Marius Windt

Nicolai und Snezana

Vorab: mit der Kurzgeschichte "Nicolai und Snezana" habe ich den zweiten Platz des 5. Schreibwettbewerbes für junge Menschen in der Alterskategorie 1. belegt, der von der Buch- und Kunsthandlung Wekenmann initiiert wurde, und bei der auch die Erstrechte zur Veröffentlichung liegen. Die Geschichte lässt sich zusammen mit den anderen Geschichten als Teil einer Anthologie erwerben. Mehr Informationen darüber auf: www.wekenmann-buch.de

Genug geschwafelt - es geht los:

Nicolai und Snezana
(Reykjawik – Schneesommer 2008)

„Du weißt, warum du hier bist?“ Wie kann ich es nicht wissen, denn sie legen sehr viel Wert darauf, begreiflich zu machen, wofür man bestraft wird. Damit man versteht warum, seine Fehler bereut, und sich bessert. Und wenn man sich nicht bessert, dann wird man wieder bestraft und wieder bestraft und wieder bestraft und wieder …
„Snezana! – Snezana Djurinic ich rede mit dir!“ Er spricht ihn falsch aus. Es heißt Znäschanna mit Betonung auf der ersten Silbe und weichem „sch“ - nicht Snäzana. Wie soll man einen Menschen kennen, wenn man nicht einmal seinen Namen aussprechen kann? Wie soll man ihn verstehen – und wie kann man sich selbst zugestehen, über ihn urteilen zu dürfen, wenn es einen nicht einmal interessiert, wie es ihm geht?
Ich blicke auf. Über den schweren und breiten Holztisch, dessen Gewicht genauso auf mir lastet wie die bedrückende Stille im Raum – metaphorisch. Das habe ich in Deutsch gelernt. Zu Hause hatte ich kein Deutsch. Der breite Tisch, der ebenschwarze Tisch des Schulleiters macht es unmöglich, sich die Hände zu reichen. Wie soll ich jemandem vertrauen, den ich nicht berühren kann?
„Ich fürchte, ich werde wieder mit deinen Eltern reden müssen, Snezana.“ Mein Knie schmerzt, mein Rücken schmerzt, mein linker Arm schmerzt – schönen Gruß von meinem Vater. Alles tut weh, nur nicht die Stellen, die ein beiläufiger Blick streifen könnte; zum Beispiel mein Gesicht oder die Hände.
Wenn er wenigstens zu Hause und nicht bei meinen Eltern anrufen könnte; dort ginge niemand ran – kein Anschluss mehr unter dieser Nummer. Er betrachtet mich kopfschüttelnd.
„Du verschwendest meine Zeit Snezana. Geh wieder zurück in den Unterricht!“ Ich gehe – gerne, aber nicht in den Unterricht; denn noch immer hallen die Worte meiner Lehrerin in meinem Kopf nach und hämmern gegen die Schädeldecke: „Aus dir wird doch sowieso nichts.“

Ich brauche frische Luft. Nur noch sieben Zigaretten, obwohl ich angefangen habe zu stopfen. Das heißt, dass der Tag stressig ist. Ich sitze alleine auf der Treppe vor den gläsernen Türen zur Eingangshalle, meinen Kopf an das kalte Stahlgeländer gedrückt. Die Stufen sind so grau, als würden sie den Himmel spiegeln. Und auf eine andere gewisse Art und Weise das Leben – ein ständiges Auf und Ab. Und die Meisten trampeln gegenseitig auf sich rum, anstatt sich aufzuhelfen wenn einer stolpert.
Vorne am Rand des Schulgeländes hält ein Bus. Die Türen öffnen sich, aber niemand steigt aus. Dann doch jemand. Der Busfahrer, der auf seine Armbanduhr blickt und eilig zum hinteren Ausgang stapft. Er lässt eine Rampe runter und ein Rollstuhlfahrer steigt, ich meine rollt hinaus, direkt auf die Schule und auf meine Treppenstufe zu. Dichter blaugrauer Rauch verlässt meine Lunge und macht sich daran, die Welt zu erkunden. Erst kauert er sich ängstlich zusammen, bis ihn die Neugierde packt und er sich in alle Richtungen ausbreitet und schließlich verblasst. Der Pausengong ertönt.
Als er näher kommt erkenne ich, dass er jung ist, vielleicht sogar so alt wie ich. Vor der Treppe kommt er zum Stehen … sitzen. Wir blicken uns in die Augen. Es ist ein magischer Moment; auch wenn ich das erst im Nachhinein begreifen werde. Ich blase Rauch aus und durch den Dunstschleier sehe ich, dass er zwanghaft versucht zu lächeln. Er hat es immer versucht, sein ganzes kurzes Leben lang.
„Gibt es hier noch einen anderen Eingang? Ich meine – einen Eingang ohne Treppen?“ Ein Kopfschütteln ohne den Kontakt zum kalten Stahl zu verlieren. Mein Kopf ist etwas schief, als wäre er abgeknickt. Er kneift die Lippen zusammen. Sie formen das Wort „Schade“. Dann zieht er sich am Geländer hoch – er muss kräftige Armmuskeln haben. Und so steht er dort, auf zittrigen Beinen, die nicht tun, was sie tun sollen, und keiner weiß warum gerade er. Alle sind nur glücklich, dass es sie selbst nicht getroffen hat.
Die Türen gehen auf und ich höre Schritte; Schritte die verstummen und gesichterlose Stimmen, die anfangen zu murmeln. „Was will der denn hier?“ „Ist der behindert?“ Ein beständiges Murmeln, wie man es immer hört, wenn man die Straßen oder die Korridore der Schule entlang geht. Es sieht so aus als würde er aufgeben. Er gibt auf. Er wird sich wieder hinsetzten und den Versuch bereuen sich aufgelehnt und etwas versucht zu haben.
Du gehst die Straße lang und das ganze Leben läuft an dir vorbei. Je mehr Menschen auf einem Fleck leben, desto weniger reden sie miteinander; bis sie sich irgendwann nur noch anschweigen und schließlich sterben. Man hat viel Zeit zum Nachdenken und zum Zuhören wenn man alleine ist. Man setzt sich in die Straßenbahn und beobachtet Leute, lauscht ihren Gesprächen, ihren Problemen, ihrem Leben. Aber wenn man nach Hause kommt – wenn man ein Zuhause hat – es dunkel wird und man im Bett liegt, dann fühlt man sich einsam und leer.
„So ein Trottel …“ Er steht immer noch da und sein Blick sucht hilflos die Menge ab, welche eine Mauer der Ignoranz bildet. Das reicht – ich schreie, ich schreie aus tiefster Verzweifelung und es tut gut:
„Bringt es euch Spaß zuzusehen, wie jemand leidet? Oder seid ihr einfach nur zu feige, um ihr selbst zu sein?“ Ich zieh mich hoch – es ist einfach, als würde ich fliegen – und gehe zu dem fremden Jungen.
„Du musst mir nicht helfen“, flüstert er und schlägt die Augen nieder.
„Jetzt halt die Klappe – denen zeigen wir´s!“, zische ich zurück und nehme mir den Rollstuhl. Seine Hände klammern sich an das Geländer und an meine Schulter, und es ist schön ihre Wärme zu spüren an der Stelle wo mein Vater mich mit dem Buch getroffen hat. Er ist schwerer als gedacht. Aber verbissen, Stufe um Stufe, überwinden wir uns, die Treppe und die Blicke, die jedes Mal ausweichen, wenn wir in ihre ausdruckslosen Gesichter sehen.

So habe ich Nicolai * 1988 - † 2006 kennengelernt. Wir waren grundverschieden, aber es gab etwas, das uns verband – das uns so tief verbindet, dass unsere Freundschaft auch nach unserem Tod bis in die Ewigkeit reichen und schließlich mit ihr verschmelzen wird: Unsere Sehnsucht nach Freiheit und Liebe. Er war an seinen Rollstuhl gefesselt und ich an meine Herkunft. Seine Eltern haben ihn in dem Moment aufgegeben, als ein Arzt seine Krankheit feststellte – das war vor seiner Geburt. Wie soll jemand leben, der bereits vor seiner Geburt zum Tode verurteilt wird?
Ich selbst war ein Unfall. Einen Unfall verdrängt man und versucht ihn zu vergessen, doch wenn er einen jeden Tag heimsucht und sich an einen klammert, weil er Angst hat, beginnt man ihn zu hassen. Meine Eltern haben sich nie die Mühe gemacht, mich zu verstehen. Das haben sie mit Nicolais Eltern und wahrscheinlich mit vielen anderen gemeinsam. Und nicht nur mit Vätern und Müttern, sondern auch mit Lehrern, Mitschülern, mit Politikern und Nachbarn.

Ich sage: „Ich möchte irgendwann einmal nach Reykjavik.“
„Warum gerade Reykjavik?“
„Es ist weit genug weg um Freiheit zu bedeuten und um davon träumen zu können.“
„Ich möchte irgendwann einmal fliegen …“
Wir liegen Kopf an Kopf im Gras. Der Rollstuhl steht ein Stück weit entfernt und passt auf, dass wir nicht weglaufen.
Er sagt: „Man muss auch etwas für seine Träume riskieren.“
„Hat man dann eine Garantie, dass sie in Erfüllung gehen.“
„Nein.“
Ich glaube, man sagt Dinge, weil man sich selbst nicht sicher ist, ob sie richtig sind, und deswegen bei Menschen, die einem etwas bedeuten, Bestätigung sucht. Bestätigung nicht nur für seine Meinung, sondern auch für sein ganzes Dasein. Freunde bringen Selbstbewusstsein und wenn man kein Selbstbewusstsein hat, scheitert man daran, sich anderen Menschen anzuvertrauen und sie als Freunde zu gewinnen. Schade.
Ich sage: „Vertraust du mir?“
Er starrt mich überrascht an und denkt nach, während er tief auf meine Seele hinabblickt wie auf einen funkelnden, kristallklaren See.
„Mehr als meinem Verstand.“ Die Art, wie er mich zum Lächeln bringt, ist wunderschön.
„Komm, wir probieren zu fliegen!“, sage ich sanft.
Ich helfe ihm, seine Fesseln anzulegen, und dann setzt sich das ganze Gefängnis in Bewegung. Wenn das Glück nicht zu uns kommt müssen wir es eben finden.
„Schneller – schieb bitte schneller!“
Je schneller ich schiebe, desto mehr verlangsamt sich die Zeit. Die Leute bleiben stehen, drehen ihre Köpfe und schauen uns entgeistert nach, während alle – Tauben, Hunde und sogar Bäume – zur Seite springen und wir plötzlich einen Ausweg sehen. Einfach glücklich sein mit dem was wir haben. Er streckt die Arme aus, während ich so viel von der Frühlingsluft versuche einzusaugen, wie mir irgend möglich ist.
„Ich fliege Snezi!“
„Ich fliege auch Nic. Wir fliegen. Wir fliegen nach Reykjavik!“
Wir sagen das, damit wir die Bestätigung bekommen, dass dieser Moment auch wirklich wahr ist.

Nic hat mich immer Schneeflocke genannt wenn ich traurig war. Mein Name – Snezana – bedeutet übersetzt etwa soviel wie Schneewittchen, aber er meinte, den Namen gebe es schon und ich sei schließlich einzigartig. Er meinte, wenn er einmal sterbe, würde er sich auch in eine Schneeflocke verwandeln und mich jedes Mal, wenn es schneit, besuchen und sich auf meinen Haaren niederlassen, bis er dann schmelzen und wieder in den ewigen Kreislauf eintauchen würde. Seitdem gehe ich immer unter den freien Himmel und halte nach ihm Ausschau sobald es nach Schnee riecht.

Nic hat es dann doch noch geschafft zu fliegen. Er hat mit Kreide Snezi + Nic = Hoffnung auf den Betonboden direkt vor das Hochhaus gemalt und die Worte mit dem wunderschönsten Herz eingekreist, welches ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Es war so schön, weil es nicht mehr darstellte, als es wirklich war: Die Umrahmung für eine Beziehung, die einen Sinn in mein Leben brachte. Niemals aufgeben daran zu glauben, dass das Leben schon seine Richtigkeit und seine guten Seiten hat, und diese Hoffnung an alle weiterzugeben, die sie verlegt haben und nicht mehr alleine wiederfinden. Immer für seine Hoffnungen und Träume kämpfen und lieber bei dem Versuch, sie zu verwirklichen, sterben, als ihnen bis zum Tod, von Ängsten betäubt, nachzutrauern.

Nicolai hatte einen bunten Regenschirm aufgespannt
als er sprang, und als er landete färbte sich der Schirm rot. Am nächsten Morgen, als ich den buttergelben Sonnenaufgang betrachtete, begann es zu schneien.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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