Tobias Kühn

Der Schirm

Dem Schirm gefällt es, im Regen zu stehen. Sein Besitzer hingegen wartet ungeduldig auf den Zug, der mit einer halben Minute Verspätung in die Haltestelle rollt. Der Schirm wird zu-sammengeklappt und geschüttelt. Zu kurz, wie er findet. Dann steigt sein Besitzer in den ge-heizten Wagen. Der Schirm tropft. Sein Besitzer setzt sich an ein beschlagenes Fenster. Er, der Schirm, wird unter den Sitz geschmissen.
Sofort kleben Staub und Dreck am nassen Stoff des Schirms. Er hasst das. Offenbar wurde das Abteil seit Wochen nicht mehr gründlich gereinigt. Neben dem Schirm liegen mehrere Erdnüsse und weiter hinten entdeckt er eine schwarz gewordene Bananenschale. Ob das dem Hund nicht stinkt, der hinter der Bananenschale liegt, fragt sich der Schirm, der Hunde sowieso weder mag noch versteht. Ein Hund, etwas grösser als der hier, hat ihn einmal ge-packt und mehrfach gebissen.
Dann wird über Lautsprecher der nächste Halt angekündigt. Der Schirm weis, dass er und sein Besitzer gleich aussteigen werden. Er freut sich, denn im Regen wird er wieder aufgespannt, er kann sich dann endlich vom Staub und Dreck des Bahnwagens erholen.
Der Zug hält, der Besitzer des Schirms steigt aus. Der Schirm hingegen erschrickt: Er liegt nach wie vor auf dem dreckigen Wagenboden. Wurde er etwa vergessen weil es aufgehört hat zu regnen? Er kann zwar nicht aus dem Fenster sehen, es dünkt ihn aber, dass der Hund ver-dächtig mit dem Schwanz wedelt.
Der Zug erreicht die Endstation, die restlichen Passagiere steigen aus. Der Hund schaut den Schirm beim Vorbeigehen verächtlich an. Dann drängen neue Menschen in den Wagen. Ihr Schuhe sind trocken, das merkt der Schirm sofort.
Der Zug fährt an, eine Frau, ausser Atem, setzt ich auf den Sitz, unter dem der Schirm liegt. Wird sie ihn finden? Mit aller Kraft versucht der Schirm, einen letzten Tropfen an ihr Bein zu spritzen. Und siehe da: Die Frau erschrickt, bewegt sich, tritt auf den Schirm und ist jetzt neu-gierig, was sich unter ihrem Sitz befindet. Der Schirm ist gerettet.
Bei der übernächsten Station steigen sie aus. Der Regen hat wieder eingesetzt, die Frau spannt den Schirm mit einem verschwörerischen Lächeln auf. Der Schirm will jetzt nicht mehr zurück zu seinem ehemaligen Besitzer und schon gar nicht will er ins Fundbüro.
Die Frau will das auch nicht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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