen hatten und es unwahrscheinlich war, viele Menschen anzutreffen. Um 23 Uhr standen aber Holle und Wolle noch immer auf der Weide und diskutierten, wer das Baby aus dem Dorf holen sollte. Sie waren so vertieft, dass sie nicht merkten, dass Aga und Bolle sich neben dem Schafstall trafen. Pünktlich machten sich die Beiden auf dem Weg und stiegen heimlich von allen unbemerkt hinab ins Tal. Es war das erste Mal, dass Bolle alleine das Weideland verließ. Das Dorf  kannte er bis zu diesem Zeitpunkt nur aus Agas Erzählungen. Alles war so wie er es sich vorgestellt hatte. Bunte Lichter leuchteten in allen Fenstern, die Straßen waren geschmückt und es sah so festlich und friedlich aus. „Glaubst du, dass dieses Babyding uns wirklich retten kann?“, fragte Bolle die, auf seiner Mütze sitzende Aga neugierig. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Es wurde ja noch niemals ausprobiert. Aber ich habe ein gutes Gefühl dabei, schließlich haben die Wölfe selber uns auf die Idee gebracht. Sie glauben an die Macht des Kindes und das ist das wichtigste. Wenn sie sehen, dass wir das Baby haben, werden sie es hoffentlich mit der Angst zu tun bekommen,“ antwortete Aga. Unbeirrt stapfte Bolle durch den hohen Schnee, der an diesem Tag gefallen war. Sie beide wussten, dass heute, am 23. Dezember, die letzte wirkliche Chance bestand, das Schicksal zu ihren Gunsten zu drehen und diese einzige, einmalige Chance wollten sie sich um nichts in der Welt entgehen lassen. Bolle sagte zu Aga: „Du hast wirklich sehr viel Mut, kleine Eule und du bist mir sehr viel lieber als der angeberische Theodor! Das einzige, was der kann, ist sich mit seiner Klugheit und seiner Geschicklichkeit zu brüsten. Aber du, du machst wirklich etwas um uns zu helfen- selbst wenn niemand auf dich hören will!“ Aga war sehr geschmeichelt. So viel Lob war sie nicht gewohnt- normalerweise wurde sie eher angeraunt oder ausgeschimpft, weil sie sich nicht an die Regeln des Eulenclans gehalten hatte. „Doch, du vertraust mir und du hörst auf mich. Und deswegen glaube ich auch, dass wir es schaffen werden. Die Wölfe sind auch nur Tiere, so wie wir und egal wie stark sie wirken, sie können genauso Angst und Furcht empfinden wie Schafe und Eulen. Ich wette, sie drehen durch vor Angst wenn sie das Baby bei uns sehen!“ „Hoffen wir, dass die Menschen uns das Baby mitnehmen lassen! Sonst sind wir verloren!“, jammerte Bolle. „Sei nicht immer so pessimistisch! Sieh, da ist schon die Kirche. Es gibt einen Hintereingang, den ein Schaf ganz leicht mit der Schnauze öffnen kann. Durch den gehen wir hinein!“, erklärte Aga. Da lag sie vor ihnen, herrlich geschmückt. Die Kirche aus roten Steinen, davor ein riesiger hell erleuchteter Baum mit einem Stern auf dem Wipfel. „Das ist der brennende Baum von dem ich euch erzählt habe!“, flüsterte Aga Bolle ins Ohr. Aga hatte nicht übertrieben. Das weihnachtliche Dorf war in der Tat wunderwunderschön. Bolle konnte sich vorstellen, dass die Menschen hier gerne lebten. Ewig brennende Bäume hätte er auch gerne auf der Weide, oder zumindest ein paar Lichter für den Schafsschuppen. Seufzend drückte Bolle mit der Schnauze gegen die Kirchentür, während Aga sich auf den Türgriff setzte und ihn nach unten drückte. Die Tür öffnete sich knarrend und die beiden Tiere betraten zum ersten Mal in ihrem Leben eine Menschenkirche. Die Wölfe bereiteten sich indes in ihrer Höhle im Wolfstal auf ihren bevorstehenden Angriff vor. Sie machten einen genauen Plan, wer wen zuerst angreifen sollte, wann sie losziehen wollten und was sie im Falle eines eigentlich nicht zu erwartenden Widerstandes zu tun hatten. Es gab einige Dinge zu bedenken und zu beachten und der Leitwolf malte unterstützend mit seiner rechten Vorderpfote Pfeile und Punkte in den Schnee, damit die anderen Wölfe besser verstanden, was er ihnen erzählte. Bevor die Aktion gestartet werden konnte, mussten noch einmal Kundschafter ins Weideland geschickt werden. Sie sollten einen Lagebericht abgeben, wie die Wetterverhältnisse seien und ob sich am Sicherheitszustand im Weideland nicht etwas gebessert habe. Der Leitwolf wollte kein Risiko eingehen. Das hatte er schon einmal gemacht und bitter bereut. Damals war sein Vater noch Leitwolf gewesen und er noch ein junger unerfahrener Wolfswelpe voller Tatendrang. Es hatte in der Nähe des Wolfstals einen Bauernhof gegeben, auf dem Hühner und Gänse gehalten wurden. Viele Hühner und Gänse. Beim Spielen mit den anderen jungen Wölfen waren sie nah an die Gehege gekommen und hatten mit wässrigen Mäulern da gestanden und sich die Lippen geleckt. Die Jungwölfe hatten nicht den Leitwolf um Erlaubnis gebeten, wie es üblich war, bevor eine Beutejagdaktion durchgeführt wurde. Sie hatten einfach beschlossen, sich eine große Menge Gänse und Hühner zu schnappen und sie als Beute mit nach Hause zu nehmen. Dabei hatten sie außer Acht gelassen, dass die Bauern sich sehr wohl der Gefahr durch die Wölfe bewusst waren. Schließlich lebten sie schon seit einigen Jahren neben dem Wolfstal. Der Bauer hatte seinen Hof mit allen möglichen Geräten und Vorrichtungen abgesichert. Das Gehege der Gänse und Enten war mit einem Elektrozaun gesichert, es gab fünf gefährliche Hofhunde und eine Anlage mit Überwachungskameras, die mit einem Eindringlingsalarm verbunden war, der eine Sirene auslöste, wann immer jemand von außen den Hof betrat. Davon ahnten die jungen Wölfe nichts, aber hätten sie ein wenig mehr Geduld gehabt und wären etwas besser organisiert gewesen, dann hätten sie den Leitwolf vorher um Rat gefragt. Der wusste von den Fallen und von der Gefahr, hatte aber die Jungwölfe nicht eingeweiht, weil diesen nicht erlaubt war alleine auf die Jagd zu gehen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz im Wolfsrudel, dass nur die erwachsenen Wölfe auf die Jagd gingen, und zwar alle zusammen. Die Jungwölfe begaben sich also in große Gefahr, als sie beschlossen, an dem besagten Tage den Geflügelhof zu überfallen. Zwei Jungwölfe kehrten von der Expedition nicht zurück und für die anderen beiden war die Angelegenheit eine lehrreiche Lektion gewesen. Deswegen war sich der Leitwolf sicher, dass man bei der Jagdplanung gar nicht umsichtig genug sein konnte. Zwei Kundschafter waren schnell ausgewählt und die übrigen Wölfe blieben in der Höhle zurück um auf ihre Rückkehr und ihre Informationen zu warten. Aga und Bolle standen staunend vor der Krippe, in der das Christkind friedlich zu schlafen schien. Es war in ein weißes Laken eingewickelt und umgeben von einigen bewegungslosen Figuren, darunter ein Ochse, zwei Schafe und ein paar Menschen.  Diese Zierde war uninteressant für die selbsternannten Geheimagenten. Sie wollten nur das Baby. Vorsichtig blickten sie sich um, ob auch niemand zusah und dann trippelte Bolle, Aga noch immer auf seinem Kopf tragend, die drei Stufen hinauf auf den Podest, auf dem der Stall und die Krippe aufgebaut waren. Liebevoll betrachtete Bolle das kleine, bewegungslose Wesen und säuselte in der höchsten Tonlage, die ein Schafbock so hinbekommt: „Uiuiui, guziguzi, ach herrje, ist...das...putzig! Guck mal, es hat blaue Aufklappaugen!“ Aga warf ihm einen skeptischen Blick zu. Vielleicht hätte sie doch versuchen sollen, jemanden anderen für die Aktion zu gewinnen. Sie hüpfte von der Zipfelmütze auf die Krippe und zog am Laken, in das das Kind gewickelt war. Erstaunt sahen sie sich an, was unter dem Laken zum Vorschein kam: es sah zwar aus wie ein in dunkelblaue Kleidung gehülltes Menschenbaby, aber es bewegte sich nicht und die Haut fühlte sich ganz hart und kalt an. Bolle schnüffelte an der Krippe: „Mhhh, es riecht...wie ein Gegenstand. Das ist kein echtes Kind!“ Aga hatte eine Idee: „Ahhh, es ist ein verzaubertes Gegenstandsdings. Sonst hätten die Menschen es nicht hierher gebracht und würden so liebevoll und begeistert von ihm sprechen. Bestimmt ist es das allerbesonderste Baby auf der ganzen Welt und es wird nur lebendig, wenn jemand in Not ist. Und dann hilft es!“ Das klang in Bolles Ohren sehr logisch und er schaute das Kind mit neu erwachtem Interesse genau an. „Hoffen wir, dass es hilft!“, sagte er zu Aga. Diese nickte und forderte ihn auf: „So, und nun nimmst du deine Zipfelmütze ab!“ Bolle wich erschrocken zurück: „Meine Zipfelmütze? Meins, ganz allein meins!“ Aga verdrehte entnervt die Augen: „Aber ja doch, Bolle. Deins. Aber wir müssen das Kind transportieren, sodass es nicht kaputt geht und nicht erfriert. Die Mütze ist groß genug.“ Bolle nickte, dann nahm er das Kind vorsichtig, um es nicht zu beißen, in sein Maul und legte es behutsam in die Zipfelmütze, die Aga für ihn aufhielt. „Aber ich darf es tragen, ja?!“, fragte Bolle aufgeregt. Aga konnte es nicht fassen: „Bolle! Als ob ich so ein Riesenbaby tragen könnte. Es ist doch drei- bis viermal so groß wie ich! Natürlich MUSST DU das Baby tragen!“ Bolle nahm die, zum Beutel umfunktionierte Zipfelmütze am Bund zwischen die Zähne und Aga flog auf seinen, nun nur noch von weicher Wolle bedeckten Kopf. Sie machten sich durch das weihnachtliche Menschendorf auf den Weg nach Hause. Was sie nicht merkten war, dass sie dabei gesehen wurden als sie den Garten hinterm Haus eines alten Mannes durchquerten, der gerade auf seine zwei kleinen Enkel aufpasste. Die spielten gerade im Wohnzimmer in der Nähe des Gartenfensters. Als die kleine Lisa, die gerade zwei Jahre alt geworden war, nach draußen schaute, rief sie laut: „Oppa, Oooopa, guck ma! Da iss’n Schaf im Garten. ’n Schaf!“ Als der Großvater ins Wohnzimmer ging um nachzuschauen was seine Enkelin meinte, waren Aga und Bolle schon wieder verschwunden. Zu ihrem Glück, war Bolle unter den Büschen entlang gelaufen und hatte so keine Spuren im Schnee hinterlassen. Die kleine Lisa ging aber nicht von ihrer Meinung ab. Sie hatte ein Schaf mit einer roten Mütze im Maul und mit einer winzigen Eule auf dem Kopf gesehen und das erzählte sie zur Belustigung ihres Großvaters immer und immer wieder. Inzwischen waren die beiden Wölfe, die das Weideland ausspionieren sollten, am Eulenwaldrand angelangt und wagten es kaum ihren Augen zu trauen. Da standen eine Gruppe Eulen und zwei Schafe auf der Weide und stritten und diskutierten lauthals. „Nur noch zwei Schafe! Da ist uns wohl jemand zuvor gekommen!“, grummelte der eine Wolf. Der andere antwortete: „Ausgerechnet das fetteste ist weg! Bestimmt hatte der Schäfer Appetit, schließlich werden die Schäflein nicht jünger. Nächstes Jahr im Sommer will sie niemand mehr fressen. Zu zäh!“ Sein Begleiter nickte: „Lass uns näher heranschleichen und hören, warum sich die Tiere streiten! Vielleicht ist das wichtig für unseren Plan.“ Als sie näher kamen, trauten sie ihren Ohren kaum. Das kleine Schaf rief gerade in diesem Augenblick: „Und wenn die Wölfe kommen, und wir noch nichts vorbereitet haben? Wir müssen uns beeilen! Immer nur Streit. So geht das einfach nicht weiter!“ Eine große, schlanke Eule, die ihre Nase sehr hoch trug, erwiderte lauthals: „Ach ja?! Dann hättet ihr ja mich schicken können! Aber nein, ich bin den undankbaren Schafen wohl nicht gut genug! Das ist doch euer Problem. Ihr wollt’ mir eins auswischen und könnt nicht ertragen wie erfolgreich ich bin.“ Die beiden Schafe lachten hämisch: „Erfolgreich?! Wärest du erfolgreich, dann hätten wir das Baby längst. Die Zeit läuft uns davon! Wir müssen morgen Abend vor Einbruch der Dunkelheit das Wunderbaby hier oben auf der Weide haben! Dann kommen, wie ihr vielleicht vergessen habt, die Wölfe!“ Eine große, breite und weise aussehende Eule stand in der Mitte, direkt zwischen den streitenden Parteien und versuchte immer wieder verzweifelt und vergeblich, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: „So seid doch still! Ruhig! Wir müssen in Ruhe überlegen!“ Die Wölfe warfen sich vielsagende Blicke zu und einer raunte: „Sie kennen unseren Plan. Wir müssen dem Leitwolf Bescheid geben!“ Sie machten kehrt und sprangen los, so schnell es ihnen ihre Pfoten erlaubten. Die Schafe waren müde vom Streiten und wünschten den Eulen eine gute Nacht. Die Obereule beschloss, dass am nächsten Morgen Theodor mit einer Eule seiner Wahl ins Dorf fliegen und das Baby holen sollte. Den Schafen war alles recht, Hauptsache sie wurden gerettet. Theodor grummelte ein wenig, hatte aber keine Lust mehr zu streiten und stimmte zu. „Na also, dann wird doch noch alles rechtzeitig vorbereitet sein!“, freute sich die Obereule. Als die Schafe in ihren Stall zurückkehrten, waren sie irritiert. Wo war Bolle? Hatte er nicht gerade noch auf der Weide gesessen? Verdutzt drehten sie jeden Strohhalm in der Hütte um, bis Holle meckerte: „So ein Quatsch! Der braucht schon einen ganzen Heuhaufen, um sich zu verkriechen! Er muss noch draußen auf der Weide sein.“ Sie verließen gemeinsam den Stall und machten eine große Runde, rund um die Weide herum. Nirgends war auch nur ein einziges Bolle-Wollbüschel zu entdecken! „Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, fragte Holle Wolle. Wolle überlegte und überlegte, aber so viel er auch nachdachte, er konnte nicht genau sagen, ob er ihn nach dem Aufstehen an diesem Morgen oder mittags auf der Weide das letzte Mal gesehen hatte. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass er heute morgen, als wir aufgestanden sind, noch da war. Vielleicht weiß ja eine der Eulen wo Bolle abgeblieben sein könnte? Es wird ihm doch hoffentlich nichts passiert sein?“ Die beiden Schafe trotteten besorgt in den Eulenwald. Holle rief: „He, hallo! Wir sind’s, Holle und Wolle!” Ein paar Eulen versammelten sich schnell um die Schafe herum. Die Obereule rief: „Wir haben doch alles geklärt für morgen! Legt euch lieber noch ein wenig hin und ruht euch aus, damit ihr morgen Abend fit seid!“ Holle antwortete: „Würden wir ja gerne, aber genau da liegt das Problem begraben! Bolle ist weg, einfach verschwunden. Wir haben schon die ganze Weide abgesucht, aber wir konnten ihn nirgends entdecken!“ Wolle fügte hinzu: „Hat eine von euch Eulen ihn vielleicht gesehen oder weiß wo er steckt?“ Die Eulen waren ratlos. Sie waren so sehr mit ihrer Diskussion beschäftigt gewesen, dass niemand auf das geachtet hatte, was um sie herum vorging. Nun begannen sie sich alle Sorgen zu machen. Nicht, dass die Wölfe den Moment des Streites genutzt hatten, um unbemerkt schon einmal ein Schaf zu rauben! Das wäre grausam, der Horror schlechthin. Gemeinsam durchforsteten sie noch einmal den Eulenwald und die Weide, als sie plötzlich Geräusche aus dem Schafstall hörten. Jemand schnarchte laut und deutlich. „Bolle!“, schrie Holle erleichtert, „Bist du das?“ Von drinnen dröhnte eine vertraute Stimme: „Ja wer denn sonst? Der große böse Wolf bin ich jedenfalls nicht! Wo wart ihr denn so lange? Meint ihr nicht, dass es mal langsam an der Zeit ist zu schlafen?“ Erleichtert stürzten sich Holle und Wolle auf ihren Weidegenossen: „Wo hast du nur gesteckt? Als wir zum Stall zurückgekehrt sind, warst du weg. Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“ Bolle erwiderte müde: „Ich für meinen Fall war nur kurz mit Aga spazieren. Ich konnte euch ja nicht Bescheid sagen, schließlich hattet ihr bessere Dinge zu tun. Als ich wiederkam, seid ihr nur immerzu im Kreis über die Weide gelaufen. Was sollte das eigentlich sein? Eine neue Taktik etwa? Ich sage euch was: Wenn wir morgen nicht ausgeschlafen sind, werden die Wölfe uns alle fressen.“ Wolle und Holle waren zwar ein bisschen wütend, dass Bolle einfach so die Weide verlassen hatte, ohne ihnen vorher Bescheid zu sagen, aber die Freude darüber, dass er wohlbehalten wieder in ihrer Mitte war, überwog. Und schließlich war ja nun geklärt, wer Morgen ins Dorf gehen und das Kind holen würde. Nun mussten sie nur noch schlafen, warten und sich mental auf den kommenden Abend vorbereiten. In der Kleeblattformation kuschelten sie sich aneinander und wärmten sich gegenseitig. Bald waren sie eingeschlafen, wenn sie auch trotzdem sehr unruhig waren und von dem ein oder anderen Albtraum heimgesucht wurden. Die zwei Kundschafter der Wölfe waren inzwischen wieder in ihrer heimischen Höhle angekommen, wo sie schon sehnsüchtig vom Leitwolf erwartet worden waren. Bei ihrer Ankunft hatte er direkt alles hören wollen. Er konnte auf den Gesichtern seiner Kundschafter Entsetzen, Aufregung und Erschöpfung lesen. Doch die beiden Boten waren zunächst nicht in der Lage zu sprechen. Sie hatten sich so beeilt, dass sie sich nun keuchend in der Höhle niederließen. Der Leitwolf sah, dass sie ein paar Minuten brauchten, um sich wieder zu erholen und sagte ihnen, sie sollten sich sofort bei ihm melden, sobald es ihnen besser ging. Nur ein paar Momente später begann der erste Wolf zu berichten. Er richtete sich auf und schlich langsam zum Leitwolf: „Die Schafe kennen unseren Plan. Sie wissen, dass wir sie morgen Abend überfallen werden.“ Sein Gefährte ergänzte, noch auf seinem angestammten Platz liegend: „Sie haben sich mit den Eulen verbündet. Zusammen wollen sie das Wunderbaby der Menschen auf ihre Seite bringen. Morgen Nachmittag gehen ein paar von ihnen ins Dorf und holen das Jesusbaby.“ Der Leitwolf war entsetzt. Die Lage war schlimmer, als er sie sich in seinen kühnsten Albträumen ausgemalt hatte. „Soso, sie wollen das Baby als Schutz bei sich aufnehmen. Morgen Nachmittag,“ wiederholte der Leitwolf leise für sich. Woher kannten die Schafe den Plan? Wie konnten sie wissen, dass die Wölfe sie überfallen wollten? Gab es vielleicht einen Verräter? Etwa in den eigenen Reihen? Bei dem Gedanken wurde ihm fast schlecht. Er überlegte, wer seines Rudel zu solch einer verwerflichen Tat in der Lage sein könnte, aber es fiel ihm beim allerbesten Willen keiner ein. Normalerweise standen sie alle auf seiner Seite und unterstützten seine Entscheidungen. Wieso sollte auch ein Wolf zu den Schafen überlaufen? Nein, das ergab keinen Sinn! Sie waren hungrig und sie freuten sich alle auf saftiges Schafsfleisch. Er schüttelte alle Gedanken an einen Verräter unter den Wölfe ab. Einer der Kundschafterwölfe hatte noch eine wichtige Information für ihn und trat vor: „Noch etwas. Das hatte ich vergessen zu berichten. Es gibt nur noch zwei Schafe im Weideland. Unglücklicherweise die beiden schlanken.“ Der Leitwolf hatte gehofft, es könne nicht mehr schlimmer werden. Er hatte sich getäuscht. Alle Wölfe des Rudels hatten an dieser Stelle aufgehorcht und tauschten ungläubige Blicke aus. Ein paar Jungwölfe begannen klagend zu heulen. Nun war es an dem Leitwolf, eine neue Taktik auszuarbeiten und einen Notplan aufzustellen. Er sagte: „Ich habe mir meine Gedanken gemacht, wie die Schafe herausfinden konnten, dass sie auf unserer Speisekarte stehen. Und einer der Gedanken, die ich hatte, hat mir überhaupt nicht zugesagt. Es ist möglich, unwahrscheinlich, aber möglich, dass die Eulen und Schafe auch uns haben auskundschaften und beobachten lassen, ohne dass wir es gemerkt haben. Ein anderer Gedanke, ein noch viel schlimmerer, ist, dass wir einen Verräter unter uns haben. Jemanden, der Mitleid mit den Schafen bekommen und sie gewarnt hat. Oder,“ er machte eine bedeutungsschwere Sprechpause,“ Oder jemand, der den Leitwolf stürzen möchte um sich selber auf den Thron zu setzen. Ich kann euch nur sagen, was auch immer davon stimmt, ich habe meine Lektion gelernt. Heute nacht bleiben alle Wölfe hier und ich werde euch meinen neuen Plan erst mitteilen, kurz bevor wir aufbrechen werden.“ Auf diese Art und Weise wollte er verhindern, dass ein Spion von außerhalb oder von innerhalb des Rudels in der Lage wäre, die Schafe ein erneutes Mal zu warnen. Die Wölfe waren entsetzt. Konnte es wahr sein, dass ein Verräter unter ihnen weilte? Misstrauisch beschnüffelten sie sich gegenseitig und witterten, ob sie einen fremden und verdächtigen Geruch entdecken könnten. Aber da war nichts ungewöhnliches. Nichts als stinknormaler Wolfsgeruch. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl, denn es war ja möglich, dass einer von ihnen in Wirklichkeit auf der Seite der Beute stand, sprich bei den Schafen. So wurde es für die Schafe und für die Wölfe gleichermaßen eine unruhige Nacht, in der sich die Gedanken und Träume nur um ein Thema drehten: der kommende Abend des 24. Dezembers. Das, was die Albträume der Wölfe waren, waren die Wunschträume und Hoffnungen der Schafe und umgekehrt. Aga hatte das, was die Schafe wollten und die Wölfe fürchteten, denn sie war die Hüterin des Christkindes. Bolle hatte das Kind nicht mit zu sich in den Stall nehmen wollen, weil es dann von den anderen Schafen hätte entdeckt werden können. Aber es sollte ja eine Überraschung sein, dass Bolle und Aga schon längst das Baby auf die Weide gebracht hatten. Bolle hatte Aga geholfen, das Christkind in ein besonders nah am Boden befindliches Baumloch zu legen und Aga hatte es mit allerlei Ästchen und Zweiglein abgedeckt, sodass niemand, der nicht davon wusste, vermutet hätte, dass dort ein Geheimnis versteckt lag. Agas Lieblingsbaumloch lag direkt oberhalb des Verstecks in dem gegenüberliegenden Baum. So konnte Aga das Versteck bewachen und Bolle konnte seine heißgeliebte Zipfelmütze wieder aufsetzen: die rote Farbe des Stoffes hätte zu stark durch das Geäst geschimmert. Aga dachte an das hübsche Menschenwunderbaby, das nun in ihrer Mitte weilte. Es war ein hübsches Baby in einer dunkelblauen Hose mit dazu passendem Pullover und blauen Augen, die wenn man das Kind hin und her bewegte, auf und zu klappten. Aga war überzeugt, mit diesem Baby Sicherheit ins Weideland gebracht zu haben. Wenn sich erst herumsprach, dass sie das Baby hatten, würde es kein Tier mehr wagen sie anzugreifen, und sie würden immer in Frieden leben können. Mit diesen schönen Gedanken und Wünschen im Kopf schlief Aga schließlich friedlich und beruhigt ein. Im Dorf hatte niemand etwas vom Verschwinden von Baby Jesus gemerkt. Alles ging seinen gewohnten Gang. Die Kinder hatten schon vor Wochen Wunschzettel geschrieben und fieberten dem Abend des 24. Dezembers entgegen. Sie würden dann ihre Geschenke bekommen. Eine Handvoll Dorfkinder war besonders aufgeregt, und das nicht nur, weil sie sich elektrische Eisenbahnen, ferngesteuerte Autos, Bücher oder Computer gewünscht hatten. Sie waren aufgeregt, weil sie beim Weihnachtsgottesdienst vor der Bescherung das Krippenspiel aufführen mussten. Monatelang hatten sie dafür geübt. Der siebenjährige Tom hatte sich seine Rolle als Josef damit erkauft, dass er die heißgeliebte Babypuppe seiner kleinen Schwester als Jesuskind zur Verfügung gestellt hatte. Hätte diese gewusst wo ihre Puppe wirklich war und was die Tiere mit ihr vorhatten, wäre die kleine Christina sicherlich sehr besorgt um ihre beste Freundin gewesen mit der sie jeden Samstag Teepartys feierte. Sie schien zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war und erkundigte sich vor dem zu Bett gehen noch ein paar Mal bei ihren Eltern, ob denn ihre Puppe auch wirklich in der Kirche sicher sei und ob jemand auf sie aufpasse und ihre Eltern beruhigten sie damit dass die Kirche ja das Haus Gottes sei und deswegen dort Menschen und Puppen und überhaupt alles besonders sicher seien. „Gott persönlich hat ein Auge auf deine Puppe! Und jetzt schlaf endlich!“ sagte die Mutter. „Aber du weißt das auch ganz sicher, dass meine Puppe in der Kirche sicher ist?“, zweifelte Christina noch ein letztes Mal. Ihre Mutter löschte das Licht im Kinderzimmer und schloss die Tür hinter sich. Die Nacht verging ziemlich schnell und als die Tiere sich am nächsten Morgen vom Tageslicht wecken ließen, fühlten sie sich noch sehr unausgeruht und in keiner Weise genügend vorbereitet. Die Wölfe hatten sehr schlechte Laune, weil sie nun einen völlig neuen Plan ausdenken mussten und ausgerechnet die verlockendste Beute nicht mehr da war. Ob sie von zwei mageren Schafen, von denen eines auch noch ausgesprochen klein war, satt werden könnten, bezweifelten sie. Ausgesprochen niedergeschlagen trafen sie sich am späten Morgen zur Lagebesprechung mit ihrem Leitwolf. Dieser hatte in der Nacht noch lange wachgelegen und darüber nachgesonnen ob es wirklich möglich war, dass einer seiner Wölfe sich bei den Schafen verplappert hatte und er war zu dem Ergebnis gekommen, dass niemand in seinem Rudel fähig wäre, etwas derartig niederträchtiges und hinterhältiges getan zu haben. Selbst wenn es einer versucht hätte, welches Schaf hätte ihm dabei zugehört? Normale Schafe nahmen doch bei der bloßen Witterung eines Wolfes Reißaus. Sie hätten sich dem Schaf nicht einmal nähern können ohne es in Todesangst zu versetzen! Also blieb noch die Möglichkeit, dass ein Spion der Schafe oder der Eulen sich in der Nähe der Wolfshöhle herumgetrieben hatte. Um das an diesem Tag zu vermeiden, hatte er schon vor Sonnenaufgang die gesamte Umgebung abgesucht und abgeschnuppert. Zum Glück ohne Ergebnis. Bei der Besprechung mit seinem Rudel begab er sich mitten auf die schneebedeckte Ebene des Wolfstals. Dort konnte sich niemand unbemerkt in ihre Nähe schleichen und sie belauschen. „Liebe Wölfe!“, begann er, „Heute ist der große Tag gekommen! Heute ist der 24. Dezember. Die Menschen im Dorf haben einen Grund zum Feiern, weil an diesem Tage der Geburtstag ihres Retters ist und auch für die Wölfe wird der 24. Dezember nach heute Nachmittag ein Feiertag sein!“ Die anderen Wölfe blickten noch etwas skeptisch auf den Schnee vor ihren Nasen. „Das fette Schaf ist weg und die Schafe wissen schon über alles Bescheid. Dazu kommt noch ein wichtiger Punkt. Sie haben das Christkind auf ihrer Seite! Wir sollten die Aktion besser lassen!“, bemerkte ein besonders griesgrämiger Wolf missmutig. Der Leitwolf ließ seinen Blick über das Rudel gleiten. Jetzt musste er vorsichtig sein und jedes Wort auf die Goldwaage legen. Die Stimmung drohte jeden Moment zu kippen. Er fuhr fort: „Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, mein Freund. Es ist, als könntest du Gedanken lesen. Glaubt ihr etwa, dass ich mir über diese offensichtlichen Probleme keine Gedanken gemacht habe? Dass ich euch einfach so ins Verderben laufen lasse? Wenn ihr das glaubt, dann liegt ihr daneben. Natürlich gibt es diese Probleme. Aber das was jetzt wichtig ist, ist dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, wenn man sich nur lange genug damit beschäftigt!“, er machte eine Pause um die Ansprache wirken zu lassen, „Und wenn es jemanden gibt, der sich ausgiebig damit beschäftigt hat, Lösungsansätze zu finden, dann bin ich das. Was soll ich sagen? Ich habe mir einen neuen und verbesserten Plan ausgedacht, der alle unsere Probleme in Luft auflöst! Was sagt ihr dazu, Freunde?“ Ganz überzeugt war der griesgrämige Wolf noch immer nicht: „Ich sage dazu, dass ich den Plan erst hören möchte, bevor ich etwas dazu sage, ob er gut ist oder nicht!“ Die anderen Wölfe nickten zustimmend. „Ok, das ist nur gerecht. Hört zu, die Kundschafter haben uns gestern berichtet, dass die Eulen am Nachmittag erst das Baby auf die Weide holen wollen, weil sie ja denken, dass wir erst am Abend angreifen werden. Wir müssen einfach unseren Angriff starten, bevor sie überhaupt mit uns rechnen. Also bevor sie das Christkind bei sich haben. Wenn wir als mittags aufbrechen, werden die Schafe noch ungeschützt sein. Und was das fehlende Beutetier angeht, so können wir uns doch auch zusätzlich an den Eulen gütlich tun. Erstens werden ja wohl nicht alle Eulen ins Dorf flattern um Baby Jesus zu holen, zweitens können wir ihnen damit einen Denkzettel dafür verpassen, dass sie sich mit den Schafen verbündet haben und drittens schätze ich, dass auch die hungrigsten von uns von zwei Schafen und einem Schwarm Eulen satt werden können. Seid ihr nun zufrieden?“ Der Leitwolf blickte erwartungsvoll in die Runde. Er war zufrieden, denn die Gesichter der versammelten Wölfe zeigten nun sehr viel weniger Skepsis als noch zu Beginn seiner Rede. Schließlich nickten die Wölfe wieder. Der Plan war beschlossene Sache. Im Dorf liefen alle Vorbereitungen für den Weihnachtsgottesdienst, die anschließende Bescherung und überhaupt das gesamte Weihnachtsfest. Die Straßen wurden vom Schnee geräumt, die Kinder wurden immer nervöser und freuten sich auf ihre Geschenke, die vierte Kerze am Adventskranz wurde angesteckt und die letzten Weihnachtsbäume geschmückt. Auf den Straßen ging es, so kurz vor dem Fest besonders geschäftig zu. Einige Nachzügler kauften erst jetzt Geschenke, andere Menschen bummelten in dicke Wintermäntel eingehüllt über den festlichen Weihnachtsmarkt. Die letzten Weihnachtsgedichte wurden auswendig gelernt, Lieder geprobt und Kostüme anprobiert. In all der emsigen Vorbereitung war noch immer niemandem aufgefallen, dass das Christkind aus der Kirche verschwunden war. Die Menschen waren viel zu sehr damit beschäftigt auch ja das ganze Drumherum, das zum Fest gehörte zu planen oder zu perfektionieren. Bei den Tieren im Weideland liefen die Vorbereitungen ebenfalls auf Hochtouren. Aga war die einzige Eule, die in der Nacht geschlafen hatte. Sie wollte unbedingt am Tage wach sein, denn man konnte ja nicht sicher wissen, wann genau die Wölfe auftauchten. Zwar hatten sie beschlossen erst nach Einbruch der Dunkelheit vorbeizukommen, aber was wenn sie ihren Plan nachträglich noch einmal geändert hatten? Schließlich lag ihr unfreiwilliger Lauschangriff nun schon eine Woche zurück. Nein, sie wollte auf jeden Fall wach und bereit sein wenn es soweit war. Schließlich hatte sie die Aufsicht über das Christkind. Die anderen Eulen hüpften bei Tagesanbruch zum Schafstall um die Schafe zu wecken und die letzten Dinge, die noch getan werden mussten, mit ihnen zu besprechen. Aber da gab es nichts zu wecken. Die Schafe erwarteten die Eulen bereits hellwach in ihrem Stall. „So, dann wollen wir mal!“, begrüßte sie Holle. Aga hatte sich indessen ins Astloch begeben, in dem das Christkind versteckt lag. Sie wollte es noch einmal genauer betrachten und versuchen mit ihm zu sprechen. Selbst wenn es nicht antwortete, vielleicht konnte es sie ja hören und verstehen. Schließlich könnte es ja sein, dass das Baby böse auf sie war, weil sie es aus der Kirche entführt hatten. Ein wenig mulmig war ihr dann doch zumute, als sie in die Baumhöhle hüpfte und zum ersten Mal alleine dem allmächtigen Wunderbaby gegenüberstand. Es lag noch immer genauso da, wie sie es zurückgelassen hatten. „Guten Morgen!“, piepste Aga mit ihrem hellen Stimmchen. Das Baby antwortete nicht. Sie fasste sich ein Herz und fuhr fort: „Ich bin Aga, die kleine Eule und ich wohne hier im Wald mit meiner Familie, den anderen Eulen. Bitte, bitte sei nicht böse, dass ich dich von zu Hause weggeholt habe ohne dich zu fragen. Ich wollte nur helfen. Weißt du, da draußen auf der Weide wohnen meine Freunde. Die allerbesten von allen. Einen hast du gestern kennengelernt. Der, der dich getragen hat, war Bolle. Ich weiß, dass es etwas Schlimmes ist, einfach etwas mitzunehmen, was einem nicht gehört, aber wir wussten uns einfach keinen anderen Rat.“ Aga wartete, ob das Baby nicht vielleicht doch in irgendeiner Weise auf ihre Erläuterungen reagierte, aber es blieb still und bewegte sich nicht. „Weißt du, ich habe die Wölfe belauscht. Nicht absichtlich, echt! Und die haben gesagt, dass sie meine Freunde umbringen wollen! An deinem Geburtstag! Das konnte ich doch nicht zulassen. Weißt du, ich habe keine Eltern mehr und wenn ich jetzt noch meine besten Freunde verliere, was soll ich dann machen? Verzeihst du mir? Bitte, ich brauche deine Hilfe! Danach bringe ich dich auch zurück, versprochen! Hilfst du uns? Wenn du uns nicht helfen willst, kann ich dich auch verstehen. Du bist ja bestimmt böse auf uns.“ Aga begann zu weinen und schmiegte sich eng an das Baby während sie es mit beiden Flügeln zu umklammern versuchte. Dabei stellte sie fest, dass am Rücken des Babys der Pullover auf Druck leicht nachgab. Sie schob den Pullover an dieser Stelle vorsichtig nach oben und entdeckte ein Loch, durch das sie ins Innere klettern konnte. „Wow!“ Aga staunte nicht schlecht. Das Baby war innen hohl und sie passte ohne Probleme hinein. Im Schafstall neigten sich die Verhandlungsgespräche inzwischen dem Ende zu. Theodor hatte gerade eben angekündigt, dass er nun bekannt machen würde, wen er auf die wichtige Mission ins Dorf mitnehmen wollte: „Also, da ich ja nun nicht alleine gehen DARF und mich unbedingt jemand zur Unterstützung begleiten MUSS- obwohl das natürlich in keiner Art und Weise vonnöten gewesen wäre, weil ich das tapferste Tier auf der Weide bin,“ mit einem Seitenblick auf die Obereule fuhr er fort, „Bis auf die allseits geschätzte Obereule natürlich...Wo war ich Stehen geblieben? Ach ja, da ich Begleitung brauche habe ich mir natürlich meine Gedanken gemacht und mich für eine von euch entschieden. Ihr dürft gespannt sein! Und die glückliche Eule ist...“ An dieser Stelle wurde Theodor von einem kleinen Stimmchen unterbrochen: „Entschuldigung Theodor, aber das wird nicht mehr nötig sein! Das Baby ist bereits hier. Es hat wahrscheinlich von der Notlage der Schafe gehört und ist zu uns auf die Weide gekommen“ Aga warf Bolle einen verschwörerischen Blick zu, damit er ja nichts verriet. Sie wollte durch diese Geschichte den Glauben der anderen an die wunderbaren Fähigkeiten des Christkindes festigen und wenn sie fest davon überzeugt waren, dann würden sie auch nicht zweifeln und nicht so viel Angst haben. Sie hoffte, dass sie durch das plötzliche Erscheinen des Kindes Zuversicht gewinnen würden. Zunächst jedoch herrschte erstauntes Schweigen. Dann sagte Wolle: „Bitte, wiederhol das noch einmal! Das Baby ist zu uns auf die Weide gekommen um uns beizustehen?“ Aga nickte: „Es ist im Eulenwald und wartet in einem Baumloch auf euch. Ich kann euch hinführen, wenn ihr mögt!“ Und ob sie wollten! Kurze Zeit später standen sie alle rund um den besagten Baum herum und staunten, als Aga Bolle bat nach vorne zu treten und das Baby aus dem Bauloch zu holen. Triumphierend hielt Bolle seine Beute mit dem Maul in die Höhe, sodass auch die Eulen, die ganz hinten in der letzten Reihe standen es gut sehen konnten. Die Tiere brachen in frenetischen Jubel aus und riefen immerzu: „Danke, danke, du bist gekommen um uns zu retten!“ Bolle trug das Baby auf die Weide und sie drehten drei Siegesrunden immer am Waldrand entlang. Die Wölfe hatten sich inzwischen schon auf den Weg gemacht und eilten zügig Richtung Weide. Jede Minute zählte, jede Sekunde, die sie schneller waren verringerte das Risiko, dass die Schafe bereits im Besitz des Christkindes waren. Sie rannten und rannten und noch nie war ihnen der Weg ins Weideland so lang vorgekommen. Endlich sahen sie die Umrisse des Eulenwaldes vor sich auftauchen. Inzwischen war es schon mitten am Nachmittag und die Schafe und Eulen hatten sich in die Mitte der Weide gestellt, um dort die Ankunft der Wölfe zu erwarten. Das plötzliche Erscheinen des Wunderbabys hatte die Moral der Tiere gehoben und sie waren gespannt wie die Wölfe reagieren würden, wenn sie bemerkten, dass sie so mächtige Unterstützung hatten. Die Lästereule bemerkte die dunklen Schatten am Horizont, die schnell immer näher kamen, als erste. Sie rief: „Da sind sie! Wölfe! Seht ihr die Punkte ganz da hinten? Noch hinter dem Wald.“ Die Obereule hatte scharfe Augen und erblickte das Wolfsrudel, das mit atemberaubender Schnelligkeit auf sie zugerast kam, als nächste. „Das gibt es nicht, schau nur, wie wild und schnell sie sind. Sie werden uns überrennen!“, bemerkte Holle, die nun langsam doch sehr nervös wurde. Die Eulen beschlossen, zumindest die Jungtiere so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen und mit einer erwachsenen Aufsichtseule auf einem hohen Baum unterzubringen, bevor die Wölfe sie erreichten. „Ich habe Angst!“, stieß Holle zwischen klappernden Zähnen hervor. Bolle und Wolle ging es nicht besser. Bolle zitterte und bibberte und Wolle versuchte sich möglichst nah an das Baby zu stellen. Dort fühlte er sich vergleichsweise noch am sichersten. Die Eulen hatten Angst, dass sie vor lauter Schreck, vergessen könnten wie man fliegt. Unaufhaltsam kamen die Punkte näher und näher und nahmen Konturen an. Die Wartenden konnten verfolgen, wie aus dunklen Flecken langsam kleine Wölfe und dann immer größere Wölfe wurden. Sie konnten die Gesichter der Feinde erkennen, diese entschlossenen dreinblickenden, zu Fratzen verzogenen, wilden Wolfsgesichter. Die Wölfe sahen ihr Ziel immer näher kommen und sie konnten kaum glauben, was sie da mitten auf der Weide entdecken konnten. „Drei Schafe!“, keuchte der Leitwolf, „Sie sind doch alle da!“ Von einem Christkind konnten sie allerdings nichts erblicken. „Alles nach Plan! Schnappt sie euch!“ rief der Leitwolf. Sie hatten die Weide erreicht. Die wartenden Tiere wollten sich nun doch lieber auf ihren Instinkt, als auf das Christkind verlassen und stoben auseinander. Die Eulen und Schafe flogen bzw. rannten so schnell sie nur konnten. Aga schlüpfte voller Panik durch das kleine Loch am Rücken der Babypuppe in deren Inneres. Die Wölfe kamen immer näher. „Sie haben doch das Baby! Schnell, vielleicht können wir es in unsere Gewalt bringen!“, sagte der Leitwolf zu den anderen. Sie hatten die Babypuppe eingekreist und schnupperten misstrauisch. Von den Schafen war nichts mehr zu sehen, von den Eulen auch nicht. Die Obereule saß oben in ihrem Baum und beobachtete das Wolfsrudel angespannt. Sie wollten nicht mehr die Schafe, das Baby interessierte sie viel mehr. Es stimmte also doch; das Baby hatte sich geopfert, um die Schafe zu retten. So unscheinbar und reglos es zu sein schien, so aufopferungsvoll und großmütig war es. Auch die anderen Eulen beobachteten die Szene gespannt. Die Wölfe indes standen um das Baby herum und der Leitwolf begutachtete es ganz genau. Die Eulen konnten nicht hören, was gesprochen wurde aber schließlich nahm der größte Wolf es vorsichtig in sein Maul und trug es mit sich als die Wölfe geschlossen verschwanden. Noch einige Zeit nachdem die Wölfe fort waren, trauten sich die Eulen nicht, auch nur einen Laut zu machen. Die Lästereule machte schließlich den Anfang: „Ein Wunder, sie haben uns verschont! Ein Wunder!“ Alle Eulen nickten bekräftigend und obwohl ein großer Teil der Anspannung von ihnen abgefallen war, zitterten ihnen doch noch die Flügel. Mit einem Mal ertönte eine Stimme aus den Reihen der Eulen: „Wo sind die Schafe?“ Niemand hatte gesehen wohin sie gelaufen waren. Jedenfalls waren sich alle sicher, dass sie nicht von den Wölfen erwischt worden waren. Das war ihnen ein Trost, schmälerte aber nicht ihre Neugierde. Wo konnten sich die Schafe nur versteckt halten? Die Obereule rief alle Eulen zusammen, denn es musste Einiges geregelt werden. Die Eulen stellten sich in einer Reihe auf und zählten sich durch. Die erste Eule rief „Eins!“, die nächste „Zwei!“ und immer so weiter bis ein „19!“ erklang und verstummte. „19? Moment, da fehlt einer!“, bemerkte die Obereule irritiert. „Wo ist Aga?“, fragte sie. Jeder schaute seine Nebeneule an und es herrschte ratloses Achselzucken unter den Tieren. Es gab keinen Zweifel, hier war Aga nicht. „Vielleicht hat sie sich mal wieder abgesetzt und ist ins Baumloch geflogen!“, schlug die Lästereule vor. Aber soviel sie auch suchten, Aga blieb verschwunden. Sie war nicht im Baumloch, noch zwischen dem Gestrüpp der Büsche, noch im Schafstall. Die Eulen wurden traurig, denn sie ahnten das Schlimmste. Es gab nur zwei Möglichkeiten, die ihnen in den Sinn kamen: Die eine war, dass die Schafe Aga mitgenommen haben könnten, die andere war, dass die Wölfe Aga gefressen haben könnten. Sie hofften und bangten um das Leben der kleinsten Eule von allen. „Ausgerechnet unser winzigstes Mitglied zu stehlen, das spricht eine klare Sprache. Die Wölfe wollen uns warnen, deswegen haben sie Aga gefressen,“ vermutete die Lästereule und niemand widersprach ihr. Der Schock saß tief. Die Obereule beendete das betroffene Schweigen, denn nun musste sie entscheiden, wie sie weiter vorgehen wollten. Sollte Aga wirklich verschwunden und von den Wölfen verschleppt oder gefressen worden sein, war das eine klare Kriegserklärung. Und die Obereule war bereit, den Kampf aufzunehmen. Zunächst musste aber geklärt werden wo die Schafe sich versteckt hielten, damit sie ausschließen konnten, dass Aga mit ihnen gegangen war. Die Obereule stellte einen Suchtrupp aus sechs Eulen zusammen, der die nähere Umgebung der Weide genau unter die Lupe nehmen sollte. Immer in Pärchen flogen diese Eulen los und ließen die anderen besorgt auf ihren Bäumen zurück. Die Schafe waren schnell weggerannt, als sie merkten, dass sich die Wölfe nicht von dem Baby einschüchtern ließen. In der Tat hat wohl niemand jemals zuvor so flinke Schafe gesehen. Sie rannten und rannten und sie blieben nicht stehen bevor sie nicht sicher waren, dass die Wölfe sie nicht verfolgten. Keuchend kamen sie zum Halt und schauten sich vorsichtig um. Kein Spur von den Wölfen, zum Glück. Sie hatten keine Ahnung wie weit sie gerannt waren und genauso wenig Ahnung davon, wo sie sich nun befanden. Die Umgebung kam ihnen nicht bekannt vor und nur über eines waren sie sich sicher: An diesem Ort waren sie noch niemals zuvor gewesen. Um sie herum standen Büsche und Bäume und es war viel lauter als auf der Weide. Seltsame Geräusche drangen an ihre Ohren, Brummen, Dröhnen, Melodien und Stimmen. Die Lärmquellen konnten nicht weit entfernt sein und je weiter die Schafe gingen, desto lauter wurden die Geräusche. Abrupt endete die Wildnis und die Schafe standen vor einer großen grauen Mauer. Einer Hausmauer. Staunend erkundeten sie ihr Umfeld. Da waren große und kleine Wiesenstückchen, umgeben von kleinen Zäunen und da waren weitere Häuser, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Bunte, glänzende Kisten rollten über dreckige, schneebedeckte Schneisen durch den Häuserwald. Die Schafe konnten Menschen hinter den durchsichtigen reflektierenden Scheiben sehen. Wolle erinnerte sich: „Unser Schäfer hat auch so eine Kiste. Wisst ihr noch? Er hat uns in eine brummende, rollende Kiste gesteckt und uns zur Weide gebracht.“ Holle staunte mit weit aufgerissenen Augen und flüsterte kaum wahrnehmbar: „Menschen, Rollkisten, da hinten gibt es rote Zipfelmützen. Wisst ihr was das bedeutet? Menschendorf.“ „Ohhhh!“, stimmte Wolle mit ein. Sie waren im Menschendorf. Bolle rief: „Ich erinnere mich! Wenn wir dem breiten Pfad folgen, kommen wir zur Kirche, da, wo das Jesusbaby gewohnt hat.“ Wolle und Holle waren wie elektrisiert: „Sagtest du nicht, es gäbe einen Stall mit Schafen in der Kirche?“ Bolle nickte: „Ja, aber sie sind verzaubert! Nicht einmal bewegt haben sie sich. Ich konnte einfach vorbeigehen und das Kind mitnehmen. Aber warm ist es in diesem Stall und Hunde und Wölfe gibt es auch nicht.“ Holle hatte eine Idee: „Wie wäre es damit? Wir gehen zu diesem Kirchenstall und verstecken uns zwischen den anderen Schafen. Wenn Menschen kommen, tun wir einfach so, als seien wir auch verzaubert. So können wir es schaffen, Schutz für die Nacht zu finden.“ „Ja, und morgen früh suchen wir den Weg zurück auf die Weide. Wir müssen herausfinden, was mit den Eulen passiert ist! Hoffentlich hat das Baby doch noch geholfen!“, bemerkte Wolle. Die anderen nickten zustimmend. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Kirche und versuchten, dabei von niemandem entdeckt zu werden. Von Garten zu Garten huschten sie und suchten immer wieder Deckung hinter hohen Büschen. Zum Glück kannte Bolle noch den Weg. „Da hinten ist sie! Seht ihr den Baum mit dem Stern auf dem Wipfel?“ Die Schafe nickten. „Es ist nicht mehr weit, kommt und folgt mir.“ Da war sie, direkt hinter dem Baum mit dem leuchtenden Sternenwipfel. Die Kirche aus roten Steinen, deren schlanker Turm sich weit in den Himmel reckte. Beeindruckt blickten die Schafe nach oben. „Sie scheinen dieses Baby wirklich zu verehren, wenn sie ihm einen so schönen Stall bauen!“ „Nicht, dass sie böse sind, weil das Kind verschwunden ist! Wir sollten ihnen etwas mitbringen um sie zu besänftigen,“ gab Holle zu bedenken. Das leuchtete ein. Die drei Schafe grübelten und grübelten. „Gras, Gras und Klee sind wertvoll. Dann können sich die Menschen so richtig sattfressen. Mit vollem Magen, ist man weniger reizbar!“, schlug Bolle vor. Holle knuffte ihn spöttisch: „War ja klar, dass so ein Vorschlag von dir kommt. Hast du eigentlich auch etwas anderes im Kopf als Futter?“ Bolle knuffte beleidigt zurück: „Eine Unverschämtheit. Eigentlich sollte ich dich zwicken! Mach’ doch einen besseren Vorschlag! Oder fällt dir etwa nichts ein?“ „Es wird langsam kalt. Könnt ihr nicht ein bisschen schneller denken?“, fragte Wolle. „Denk’ doch mit, dann geht’s schneller!“, spöttelte Holle. „Siehst du! So ist sie immer, deine Schwester!“, beschwerte sich Bolle bei Wolle, „Immer greift sie uns an.“ Jäh wurden die Streitigkeiten unterbrochen; ein Mensch näherte sich der kleinen Herde. Bolle rannte vor, durch den Hintereingang in die Kirche, genauso, wie er es damals schon mit Aga zusammen angestellt hatte. Die anderen beiden folgten ihm eilig. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, standen sie im dunklen Gang, der zum Innern der Kirche führte. „Puh, das war knapp!“, bemerkte Holle zu recht, „Wir dürfen nie wieder streiten, das bringt uns nur in Gefahr!“ Bolle brummelte leise: „Du bist trotzdem ein olles Motzschaf!“ Holle reckte die Nase in die Höhe: „Wenn schon, dann bin ich ein elegantes Mützenmodelschaf! Das heißt, sobald du mir meine Mütze wiedergibst, Bolle. Und jetzt zeig’ uns lieber wo der richtige Stall ist!“ Kurze Zeit später im Kirchenschiff, standen sie vor dem, neben dem Altar aufgebauten Stall. In dem Stall befand sich ein großer bewegungsloser Ochse, vor dem Stall standen zwei dicke, erstaunt aussehende Schafe, die auf eine Futterkrippe im Innern des Stalles starrten. „Da drin lag das Baby!“, erläuterte Bolle. „Aha, die Schafe haben anscheinend schon gemerkt, dass das Kind fehlt! Schau dir ihre Gesichter an! Sie sind entsetzt,“ flüsterte Holle in Wolles Ohr. Die Schafe traten näher heran und zuckten plötzlich zurück. Neben der Krippe, aber in der hintersten Ecke des Stalles standen zwei Menschen und blickten erstaunt auf die leere Krippe.

„Oh, oh, selbst die verwunschenen Menschen sind nicht ahnungslos! Was wird dann erst passieren, wenn die echten Menschen es sehen? Wir müssen etwas in die Krippe legen, damit es nicht so auffällt, wenn sie heute kommen um es zu besingen!“, sagte Wolle und warf einen bedeutungsschweren Blick auf seine kleine Schwester Holle. Die blökte: „Ich geh’ da nicht rein, das könnt ihr vergessen!“ Bolle und Wolle lachten. Nur ein paar Minuten später lag Holle in der Krippe. Sie war bis zur Nase in das Laken eingewickelt, das neben der Krippe gelegen hatte und das vorher schon das echte Baby warmgehalten hatte. Wolle und Bolle betrachteten sie kichernd: „So ein süßes Lämmchen. Haha, was bist du niedlich!“ Holle streckte ihnen ihre lange Schafszunge entgegen. Eigentlich gefiel es ihr in der Krippe ganz gut. Es war gemütlich und warm. Wolle flüsterte: „Jetzt sind zu viele Schafe hier. Das fällt den Menschen bestimmt auf!“ Mit vereinten Kräften versteckten Wolle und Bolle die beiden verwunschenen Schafe hinter dem Stall und stellten sich selber an deren Positionen. Sie versuchten genauso zu schauen wie ihre Vorgänger und schnitten bei dem Versuch die lustigsten Grimassen. Es wurde draußen dunkel und mit einem Mal ging dien Kirchenbeleuchtung an. Lichterketten blinkten und tauchten die Kirche und den Stall in ein warmes Licht. Die Schafe bemerkten die Anwesenheit von Menschen, die sich näherten und blieben genauso stehen, wie sie gerade waren. Sie erstarrten zu bewegungslosen Zierdeschafen. Holle verkroch sich tiefer in das Laken, damit niemand bemerkte, dass sie nicht das Retterbaby war. Das echte Erlöserbaby war währenddessen an einem weitaus weniger freundlichen Ort. Im Maul des Leitwolfes ging die Reise über Stock und Stein, durch Geäst und Gestrüpp bis zum Tal, in dem die Wölfe in einer versteckten Höhle lebten. Aga hatte die Augen fest verschlossen und versuchte, sich im Innern der Babypuppe festzukrallen, um nicht hin und her geschleudert zu werden. Sie durfte sich auf keinen Fall verraten. Angestrengt kniff sie den Schnabel zusammen und unterdrückte jedes Geräusch. Die Wölfe triumphierten, denn das allmächtige Baby war nun in ihrer Gewalt. Mit der Unterstützung des Kindes, waren sie mächtiger als die Eulen, als die Schafe und, was noch viel wichtiger war: sie waren sogar mächtiger als die Menschen. In der Höhle angekommen, ließ sich das Wolfsrudel zufrieden nieder. Die Aktion war ein voller Erfolg gewesen, wenn sie auch nicht die Schafe gefressen hatten. Aber die Schafe könnten sie noch zu einem späteren Zeitpunkt erledigen, die Gelegenheit das Jesusbaby zu ergattern kam nur ein einziges Mal und dann nie wieder. Sie hatten ihre Chance genutzt und überlegten was sie nun alles anstellen konnten, ohne dass sie sich in Gefahr begaben. „Wir können alle Weiden und Bauernhöfe im Umkreis überfallen und ein paar wertvolle Leckerbissen mitnehmen. Wer soll uns schon daran hindern? Wir haben Unterstützung von ganz oben!“, freute sich der Leitwolf. Die anderen Wölfe lachten hämisch. „Haha, ich bin gespannt was die Menschen dazu sagen, wenn sie merken, dass ihr Heiligtum verschwunden ist! Jetzt ist die Zeit der Wölfe gekommen. Auf uns, Freunde!“, rief ein junger Wolf. „Auf uns!“, jubelten die anderen Wölfe im Chor. Die Eulen hatten in Suchtrupps das gesamte Weideland durchkämmt und ein Suchtrupp war auf Spuren der Wölfe im Schnee gestoßen während ein anderes Eulengrüppchen Spuren der Schafe entdeckt hatte. Die beiden Spuren führten in entgegengesetzte Richtungen und die Eulen hatten sich dazu entschlossen, sich in zwei größere Gruppen aufzuteilen und beiden Spuren gesondert nachzugehen. Eine Delegation Eulen blieb bei der Obereule im Wäldchen für den Fall, dass Aga oder die Schafe zurückkehrten. Die Lästereule war eine der letzteren Gruppe und beschwerte sich lauthals über die bösen Wölfe, die ja wohl hoffentlich bald auf Nimmerwiedersehen verschwinden würden. „Sie werden schon noch ihre Lektion lernen. Niemand legt sich mit den Eulen an, niemand! Sie haben Aga gefressen. Als ob sie nichts dickeres hätten finden können. Da sieht man, wie dumm sie sind, die Wölfe. Viel Kraft und nichts dahinter. Also ich an ihrer Stelle, hätte ja das fette Schaf gefressen. Da ist wenigstens war dran,“ plapperte sie in einer Tour auf die Obereule ein, die verzweifelt nach einer Ausrede suchte, um sich zurückzuziehen. Aber bei dem Dauergequassel, das in das rechte Ohr der Obereule strömte, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Die Kirche war inzwischen mit Menschen prall gefüllt. Die Schafe zweifelten langsam an ihrem eigenen Plan. Wolle und Bolle merkten wie schwierig es war, stundenlang bewegungslos auf der Stelle zu stehen und so zu tun, als sei man ausgestopft. Sie konnten sich nicht umwenden um zu schauen, was in der Kirche geschah sondern sie mussten dem Stall zugewandt stehen bleiben und Holle in ihrer Krippe möglichst erstaunt anschauen. Holle hingegen hatte sich sehr gut in ihre Rolle eingefunden. Die Krippe war weich und warm und gemütlich und Holle war sehr erschöpft. Ihre Augenlider wurden allmählich schwerer und schwerer. Das Licht war wunderbar gedämpft und die Menschen sprachen salbungsvolle Worte und sangen bedeutungsschwere feierliche Lieder, um die Geburt des Babys, das in der Krippe lag, gebührend zu feiern. Holle konnte vorsichtig den einen oder anderen Blick über den Rand des Lakens riskieren. Die Menschen sahen fröhlich aus und sehr nett. Hier fühlte sie sich wohl, hier wollte sie bleiben. Holle spürte, wie sie langsam eindämmerte, aber sie wehrte sich nicht dagegen. In der Kirche fühlte sie sich sicher. Hier gab es keine Wölfe und keine Gefahr. Die Wölfe in ihrer Höhle in ihrem Tal waren ebenfalls erschöpft und beschlossen, sich erst einmal zur Nachtruhe zu betten. Sie bildeten einen Kreis um die Babypuppe, sodass diese in ihrer Mitte lag und nicht fliehen konnte und schliefen einer nach dem anderen ein. Aga verharrte noch eine Weile in der Puppe und wartete, bis sie sicher war, dass alle Wölfe tief und fest schliefen. Sie hatte eine Idee wie sie die wilden Tiere hereinlegen und erschrecken konnte, aber dazu mussten sich wirklich alle Wölfe schon im Reich der Träume befinden. Sobald sie sicher war, dass der richtige Moment gekommen war, kletterte sie leise und vorsichtig aus der Puppe und hüpfte auf die Wölfe zu, die im Mondlicht vor ihr lagen und zufrieden schnarchten. Fast musste Aga ein wenig grinsen, als sie an ihren Plan dachte. Wenn er funktionierte, würden sie für immer von den Wölfen befreit sein. Der Suchtrupp, der den Schafsspuren folgte, wurde von der Choreographeneule angeführt. Der Weg führte immer weiter vom Weideland fort, tief in den Wald hinein, den Hügel hinab ins Tal. „Da unten geht’s doch zum Menschendorf!“, bemerkte eine Eule. „Sehr gut, die Schafe haben genau richtig gehandelt. Wir hatten doch gesagt, dass sie sich in der Nähe der Menschen aufhalten sollten,“ sagte die Choreographeneule, „Dann wissen wir auch, wo sie hin wollten.“ Eine Eule fragte: „Und wohin?“ „Na, zur Kirche! Heute ist der 24. Dezember. Alle Menschen versammeln sich heute nacht in der Kirche um zu feiern. Näher kann man ihnen wohl nicht kommen.“ „Also, auf zur Kirche! Ihr wisst, wo es langgeht! Wollen wir nur hoffen, dass die Schafe Aga mitgenommen haben!“ Zielstrebig machten sie sich auf zur Kirche und fanden die Vermutungen bestätigt. Die Spur der Schafe verlief genauso wie sie es erwartet hatten. Unterwegs trafen sie keinen einzigen Menschen, das ganze Dorf war wie leergefegt. „Dann stimmt es also wirklich! Alle sind in der Kirche,“ staunten die Eulen. Sie setzten sich auf den riesigen, hell erleuchteten Baum direkt neben der Kirchentür. Zwar gab es oben neben dem Baum auch Fenster, aber die Eulen konnten trotzdem nichts erkennen, denn die Scheiben waren aus buntem undurchsichtigen Glas, das lediglich etwas Licht von drinnen nach draußen ließ. Gesang und der Klang einer Orgel waren zu hören und die Eulen lauschten einen Moment den festlichen Klängen. Aga war zufrieden mit ihrem Werk, sehr zufrieden und sehr erschöpft. Es war schwierig gewesen ihren Plan auszuführen, ohne dabei die Wölfe zu wecken, und anstrengend, aber sie hatte es geschafft. Nun wollte sie sich auch etwas ausruhen, bevor der zweite Teil des Planes durchgeführt werden konnte. Sie stellte die Babypuppe senkrecht, sodass es aussah, als ob sie sich aufgesetzt hätte. Dann kletterte sie in das Innere der Puppe und versuchte die Arme von innen hin und her zu bewegen und den Kopf einmal im Kreis zu drehen. Es war mühsam, aber es funktionierte. Die Wölfe würden das Loch in der Puppe wieder nicht bemerken, da es von einem dicken Wollpulli überdeckt war, unter dem Aga immer hindurchschlüpfte, wenn sie nach draußen oder drinnen wollte. Nun musste sie nur noch warten, bis die Wölfe wach wurden. Und sie war sich sicher, dass das nicht mehr lange dauern konnte. Richtig, die Wölfe begannen schon bald vor Kälte zu zittern und mit den spitzen, gefährlichen Zähnen zu klappern. Der erste Wolf erwachte: „Warum ist das so schrecklich kalt? Hilfe, ich erfriere!“ Die anderen Wölfe wurden ebenfalls von der Kälte aus dem Schlummer gerissen und sahen im Mondschein das gesamte Ausmaß der Bescherung. Sie waren nackt! Splitterfasernackt. Ihr Fell lag auf dem Boden um sie herum in einzelnen Haarbüscheln verstreut. Alle sahen den Leitwolf an und hofften von ihm Anweisungen zu bekommen, was sie tun sollten. Sie hofften auf eine Erklärung für das Dilemma. Bevor sie aber ihre Schrecksekunde ganz überwunden hatten bewegte Aga den Kopf der Babypuppe, sodass er sich einmal um sich selbst drehte. Dabei lachte sich laut und böse: „HEHEHEHEHEHE!“ Die Wölfe waren vor Schreck wie erstarrt und stierten ungläubig und gebannt auf den sich drehenden Kopf des Babys, das sie auslachte. Demütig und flehend verbeugte sich der Leitwolf vor dem Baby und bat: „Großes Baby, oh Retter und Erlöser der Welt! Warum hast du uns das angetan?“ Aga unterdrückte ein Kichern und antwortete ernsthaft während sie die Arme der Puppe Richtung Himmel erhob. Zu ihrem Glück zog in diesem Moment gerade ein Gewitter heran und ein riesiger Blitz erleuchtete die bizzare Szene. Die Wölfe zuckten zusammen. Aga sprach in ihrer tiefsten und grollendsten Stimmlage: „Ihr habt mich gestohlen! Ihr habt mich verraten und alles wofür ich einstehe. Ihr wolltet Leid und Tod über die Schafe und die Eulen bringen. Und den Menschen habt ihr den Heiland weggenommen! Glaubt ihr etwa, dass ihr ungestraft davon kommt?“ Die Wölfe verbeugten sich alle furchtsam vor dem Baby. „Verzeih uns, verzeih uns. Bitte verschone uns und hab’ Gnade!“, riefen sie alle, einer Panikattacke nahe, durcheinander. Sie waren beeindruckt. Dieses unscheinbare Menschenbaby war noch viel mächtiger, als sie zu träumen gewagt hatten- nur leider arbeitete es nicht für sondern gegen sie. Das Kind rief mit drohender Gebärde: „Es gibt nur eine einzige Möglichkeit für euch das Unglück abzuwenden! Lasst die drei Schafe im Weideland in Frieden grasen. Wer ein Schaf angreift, wird ein grausames Schicksal erleiden. Wer eine Eule angreift, wird für immer verflucht sein und heimgesucht werden.“ Die Wölfe zitterten noch immer vor Kälte und vor Angst. Nach einer kurzen Pause sprach der Leitwolf: „Wir versprechen es. Nie wieder werden wir im Weideland jagen. Wir lassen die Tiere dort in Ruhe und tun ihnen nichts!“ Aga fuhr zufrieden fort: „Und noch etwas müsst ihr tun. Bringt mich zurück in die Kirche, in meinen Heimatstall und dann verschwindet wieder. Kehrt zurück in eure Höhle und lasst mich bei den Menschen zurück. Ich gehöre dorthin. Und werde ich nicht heute Abend noch an meinen mir angestammten Platz gebracht, wird das Unglück die Wölfe überrollen und ihnen für mindestens zehn Generationen an den Fersen kleben bleiben! Denn wer Schlechtes tut, dem wird Schlechtes widerfahren und wer Gutes tut, dem wird Gutes widerfahren!“ Die Wölfe nickten ehrfürchtig. Das Baby war beeindruckend. Aga selber hatte zwar gedacht, dass ihr Plan funktionieren würde, aber dass die Wölfe so beeindruckt und eingeschüchtert sein würden, hatte sie trotzdem nicht zu hoffen gewagt. Die Wölfe wussten, was zu tun war. Der Leitwolf nahm das Baby sehr vorsichtig, um es ja nicht zu verärgern, zwischen seine Zähne und lief los, so schnell er konnte. Sein Rudel folgte ihm auf dem Fuße als Geleitschutz. Und so kam es, dass der Wolfsrudelsuchtrupp der Eulen einen Anblick zu sehen bekam, den keines seiner Mitglieder jemals wieder vergessen würde. Theodor, der Gruppenleiter hatte sich gerade angeberisch neben einer Wolfsfährte aufgebaut und erklärte großspurig: „Die Wölfe sind schon vor einiger Zeit hier vorbeigekommen. Es ist absolut unwahrscheinlich, dass wir sie heute noch zu Gesicht bekommen- so weit sind sie entfernt.“ Da hörten die Eulen, die in einem Grüppchen vor Theodor standen und seinen Ausführungen aufmerksam lauschten, ein Heulen, wie es nur von Wölfen stammen konnte und das Pfotengetrappel wilder Tiere. Eine Eule rief: „Wölfe!“ In dem Moment rasten sie auch schon an ihnen vorbei! Ein ganzes Rudel wilder Wölfe, splitterfasernackt und der Anführer hatte das Christuskind im Maul. Mit offenen Augen und Mündern starrten die Eulen dem Rudel hinterher, das sie nicht einmal wahrgenommen zu haben schien. Sie beschlossen, sofort umzukehren, dem Rudel zu folgen und schickten eine Eule los, die Obereule im Wald über die Geschehnisse zu informieren. „Wir bekommen sie also heute nicht mehr zu Gesicht, wie?“, spöttelte eine Eule mit Blick auf Theodor, „Und was war das dann gerade eben? Eine Fata Morgana?“ Theodor schwieg beleidigt. „Warum waren die alle nackt?“, erkundigte sich eine neugierige Eule bei Theodor. Diesem riss der Geduldsfaden, er hatte einfach kein Glück: „Woher zum Waldgeist soll ich das wissen?! Ihr denkt doch eh, ihr wäret schlauer als ich! Dann sucht ihr doch nach einer Lösung! Ich habe lediglich den Auftrag, die Wölfe zu verfolgen. Und genau das werde ich tun. Denn ich bin tapfer, sehr tapfer!“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Seine Begleiter beschlossen, ihn vorerst nicht mehr anzusprechen und flatterten schweigend hinter ihm her. Die Obereule schließ inzwischen mit offenen Augen während die Lästereule noch immer wie ein Wasserfall auf sie einredete. „Und dann hat das fette Schaf gesagt, Streifen stünden ihm gut. Dabei sah es aus wie ein aufgeplustertes Sitzkissen in Zebraoptik. Jeder weiß doch, dass Streifen dick machen. Nur Querstreifen versteht sich, keine Längsstreifen. Die sollte jemand tragen, der etwas kaschieren möchte. Eusebia zum Beispiel! Sie sollte wirklich ernsthaft überlegen, ob sie nicht mal ein paar Gramm abspecken möchte. Ich weiß nicht, wirklich nicht, was deren Mann an ihr findet.“ Plötzlich verstummte die Lästereule. Die Obereule erwachte, denn die unerwartete Stille alarmierte sie. Stille? Nein, eher ein Erdbeben. Es hatte ein kurzes Gewitter gegeben, das aber schnell weitergezogen war. War das nun der Donner? Die Lästereule staunte: „Da. Wölfe.“ Die Obereule ergänzte: „Nackt.“ Ein lärmendes Rudel nackter Wölfe schnellte an ihnen vorbei. „Sie haben das Baby!“, bemerkte die Obereule. Sie kamen aus dem Staunen nicht heraus. Was wollten die Wölfe nun anstellen? Wieso waren sie nackt? Die Lästereule fing sich als erste wieder: „Also wenn DAS die neue Wintermode sein soll, dann bin ich schockiert! Dann lieber Querstreifen!“ Die Obereule schüttelte den Kopf, das war der Wahnsinn, diese Lästereule trieb ihn zur Weißglut. Dieses dumme Geschwätz. Das konnte sich keine Eule länger als zehn Minuten mit anhören. Er bemitleidete sich selber, denn er hatte notgedrungen mindestens eine halbe Stunde mit der Lästereule ausgeharrt. „Herr Obereule!“, erklang eine bekannte Stimme. „Theodor, mein guter Freund!“, rief die Obereule erfreut über die Rettung vor weiteren Lästerattacken, „Du ahnst nicht, was gerade hier vorbeigekommen ist!“ Theodor erwiderte: „Etwa das Wolfsrudel? Dann kennt ihr ja schon alle Neuigkeiten. Sind die Schafe oder Aga zurückgekehrt?“ Die Obereule verneinte die letzte Frage und sie beschlossen nun, gesammelt ihren Posten im Wald zu verlassen und nachzuschauen, was die Wölfe vorhatten. Die Neugierde war einfach viel zu groß um dagegen anzukommen. „Herrje, ist das aufregend!“, kommentierte die Lästereule. Holle war inzwischen eingenickt. Der Gottesdienst war in vollem Gange. Ein paar Menschenkinder hatten sich verkleidet und spielten die Weihnachtsgeschichte nach. Noch waren die Schafe nicht aufgeflogen. „Und sie sahen das Kind in der Krippe liegen, inmitten von Heu und von Stroh.“ In diesem Moment begann Holle laut und gut vernehmlich zu schnarchen. „Raaaaaaaphüüüüüüüüüüüüüüü, raaaaaphüüüüüü!“ Verdutzt hielten die Kinder in ihrem Spiel inne. Der Erzähler vergaß die Geschichte weiter vorzulesen. Das Baby in der Krippe schnarchte und bewegte sich. Die Eulendelegation, die draußen auf dem Baum gewartet hatte, erkannte sofort das Geräusch: „Tatsächlich! Die Schafe sind in der Kirche! Das Schnarchen hat mich so oft fast um den Verstand gebracht- ich würde es unter Trillionen von Geräuschen erkennen! Lasst uns zu den Schafen gehen. Wenn sie dort friedlich schlafen können, droht wohl keine Gefahr!“ Bolle und Wolle konnten nicht mehr stillstehen. Sie begannen laut und wiehernd zu lachen, so lustig sah es aus, als Holle sich genüsslich streckte und ihr Kopf aus der Krippe hinausschaute. Die Menschen waren wie versteinert. Nur ein kleiner Junge, der als Hirte verkleidet war, rief: „Boah! Krass! Das sind ja echte Schafe!“ Ein erstauntes Raunen ging durch die Menschenmenge, einige Fotoapparate wurden gezückt, und Beweisfotos geschossen. Noch seltsamer wurde es, als durch die einen Spaltbreit geöffnete Kirchentür eine Handvoll Eulen in die Kirche geflogen kamen und vor der Krippe landeten. Holle bekam etwas Staub in die Nase und nieste so heftig, dass sie vor Schreck aus ihrem Bettchen kullerte und aufwachte. Vorsichtig blinzelnd bemerkte sie: „’Tschuldigung, bin wohl eingenickt!“ Gerade waren die Menschen dabei, sich langsam von ihrem Schock zu erholen, als lautes Wolfsgeheul alle, auch die Schafe und die Eulen aufhorchen und vor Schreck erstarren ließ. Die Wölfe hatten es geschafft, die Tür weiter zu öffnen und stürmten nackt und mit großem Gebrüll in das Innere der Kirche. Das Licht und die vielen Menschen bremsten sie und der Leitwolf schritt alleine, langsam und mit gesenkter Schnauze den Mittelgang entlang, Richtung Stall. Die Menschen waren gleichfalls erschrocken und beobachteten furchtsam jeden Schritt des Leitwolfes. „Er hat das Jesuskind! Meine Puppe! Mama hat gelogen!“, rief ein kleines Mädchen aufgeregt. Alle blickten sich zu ihr um. Es war Christina, die kleine Schwester des Jungen, der den Josef spielte. Ihre Mutter hielt ihr schnell den Mund zu, damit sie nicht die Aufmerksamkeit des Wolfes auf sich lenkte. Den schien das schreiende Mädchen nur wenig zu stören. Er ging unbeirrbar weiter den Mittelgang der Kirche entlang. Auch die kleine Lisa war mit ihrem Großvater in der Kirche und zupfte dem verdutzten alten Mann aufgeregt am Jackenärmel. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr- ganz leise-: „Ich hab dir doch gesagt, da war so’n Schaf in deinem Garten. Da vorne, da. Das dicke.“ Sie zeigte mit dem Finger nach vorne auf Bolle. Der Wolf schritt nach vorne, bis zu den zitternden Schafen, Eulen und verkleideten Menschenkindern. Dann raunte er: „Habt keine Angst, ich bringe euch euren König zurück.“ Für die Menschen hörte es sich an wie leises Knurren und sie bekamen Angst. Er legte das Baby unter dem gespannten Blick aller Anwesenden sanft und sachte in die Krippe, nahm das Laken an, das Holle ihm entgegenstreckte und hüllte das Christkind damit ein. Dann drehte er sich noch einmal um. Fotoapparate klickten, Blitze zuckten und der Wolf sprang in großen Sätzen, gefolgt von seinem Rudel aus der Kirche und durch den tiefen Schnee davon, zurück ins Wolfstal. Noch immer wagten die Menschen nicht, sich zu erheben und nach vorne zu gehen. Die Jesuspuppe bewegte sich und mit einem Mal kroch eine winzig kleine Eule unter dem Laken hervor. „Ihr seid gerettet!“, rief sie ihren Freunden zu, „Die Wölfe werden es nicht mehr wagen ins Weideland zurückzukehren! Baby Jesus hat sie zur Vernunft gebracht“ Frenetischer Jubel brach unter den Tieren aus. Sie hüpften vor Freude auf und ab und lachten und umarmten sich überschwänglich. Schließlich drehten sie sich zur Krippe um und verneigten sich. Bolle nahm die rote Zipfelmütze ab und legte sie als Dankgeschenk für das Baby in die Krippe. Dann drehten sie sich zu den Menschen um, machten kurz einen Knicks zur Verabschiedung und verließen die Kirche dort, wo die Wölfe vor kurzem hinein und hinausgestürmt waren- in Kleeblattformation, denn sicher ist sicher. Zurück ließen sie ein ganzes Dorf voller Menschen, die nicht so recht wussten, ob das alles gerade wirklich oder nur in ihrer Einbildung passiert war. Die Beweisfotos waren am nächsten Tag in jeder Zeitung zu finden. Die Dorfzeitung titelte „TIERISCHE WEIHNACHTEN“ und auch überregionale Zeitungen und Nachrichten in aller Welt berichteten von dem Gottesdienst der Tiere. Alle fanden, dass es das feierlichste und beste Weihnachten aller Zeiten gewesen war und würden es ganz bestimmt ihren Lebtag nicht mehr vergessen. Die Wölfe trafen unterwegs auf eine weitere Nachzüglergruppe Eulen und rannten schnell weiter, damit das Baby nicht dachte, dass sie ihr Versprechen, sich von den Schafen und Eulen fernzuhalten nicht einhielten.

Die Wölfe mochten wild und gefährlich sein, aber sie waren ehrliche Tiere, die zu ihrem Wort standen. Sie kehrten nie wieder ins Weideland zurück. Den ganzen Winter über froren sie erbärmlich und wurden so immer wieder schmerzlich an ihr Versprechen erinnert. Als sich endlich alle Eulen und Schafe wieder auf der Weide eingefunden hatten, setzten sie sich zusammen und sie berichteten sich gegenseitig was passiert war und was sie erlebt hatten. Besonders beeindruckt waren sie alle von Agas Geschichte. Sie fieberten mit, als sie von der Höllenreise zur Wolfshöhle berichtete, feuerten sie an, als sie erzählte, wie sie den Wölfen das Fell gestutzt hatte, lachten mit ihr, als sie erzählte, wie sie die Wölfe an der Nase herumgeführt hatte. „Aga, du magst die kleinste unter uns Eulen sein, aber du bist die mutigste und schlauste Eule in der ganzen Gegend. Ich möchte dich gerne zu meinem persönlichen Berater ernennen!“, erklärte die Obereule feierlich. Alle Eulen jubelten und klatschten, sogar Theodor. Die Schafe drückten ihr eines nach dem anderen einen dicken Kuss auf die Wange und Aga nahm gerührt die Ehrung entgegen. Sie wusste gar nicht was sie sagen sollte. Dann besann sie sich auf das, was sich die Menschen im Dorf an diesem Tag gegenseitig wünschten und sagte, ein paar Freudentränchen zurückhaltend: „Frohe Weihnachten!“ Und alle stimmten mit ein. „Frohe Weihnachten!“, riefen sie und man konnte sie noch kilometerweit hören.

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