Marlene Wolfback

Carrie

"Kleine Carrie, kleine Carrie, komm her mein Engel", lockte das Biest und das kleine Mädchen sah sich ängstlich um. Ihr kluger Instinkt trieb sie immer schneller voran durch die dunkle Gasse, doch trotzdem spürte sie die hinkende Verfolgerin in ihrem Nacken. Carries Beine waren kurz und die Lackschühchen, die sie trug, taten ihr an den Zehen weh. Die Alte humpelte immer schneller. Sie kam stetig näher, so als wäre sie blutjung und riesengroß.

"Kleine Carrie", krächzte sie wieder und streckte die knochigen Finger aus. Weiße Haut spannte über den Fingerknöcheln. Die Arthritis hatte die Glieder der Alten in Äste verwandelt, die bald zu bersten drohten.

 

Carrie sah immer wieder hastig nach hinten und verlor mehr und mehr das Gefühl für die Straße. Das grobe Pflaster wirkte auf sie bei jedem weiteren wackligen Schritt, als würde sie über Schädel aus Eis balancieren müssen.

"Kleine Carrie", raunte dieses Biest abermals und in dem Moment, als Carrie die Alte durch die eigenen duftenden schwarzen Haare hindurch im Augenwinkel ansah, spürte sie, wie ihr rechter Fuß beim nächsten Schritt auf einen Widerstand traf. Plötzlich schmerzten Carries Zehen, sodass die kleinen Augen sich weiteten und sie aufschreien wollte, doch kein Ton kam aus ihrer Kehle.

Als würde ihr jemand mit einem Gummihammer auf die knöcherne Scheibe des Knies schlagen, klappte ihr Bein zusammen wie eine Ziehharmonika. Carrie fiel auf das Pflaster und klitzekleine, Steine, spitz wie Nadeln, bohrten sich in die Haut ihrer winzigen Hände. Nun kauerte sie, hastig um Luft ringend, am Boden. Um aufzustehen beugte sie sich nach vorn, doch das bisschen Kraft reichte nicht mehr und so sackte sie wieder zusammen.

Tränen liefen über Carries Gesicht, verschleierten ihre Sicht und die Verzweiflung raubte ihr den Atem. Sie wimmerte und spürte, wie sich Panik in ihre Eingeweide fraß. Ihr Hals schmerzte, weil sie doch so tapfer das eigene Kreischen unterdrücken musste. Doch nun atmete sie stöhnend aus und ein Druck wich von ihrer Brust. Dann spürte die Kleine den Atem ihrer Verfolgerin. Ungestüm versuchte Carrie noch einmal sich aufzurichten, doch dieser Gestank zwang sie nieder und brachte sie zum Würgen. Laut heulte Carrie auf, nachdem sie heftig gehustet hatte. Nun resignierte sie und blieb hilflos und stöhnend sitzen, während die Schritte hinter ihr verstummten. Die Pupillen der Kleinen schreckten nach links und rechts, starrten aus weit geöffneten Augen, verletzlich und gläsern. Lange Nägel tauchten auf beiden Seiten von Carries hübschen Köpfchens auf, dann unförmige Fingerglieder, dann die weißliche Haut eines völlig verrunzelten Handrückens.

"Kleine Carrie", flüsterte diese Bestie dicht neben Carries roten, fast erfrorenen, Ohren und als Carrie wieder einatmen musste, roch sie Tod und Verwesung und verlor sich in diesem endlosen Verderben. Carrie schluckte hastig und hustete um nicht noch einmal den Geschmack des Erbrechens auf ihrer Zunge zu spüren. Geräuschvoll sog sie einen tiefen Zug Luft ein und hielt sie an.

Die schmutzigen langen Fingernägel bohrten sich zwischen Augen und Schläfen in die zarte Kinderhaut.

"Kleine Carrie", kreischte die Alte und als die Fingernägel in Richtung der rosigen, feuchten Wangen wanderten, hinterließen sie rote Striemen rechts und links auf Carries rundem Gesicht.

In dem Augeblick, da dieses Aas mit den Händen Carries Haare zurückzog und unaufhörlich ihren Namen säuselte, spürte Carrie ein Ziepen, das sich anfühlte als risse jemand mit einem zu feinen Kamm durch ihr Haar wenn es nass war.

Als die Jägerin dann mit einer der groben Hände den ganzen Schopf des Mädchens umfasste wimmerte die Kleine erneut auf, unfähig sich zu bewegen, widerstandslos verharrend und so angsterfüllt und verzweifelt, dass sie ihrem kurzen Leben ein jähes Ende herbeiwünschte.

Bevor Carrie spüren konnte, dass das Zerren an ihrer Kopfhaut nachließ, hörte sie ein Geräusch, welches ihr bis ins Mark kroch. Als würde irgendjemand hinter ihr ganz langsam ein Stück Papier zerreißen, klang es, als das riesige Messer durch Carries lange Haare fuhr.

Carrie presste die Zähne aufeinander um dem Ekel zu trotzen, der ihr vom Nacken in jede Pore kroch. Wieder wurde der Gestank unerträglich und wieder musste Carrie würgen. Dann hörte sie ein Schmatzen. Es jagte ihr eine Gänsehaut über den kahlen Nacken und ihre Haut tat weh, so sehr zog sie sich zusammen beim Aufrichten der kleinen Härchen zu Speeren.

 

Carrie wollte schon so lange schon weg von diesem Ort und, ganz auf einmal, hinderte niemand sie mehr daran. Sie tat vorsichtig einen Schritt nach dem anderen und erwartete bei jedem ihrer hastigen Atemzüge, dass sie brutal zurückgezerrt wurde und dass diese Bestie ihr weh tun würde. Fast zögerlich, schritt um Schritt, lief sie und drehte sich um. Dann sah sie die Alte.

 

Es schien, als ging dieses Wesen im Dunkel der Nacht unter, als war es eins mit der Finsternis dieser kalten, feuchten Straße. Carrie sah, dass die Alte barfuss war und wie ihre Finger und Hände, waren auch die Füße und Zehen der Bestie völlig entstellt, verkrüppelt und das das weiß-blaue Gewebe, was dort über riesigen Knöcheln spannte mutete wie die glitschige Haut eines Aals an. Narben und Risse klafften wie Krater und diese Landschaft zog sich hin bis zum staubigen Saum ihres schwarzen Rock. Dieser war vor Dreck verkrustet und fast starr. Trotzdem verdeckte er kaum die alten von Krampfadern zerfressenen Schenkeln verdeckte. Doch Carrie sah nicht mehr als den unteren Saum des Rockes. Darüber wucherte nur langes schwarzes Haar, nur langes schwarzes... Als die Alte sich bewegte, wie eine Marionette hin und her wackelte, schien weiße Haut durch die stumpfen Strähnen, die dicht an dem Kopf herunterhingen. Auf Brusthöhe hielt die Alte Carries Zopf in der Hand und die Kleine griff, als würde sie sich vergewissern wollen, in das Nichts hinter ihrem Nacken. Stumm heulte sie wieder los.

 

Die Alte hielt in der einen Hand nun diesen ganzen Zopf, in der anderen hatte sie eine schwarze verfilzte Strähne, die sie dem hübschen Mädchen einfach abgesäbelt hatte. Sie schmatzte und Carrie sah weiter nach oben direkt in das Gesicht, oder in das, was dort auch immer sein sollte. Das Kind hatte Angst doch es musste dieses Biest betrachten, das ihr das angetan hatte. Ihr kluger Instinkt hatte schon lang versagt. Ihr Blick wanderte also nach oben.

Die Haare teilten sich über einer schiefen, dünnen Nase in zwei breite schwarze Meere. Unter den Nüstern, teils von den Loden verdeckt, ein dünner Mund der sich unablässig öffnete und schloss. Weit auseinander stehende gelbe Zähne, die aus fast schwarz-grauem Fleisch standen, tauchten auf und die Alte schmatzte und schluckte, schmatzte und schluckte. Wie mechanisch, führte die krüppelige Hand Strähne um Strähne zu dem stinkenden Schlund.

Carrie war vor Entsetzen zu keiner Bewegung mehr fähig. Bald verschwamm dieses grausige Bild vor ihren Augen und die Kleine wusste nicht: Verlor sie Verstand, Bewusstsein oder gar Beides!?

 

Carrie blinzelt. Sie starrt an die Wand und wagt sich nicht zu rühren. Ihr Wecker piept schrill und droht lauter und lauter zu werden. Endlich kann Carrie sich aus ihrer Starre lösen. Carries runzlige Hand wird schemenhaft von Dunkelheit verhüllt und sie haut in Richtung Wecker. Er verstummt sofort als die fleckige Hand auf die große leuchtende Taste prallt, doch Carrie verzieht trotzdem leidvoll ihr fahles Gesicht. Die Bewegung zum Wecker schmerzt, der Aufprall darauf noch viel mehr. Carrie versucht sich aufzurichten. Sie schiebt ihre Decke beiseite und knipst mit verzerrtem Gesicht den Kippschalter der Nachttischlampe um, die ihr Schlafzimmer auf einen Schlag erhellt. Carrie fühlt sich wie gelähmt, doch hat tatsächlich ihr vertrauter Wecker sie so stark erschreckt? Sie weiß es nicht genau und blinzelt um ihre alten Augen endlich an das grelle Licht zu gewöhnen. Vorsichtig tatstet sie nach der großen Brille und bekommt sie bald zu greifen, nach dem dritten oder vierten Versuch. Das Aufstehen dauert eine Weile, doch dann dreht Carrie sich zu ihrem Bett um, richtet die Decke gerade und blickt auf das Kopfkissen. Weiße Haare schimmern auf dem groben Stoff. Die alte Dame schnauft resigniert. Die Zeit darf nicht so schnell vergehen, bettelt sie oftmals und wünscht sich eine Chance die Zeit nur um ein Weilchen zurückdrehen zu können. Doch diese grausame Welt um sie herum dreht sich beständig weiter und so wird Carrie Tag um Tag und immer öfter auch in der Nacht von ihrem Alter eingeholt.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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