Amelie Sardisong

Ein kleines Weihnachtsmärchen

„Wenn Du heute gehst, zieh einen dicken Pullover unter dem Mantel an, es schneit schon seit Stunden!“ Meine Frau streicht mir besorgt über die Wange und ich kann dem Bedürfnis nicht widerstehen, sie zu küssen bevor ich mich auf den Weg mache. Die Luft ist eiskalt und klar, die Dämmerung naht und ich stapfe mit großen Schritten der Stadt entgegen. Überall leuchten Weihnachtslichter, weihnachtliche Melodien erfüllen die Luft ebenso wie die Gerüche von gebrannten Mandeln, der betörende Duft von Anis und Glühwein steigt mir in die Nase. Ich atme noch einmal tief durch. Mein Platz ist mitten in der Stadt. Heute vielleicht am Brunnen. Viele Kinder tummeln sich dort. Heute ist es besonders unruhig. Ich bin jedes Mal wieder erstaunt, wie viel noch los ist in der Stadt, einen einzigen Tag vor der heiligen Nacht. Ich denke an meine Frau und meine Kinder und schmunzel bei dem Gedanken daran, dass wir die Ruhe auch erst mit den Jahren gefunden haben. Als unsere Kinder noch kleiner waren haben auch wir uns von dem Strudel vorweihnachtlicher Hektik und Unruhe mitreißen lassen. Ich bin voller Vorfreude auf den Abend, denn ich weiß, wir werden in aller Ruhe den Christbaum schmücken. Wir werden die Plätzchen essen, die früher streng verschlossen waren, bis das 23. Kalenderblatt des Dezembers abgerissen wurde. Wir werden Weihnachtsmusik hören und uns von längst vergangenen Weihnachtsfesten erzählen. Wir werden lachen, wenn das Telefon klingelt, wir uns ansehen und wissen, dass unsere Tochter moralische Unterstützung braucht. Wir werden unser ganz spezielles „Vorweihnachten“ feiern und uns auf morgen freuen, wenn die Kinder und Enkelkinder wie die Heuschrecken über uns hereinfallen. Das ist unser besonderes Weihnachten…

Aber zuerst kommt die Arbeit. Ich setze mich einfach auf einen großen Stein vor dem Kaufhaus und schaue eine Weile den an mir vorbeihetzenden Menschenmengen zu, bis sich vorsichtig ein kleines Mädchen an mich herantastet. „Bist Du wirklich der Weihnachtsmann?“ Ich lächle sie an und nicke. „Ja, ich bin der Weihnachtsmann.“ Sie setzt sich auf den Stein neben mir und schaut aus, als grübele sie über irgendetwas. „Weißt Du Weihnachtsmann, ich verstehe das alles nicht. Wieso sitzt Du hier und schaust den Leuten zu, obwohl Du doch so viel Arbeit hast und so viele Geschenke verteilen musst und warum hat Mami nie Zeit, mir zuzuhören?“ Ich muss einen Augenblick über meine Antwort nachdenken. „Schau, ich bin derjenige, der die Geschenke für die Kinder bringt, nicht wahr? Aber die Mami möchte eben, dass die Tage um Weihnachten herum schön werden. Das es leckeres Essen gibt, dass alle schön aussehen, das Weihnachten einfach wunderschön wird.“ „Aber morgen ist doch schon Weihnachten, Weihnachtsmann. Musst Du nicht in der Werkstatt sein?“ „Schau, ich habe das ganze Jahr über Zeit, mich auf den heiligen Abend vorzubereiten und am Tage davor versuche ich ein paar Menschen zuzuhören und zu beruhigen, so wie Dich jetzt. Das kleine Mädchen sieht mich mit großen Augen an. „Ich glaube, Du bist wirklich der Weihnachtsmann. Du hast mir keine Schokolade gegeben und mich nicht gefragt, ob ich schön brav gewesen bin.“ Ein Lächeln umspielt mein Gesicht und ehe ich mich versehe, hat sie mir ein Küsschen auf die Wange gedrückt und ist verschwunden. Manchmal braucht es nur einen guten Zuhörer, einen Ratgeber oder jemanden, der genau das, was von ihm erwartet wird, nicht tut.

Mit der Zeit habe ich ein gutes Gespür für Menschen entwickelt. Es gibt Kinder, wie das kleine Mädchen von vorhin, die noch voller Vertrauen und völlig unbekümmert die Welt entdecken. Es gibt Kinder, die schon in frühen Jahren desillusioniert sind. Es gibt Menschen, die vor lauter Hektik die naheliegensten Dinge nicht mehr wahrnehmen, die verbissen und um jeden Preis glückliche Weihnachten erleben wollen und dabei vergessen, worauf es ankommt. Es gibt Menschen, die mit Weihnachten ohnehin nichts zu tun haben möchten. Es gibt traurige Menschen, verzweifelte Menschen, hoffnungsvolle, glückliche Menschen, erwartungsvolle Menschen, bescheidene Menschen, rücksichtslose und egoistische Menschen, selbstlose und trotz Hektik hilfsbereite Menschen, aber vor allem gibt es Kinder, die auf die kleinen Zeichen im Alltag hoffen, die die einzigen sind, die diese Zeichen sehen und so deuten, wie ihr Herz es ihnen sagt. Für all diese Kinder bin ich da. Jedes Jahr zur gleichen Zeit. Kein konsumfördernder Studentennikolaus, keine in knappe Kostüme gesteckte Nikoläusin, nein, ich. Der Weihnachtsmann, wie die Kinder ihn sehen möchten. Und jetzt gleich gehe ich nach Hause zu meiner Frau und bin voller Vorfreude auf das, was mich dort erwartet…

 

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