Frank Hornscheidt

Mondenkinds Fluch


 
Erwachen
Ein junges Mädchen saß auf einem Felsen. Der kleine See hinter ihr speiste einen Wasserfall, dessen Wassermassen mit getöse in die Tiefe rauschten. In ihrem Haar waren Blumen gebunden und Ihr Kleid war lang und weiß. Stickereien mit Blumenmustern banden sich in einem Gürtel um ihre Taille und eine Adlerfeder spielte zwischen ihren Fingern. Ihr dunkles Haar bauschte sich im Wind als sie, mit einem Lächeln im Gesicht, hinab auf den stillen See blickte.
Nach einer Weile band sie Ihr Haar zu einem gleichmäßigen Zopf und flocht ein rotes Band am Ende hinein als sie aufstand.
Langsam ging sie den steilen und engen Pfad hinab, der herunter zum See führte. Sie summte versonnen ein trauriges Lied vor sich hin als sie den Fuß des Berges erreichte. Ein leichter und feuchter Nebel aus dem auf spritzenden Wasser des Falls benetzte ihre Haut als sie den Weg entlang des Flusses fand.
Ein winziger Kerl kam ihr entgegen, kaum drei Ellen hoch. Von der Gestalt her ein Wanderer in einfacher lederner Wanderkluft. Ein kleiner Stab war an seiner Seite und ein langes Pfeifchen in seinem Mund, aus der es munter qualmte. Ein Lächeln auf seinem Gesicht begrüßte das entgegenkommende Mädchen. Die für das winzige Männlein große Knubbelnase gab ihm ein lustiges Aussehen, welches von den dunklen Augen freundlich unterstützt wurde.
„Holla, schöne Maid.“, grüßte sie der Winzling und hob seinen ledernen Hut zum Gruße.
„Guten Abend, kleiner Mann“, entgegnete sie dem nettem Gruß und ihre Stimme klang wie Silber. Neugierig schaute sie den kleinen Mann an, der kaum ein Mensch sein konnte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl diesen Zwergling zu kennen, doch ihr wollte nicht in den Sinn kommen woher sie ihn wohl kennen mochte.
Der kleine Mann blieb stehen und lächelte sie freundlich an.
„Ward Ihr auf dem Adlerfelsen hoch dort droben, junge Maid?“ fragte er sie mit einem Blick auf die Adlerfeder mit der ihre Finger noch spielten. Sein freundliches Wort und die seltsame Vertrautheit die sie spürte ließ sie ebenfalls anhalten.
„Ja, mein Herr“, antwortete sie und strich mit den Fingern über die lange stolze Feder, „Ihr kommt mir seltsam bekannt vor, mein Herr. Haben wir uns bereits gesehen?“
Ihre Neugier war in den hübschen großen grünen Augen so unübersehbar, dass der kleine Mann lachen musste: „Ja, mein Mädchen. Ich kenne Euch sehr gut, aber ihr habt mich bestimmt noch niemals gesehen, den ich komme von weiter Ferne.“
Diese Antwort steigerte ihre Neugier noch mehr, und ließ ihr Gesicht rot aufglühen: „Woher wollt Ihr mich kennen, mein Herr, wenn Ihr noch nie bei uns im Dorf ward?“
Sogar das Spiel mit der Feder geriet ins Stocken als sie den Fremden erwartungsvoll ansah und sich auf einen großen Stein am Wegesrand setzte. Sie warf ihren Langen Zopf über die rechte Schulter auf den Rücken. Nun, da sie saß, war das Gesicht des Winzlings mit ihr auf Augenhöhe und sie bemerkte wie alt und erfahren der kleine Mann aussah. An seinen Bäckchen hatten sich tiefe Grübchen gebildet, was bewies, dass er ein sehr fröhliches Wesen haben musste.
„Nun, junge Maid. Ich kannte Eure Mutter sehr gut. Wir haben viele Abenteuer zusammen bestritten und waren manches mal nur sehr knapp dem Tod entronnen. Ich war auch bei Eurer Geburt anwesend und hab Euch in meinen Armen gehalten und gewogen.“
Der Mann lächelte und ließ ein paar kleine Rauchwölkchen aus seinem Mund frei, die sich lustig in die Höhe schraubten und dann im Wind vergingen.
„Meine Mutter?“, meinte das Mädchen mit glockenhellem Lachen, „Meine Mutter hat das Dorf niemals verlassen. Sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Ihr müsst mich also verwechseln, kleiner Herr.“
„Nein nein.“, antwortete dieser, nachdem er einen weiteren tiefen Zug aus seinem Pfeifchen genommen hatte, „Ich meine Eure wahre Mutter, und nicht Eure Ziehmutter, mein Kind.“
Das Mädchen blinzelte verwirrt und ihre Stimme klang erschreckt. Ihre Augen waren weit geöffnet und die schmalen dunklen Brauen zu einer Frage verzogen: „Wie meint Ihr dies? Ich habe doch nur die eine Mutter?“
„Nein, meine Kleine. Ihr seid die Tochter von Abendstern. Ich brachte Euch in dieses Dorf und übergab Euch Eurer Mutter vor zehn und sechs Jahren. Ich bin Mireen, der Gnom, und es ist nun für Euch an der Zeit Eure wahre Herkunft zu erfahren, wenn Ihr es wollt. Allerdings muss ich zugeben, dass es eine traurige und schmerzvolle Geschichte ist, die Ihr natürlich nicht hören müsst, wenn Euch der Willen dagegen steht.“
Ein trauriger Blick schleicht sich in das Gesicht des Gnomes und Tränen schimmern in seinen Augen, als seine Gedanken in die vergangenen Zeiten streifen.
Das junge Mädchen zitterte, und die Neugier war Angst und Unglauben gewichen als es endlich mit leiser Stimme sprach: „Ich glaube Euch nicht, Herr Gnom. Ich bin hier geboren und meine Mutter ist Esther die Bäckerin und mein Vater Marken der Bäcker. Wie kann ich einer anderen Kind sein? Ihr müsst mich verwechseln, kleiner Mann!“
Schnell stand sie auf und lief mit schnellen Schritten ins Dorf. Der Winzling blieb allein an dem Stein zurück auf dem sie gesessen hatte. Mit einem Seufzer kletterte er selbst auf den Stein. Tränen kullerten über seine Wangen und tropften mit leichtem Plätschern herab. Der Gnom holte ein kleines weißes Tuch mit silbern besticktem Rand aus seiner Tasche, rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte sich dann die von Trauer verstopfte Nase.
Dann stand auch er auf und wanderte wie unter schwerer Last gebeugt zum Dorf.
Das Mädchen war gerade bei der Bäckerei ihres Vaters eingetroffen. Der lange Lauf hatte sie ermüdet, aber die Frage die in ihrem Kopf brannte war wie ein Höllenfeuer so stark. Mit einem ächzen öffnete sie die schwere Türe zur Backstube, in der ihre Mutter und ihr Vater bei ihrem Handwerk waren.
„Mutter, Mutter!“, rief sie laut und rannte zu der kleinen dicklichen Frau, die im Herd das Feuer schürte. Dieselbe lächelte fröhlich als ihre Tochter hereinstürmte und nahm sie sofort in ihre kräftigen Arme.
„Was ist denn mein Liebling?“, fragte sie erstaunt als sie den Schrecken in dem Gesicht ihrer Tochter erkannte.
„Ich bin draußen einem kleinen Mann begegnet, einem Gnom wie er sich nannte – Mireen. Er hat mich erschreckt und wirres Zeug geredet, davon dass Du Mutter gar nicht meine wahre Mutter wärst Oh, er hat mich sehr erschreckt, Mutter.“
Eng schmiegte sich das Mädchen in die Arme ihrer Mutter und drückte sie fest an sich. In den Augen ihrer Mutter war Entsetzen zu sehen und auch ihr Vater legte sein Handwerk beiseite und blickte entsetzt auf seine Tochter als sie den Namen des kleinen Mannes erwähnte. Schnell ging er zum Fenster und blickte heraus. Als er niemanden erblickte ging er eilig zur Türe und versperrte sie mit einem großem Riegel.
Tränen benetzten die Augen ihrer Mutter, doch das Mädchen konnte dies nicht sehen, weil sie sie über ihre Schulter blickte und die enge liebevolle Umarmung genoss.
Die Wahrheit
„Er sagte die Wahrheit, Thia“, sagte die Bäckerin und ihrem Gesicht war immer noch das Entsetzen anzumerken, welches sich ihrer bemächtigt hatte als sie den Namen Mireen gehört hatte, und der Vater warf seiner Frau einen bösen Blick zu.
„Das kann nicht sein! Habt Ihr mich mein ganzes Leben lang belogen?“ schrie Thiala auf und riss sich aus der Umarmung der Mutter. Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf und kurz schien das Haus wie unter einem Erdbeben zu wackeln. Verwundert und erschreckt blickte der Vater auf die schwankende Deckenleuchte und den langen Riss in der Holzplanke auf die seine Tochter getreten hatte, welche selbst sehr verdutzt über das seltsame Zusammenspiel des Bebens und ihres Tritts war.
„Wir hätten es Dir bestimmt bald erzählt, aber wir haben gehofft wir hätten noch mehr Zeit gehabt.“, fuhr die Mutter fort, „Dein Vater und ich, wir können keine Kinder bekommen. Es war vor etwa 16 Jahren, als in einer dunklen Winternacht dieser winzige Mann auf unserer Schwelle stand. In seinen Armen trug er ein kleines Bündel. Das warst Du.“
Das Mädchen setzte sich wieder auf einen Schemel am Ofen. Tränen von Wut und Hilflosigkeit liefen ihre sanften Wangen hinab und schweigend hörte sie Ihrer Mutter zu. Ihr Vater, der Bäckermeister, setzte sich auf einen anderen Schemel neben sie, nachdem er die Brote aus dem Ofen geholt hatte, und wollte ihre linke Hand in die seine nehmen, aber sie entzog sie ihm sofort. In seinen Augen war Scham aber auch große Liebe zu ihr zu erkennen
„Der kleine Mann nannte sich Mireen. Er musste wohl in der Taverne von unserem Problem gehört haben – jedenfalls wusste er darum, dass wir keine Kinder zeugen können. Du wärst ein ganz besonderes Kind und deine Eltern seien beide zu früh zu Ihren Ahnen gegangen hat er gesagt.“
Da die Mutter abgebrochen hatte um sich einige Tränen aus den Augen zu wischen erzählte der Vater weiter:
„Der Winzling nahm uns einen Schwur ab, dass er Dich wenn er denn einer Zeit wiederkommen würde mit sich nehmen dürfe. Damals haben wir diesen Schwur nicht so ernst genommen, aber nun ist er wieder da. Ein Schwur ist ein Schwur und Esther hat recht. Wir müssen Dich mit ihm gehen lassen, obwohl ich mir nichts schlimmeres vorstellen kann als Dich, mein Kind, zu verlieren.“
Mutlos blickte der Vater die Tochter und seine Frau an.
„Und wenn ich nicht will?“, fragte das hübsche Mädchen trotzig, doch der Vater lächelte nur traurig und von Herzschmerz erfüllt: „Er wird annehmen, dass wir unseren Schwur nicht erfüllen wollen, und Dich vielleicht auch gegen Deinen Willen mitnehmen, mein Kind.“
Thiala blickte zu Boden: „Eigentlich müsste Ich Euch nun hassen, weil ihr mich mein Leben lang über meine Herkunft in dem Glauben gelassen habt, dass Ihr meine wahren Eltern seid.“ Dann blickt sie liebevoll ihre Zieheltern an: „Aber ich liebe euch viel zu sehr um euch dafür zu hassen. Um eure Ehre nicht zu beschmutzen werde ich mit dem Gnom gehen, aber auch um mehr über meine wahren Eltern zu erfahren.“
In diesem Moment klopfte es drei Mal kurz an der Türe.
„Das wird er sein. Ich werde öffnen“ meinte der Vater, stand auf und öffnete die Türe. Im Rahmen stand Mireen, der Gnom. In der rechten Hand hielt er seinen Hut und sein roter wilder Haarschopf leuchtete im Licht der tief stehenden Sonne.
„Einen guten Abend, Herr Bäcker.“ , sprach Mireen, während er sich verbeugte.
„Guten Abend Mireen. Wir haben Euch bereits erwartet“, meinte der Vater traurig und ließ den Gnom eintreten. Dieser grüßte auch die Damen mit einem höflichem Kopfnicken.
„Es ist an der Zeit.“ war das einzige was er sagen konnte, während er auf das junge Mädchen mit dem dunklem Haar blickte und ihm auffiel wie sehr sie ihn an ihre wahre Mutter und ihren wahren Vater erinnerte.
Ihre Zieheltern küssten sie und packten schnell ein paar notwendige Dinge für sie ein, darunter auch etwas Gebratenes vom Vortag und ein ganzes Brot mit etwas Butter.
„Komm Thiala, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“ lächelte nun Mireen das Mädchen an, welches den gestopften Rucksack kaum heben konnte, also fügte er noch hinzu: „Gebt mir Euren Rucksack und nehmt Ihr den meinen. Der ist viel leichter.“
Das Mädchen brummte trotzig und nahm die Hilfeleistung des Winzlings nicht in Anspruch. Mit einem Ächzen hob sie den Rucksack auf ihren Rücken. Noch einmal verabschiedete sich Thiala von ihren Eltern und folgte dem kleinem Mann, welcher sich seinen Hut wieder aufgesetzt hatte und ins Abendrot marschierte. Er hatte eine kleine Flöte aus seiner Tasche genommen, auf der er nun ein pfiffiges Wanderlied trällerte.
Am Anfang musste sich das junge Mädchen oft noch zu ihrer Heimatstadt umdrehen. Sehnsüchtig blickte sie über die goldenen Auen, welche im Abendrot goldrot glimmten und versuchte in der Entfernung die kleinen Häuslein der Bewohner zu entdecken.
Als der Sonne letzten Stahlen hinter den Berggipfeln im Osten versank errichtete der Gnom ein einfaches Lager unter einem großem Baum am Wegesrand. Er sammelte Zweige und Steine. Mit den Steinen erbaute er eine kunstvolle und zweckdienliche Feuerstelle, die er dann mit den Zweigen füllte und sie mittels eines Schwefelholzes entzündete.
„Wohin werden wir gehen, Gnom?“ brummte Thiala unwillig und rieb ihre schmerzenden Schultern. Mireen grinste nur und fachte das kleine Feuer an. Als es gut angegangen war setzte er sich neben sie und stopfte sich seine kleine Pfeife mit dem langem Stiel.
„Es ist noch sehr weit. Etwa acht Tagereisen wenn wir gut voran kommen. Das Gebiet nennt man E´iakka oder das Tal der Nadelfelsen.“ antwortete er endlich auf ihre Frage und entzündete sich sein Pfeifchen mit einem brennendem Ast aus der Feuerstelle.
Sie blickte ihn kalt und verärgert an als sie an den kurzen beschwerlichen Weg dachte, den sie hinter sich hatten und dann an den langen noch vor ihnen liegenden. Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt. Dann sprach sie die Frage aus, die sie seit dem frühen Abend am meisten plagte: „Wer sind meine wahren Eltern?“
Der kleine Mann blickte sie eine zeitlose Weile an und zog ein kleines Medaillons an einer goldenen Kette aus einer inneren Tasche seiner Weste. Das Medaillon war etwas verbeult und ein langer Kratzer reichte von einem Ende zum anderen. Jemand hatte kunstvoll versucht es notdürftig auszubessern. Thiala untersuchte das Ding genau und fand schnell heraus, dass man es öffnen konnte.
Im Inneren waren zwei Bilder, das eine von einem jungen Mann und das andere von einer sehr hübschen jung aussehenden Frau mit langem roten Haar. Das Mädchen kramte einen kleinen Spiegel aus ihrem Rucksack und verglich sich mit den Gesichtern. Ihr Haar war das des Mannes und das Gesicht war dem der Frau sehr ähnlich.
„Wer waren sie?“ fragte sie nun sehr neugierig. Die Kälte war etwas aus ihrer Stimme gewichen, was Mireen mit einer schnellen Antwort belohnte: „Sie nannte sich Stern, der junge Mann ist ihr Gemahl. Er stammte aus einer edlen Familie weit im Nordwesten, und sie ...“, er stockte kurz, “sie war die Tochter einer Elbin aus hohem Haus.“
Thiala wendete das Medaillon immer wieder in ihrer Hand. „Bin ich vom fürstlichem Blut, Herr Gnom?“ fragte sie dann neugierig.
Mireen schmunzelte: „Wenn Ihr es so wollt – Ja. Aber Ihr seid noch etwas viel wertvolleres als nur von edlem Blut. Eure Mutter wird in den alten Sagen und Prophezeiungen auch Abendstern genannt. Einige haben sie auch fälschlich 'Mondenkind' genannt, aber das Mondenkind seid Ihr, Thiala.“
„Mondenkind?“ fragte Sie mit großen runden Augen, „Wegen dem mondförmigen Mal?“
„Auch deswegen, mein Kind.“ erwiderte Mireen mit einem Lächeln, und klopfte seine Pfeife an einer Baumwurzel aus.
Thiala blickte den Kleinen neugierig an: „Und weswegen noch?“
Mit einem Schmunzeln erwiderte dieser: „Es gibt auch für Dich eine Prophezeiung – oder besser: Die Prophezeiung spricht nicht nur von deiner Mutter, aber ich bin nun Müde und wir haben noch einen langen Weg vor uns. Wir sollten jetzt schlafen.“
Ohne auf das verärgerte Gesicht von Thiala Rücksicht zu nehmen knautschte der Winzling seinen Rucksack unter seinem Kopf zusammen und schloss die Augen, während die Sonne hinter den Fernen Berggipfeln verschwindet.
Auf Wanderschaft
Das Wetter hatte sich zum schlechten gewandelt als Thiala und Mireen am frühen Morgen aufbrachen. Zuerst waren nur wenige Tropfen gefallen, doch nach wenigen Minuten goss es in Strömen. Trotz ihrer Ölmäntel waren die beiden schon nach kürzester Zeit vollkommen durchnässt.
Thiala hatte damit begonnen kräftig über das Wetter und Mireen zu fluchen, der sie aus ihrem Heim verschleppt hatte, doch der Gnom grinste nur amüsiert und stampfte mit stetigen Schritten voran. Nach einer Weile gab sie es dran. Der Weg hatte sie an einen dichten Wald geführt, den der kleine Mann ohne auf zusehen betrat.
Durch das dichte Blätterdach drang kaum ein Tropfen auf den schmalen Weg, und Thiala wrang erst einmal ihren nassen Haarschopf aus.
„Wann machen wir endlich halt, Zwerg?“, fragte sie den Winzling wütend, „Ich hab Hunger und bin völlig durchnässt!“
Mireen lächelte sie an und meinte ruhig: „Wir kommen gleich an ein Rasthaus. Dort können wir uns trocknen und auch etwas essen.“
Dann stapfte er weiter raschelnd durch das fast trockene Laub am Boden und begann ein lustiges Liedchen zu pfeifen. Das Liedchen vertrieb Thialas Ärger gegen ihren Willen und ließ sie nach kurzer Zeit mit trällern.
Zusammen pfeifend erreichten sie endlich das genannte Rasthaus, welches nichts weiter als eine kleine Hütte am Wegesrand war. Vor der Hütte saß an alter Mann mit weißem Haar und einem langen Bart, der aus einer langstieligen Pfeife rauchte und kleine Ringe in das Blätterdach blies.
„Seyd willkommen, Wanderer“, begrüßte der Alte die zwei freundlich und dampfte noch einen größeren Ring in die Luft, „Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“.
Mireen lächelte, verbeugte sich leicht vor dem alten Herrn und antwortete: „Wohl Dir Meister. Wir hoffen, dass Ihr etwas zu Essen und zu Trinken für uns habt. Auch müssen wir unser Habe trocknen, welches vom Regen völlig durchnässt ist.“.
Der Greis lächelte erfreut: „Natürlich werdet Ihr das Gesuchte hier erhalten. Kommt herein.“
Thiala und der Gnom betraten die kleine Hütte. Wie zu vermuten war bestand die Hütte nur aus einem einzigem Raum, der zugleich Küche, Schlafgemach und Esszimmer war. In dem kleinem Kamin brannte ein flackerndes Feuerchen, aus dem der Alte mit einem Schürhaken einen großen und glühend heißen Lehmklumpen herausholte. Thiala staunte nicht schlecht als der Mann den Ton mit seinem Haken entzwei schlug und darunter ein duftender Leib Brot erschien.
„Ihr seht, Ihr kommt gerade recht für ein frisch gebackenes Brot.“ grinste der Greis und befreit das Brot von den Tonscherben. Dann holt er von einem Regal einen großen Topf voller Schmalz und stellt ihn auf den kleinen Tisch auf dem auch das Brot lag.
Das Mädchen und Mireen ließen sich nicht zweimal bitten und langten kräftig zu.
Als beide gesättigt waren setzen sie sich vor der Hütte in das weiche Waldgras, wo Mireen drei Äpfel aus seiner Tasche holte und sie in die Luft warf. Zu Thialas Erstaunen blieben sie vor dem Gnom in der Luft stehen und drehen sich dann langsam im Kreise.
„Wie machst Du das?“ fragte sie neugierig den kleinen Mann.
„Ein wenig Zauberei. Sozusagen etwas für Anfänger“, antwortete der Winzling und drückte auch Ihr einen Apfel in die Hand
„Zauberei oder Magie ist im Grunde sehr einfach. Du kannst das auch.“
„Ich? Niemals – ich kann nicht zaubern“, wehrte sie ab und wollte den Apfel schon zurückgeben, aber Mireen hatte die Hände schon vor sich zusammengefaltet und dachte nicht daran den Apfel zurückzunehmen.
„Du bist das Mondenkind. Natürlich kannst Du es. Du wirfst ihn in die Luft und lässt ihn einfach nicht wieder runter fallen. Du musst einfach nur wissen, dass er nicht wieder runter fallen kann.“
„Ich weiß aber, dass er runter fallen wird.“, erwidert sie wütend. Der Gnom blickt sie tadelnd an: „Meine Äpfel fallen doch auch nicht, oder?“
Tatsächlich schienen seine Äpfel in der Luft einen lustigen Tanz auszuführen und sie schwirren schwere los um die beiden herum und hüpften freudig hin und her. Der kleine Mann zückte nun seine Flöte und spielte, wobei die herum sausenden Äpfel nun im Takt der Melodie herumtanzten.
„tue es einfach“, grinste er sie an und steckte die Flöte wieder ein. Die Äpfel sprangen wie auf einen Befehl hin wieder nacheinander in seine Tasche.
Misstrauisch beäugte sie ihren Apfel und warft ihn in die Luft. Als er wie erwartet zu Boden plumpste war sie enttäuscht, aber Mireen nahm ihn und drückte ihn Ihr wieder in ihre Hand: „Übung macht den Meister. Du glaubst doch nicht, dass ich das auf Anhieb konnte.“
Zu ihrer und wohl auch Mireens Überraschung segelt der Apfel beim zweiten Wurf schon sanft wie eine Feder herunter.
„Du bist wahrhaftig das Mondenkind, Thiala. Ich habe Jahrzehnte gebraucht um die Grundlagen der Magie zu erlernen. Wirf ihn noch einmal.“, meinte der Gnom und wirkte irgendwie erschreckt.
Sie warft den Apfel abermals hoch in die Luft, wo er dann wie angenagelt stehen blieb.
„Unglaublich!“, meinte Mireen mit fassungslosen Gesicht und starrte erst auf den Apfel und dann auf Thiala, „Ich wusste ja, dass Du Talent dafür hast, aber so schnell – das ist schon fast unheimlich.“
„Ich weiß gar nicht wie ich das mache ..“, murmelte Thiala verstört. Kaum hatte sie dies gesagt viel der Apfel zu Boden und zersprang in zwei Teile.
Der Greis hatte die Spielchen mit großen Augen mitverfolgt, aber keinen Ton gesagt. Jetzt nahm er ein Pfeifchen aus einer Tasche und entzündete es: „Wahrlich wahrlich..“, meinte Er während er an seiner Pfeife , „Es ist schon eine seltsame Zeit. Erst die vielen Fledermäuse und jetzt ein zauber kundiges Kind an meinem Haus.“
„Fledermäuse?“, fragte Mireen interessiert.
„Ja, tausende. Sie kamen aus dem Osten. Riesige Viecher sag ich euch.“, bestätigte der Alte und ein aufmerksamer Beobachter hätte ein grausiges Erschrecken in Mireens Gesicht auf blitzen sehen. Thiala kaute aber ihren gesplitterten Apfel und beachtete Mireen und den Alten nicht.
„Es ist doch noch viel zu früh...“, murmelte Mireen leise.
„Verzeiht, mein Herr“, wandte sich Mireen an den Alten, „wisst Ihr wo wir uns hier in der Gegend ein paar Reittiere kaufen können?“
„Hmm... gleich im nächstem Dorf gibt es einen Bauern, der Pferde züchtet, aber Ich würde Euch davon abraten. Der Bauer ist ein schierer Geizhals und nimmt ein Wuchergeld für seine Tiere.“, antwortete der Alte nach kurzer Überlegung.
„Habt Dank“, bedankte sich Mireen und drückte dem Alten ein paar Münzen in die Hand, „Wir müssen nun weiter ziehen bevor es völlig dunkel wird.“
Thiala blickte unwillig auf, aber Mireen stapfte schon los, und ihr blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Schnell schulterte sie ihre Sachen und folgte ihm.
„Kann man den Rucksack eigentlich auch mit Zauberei hinterher tragen lassen?“, fragte sie den Winzling neugierig und rückte den Rucksack zurecht.
„Das Problem ist, dass du dann immer daran denken musst, dass er dir folgt. Wenn Du dies auch nur kurz vergisst vergisst er dich auch.“, beantwortet Mireen die Frage.
Thiala hatte das Gefühl, dass sich die Dunkelheit hier im Wald viel schneller ausbreitete als es gestern der Fall war.
„Seid Ihr ein Magier, Mireen?“, fragte sie in der Dämmerung des Blätterdachs.
„Wenn Du es so nennen willst“, antwortete der kleine Mann mit spitzbübischen Lächeln und rückte seinen Rucksack etwas zurecht, „Magie nennen es die Menschen, die nicht wissen dass es im Grunde keine Magie ist. Ich bin nur ein einfacher Wandergnom. Ich liebe es zu singen und zu musizieren und fremde Länder zu besuchen. Vor langer langer Zeit habe ich allerdings einen großen Fehler gemacht, den es noch zu korrigieren gilt. Damals hätte man mich wirklich Magier nennen können.“
Als er dies gesagt hatte war ein unbestimmter Schmerz in sein Gesicht gekrochen, und der letzte Satz ließ keinen Zweifel offen, dass das Wort „Magier“ ein Schimpfwort war. Thiala traute sich nicht ihn weiter zu fragen und stapfte in eigene Gedanken versunken hinter drein.
Die Prophezeiung
Noch bevor die Dunkelheit ein weiterkommen unmöglich machte erreichten die beiden Wanderer müde das kleine Dorf, von dem der Alte am Rasthaus gesprochen hatte. Das örtliche Gasthaus war nur ein heruntergekommener Schuppen mit einem fetten und dreckigen Wirt, aber da es keine andere Unterkunft im Ort gab fügten sie sich ihrem Schicksal und verbrachten die Nacht dort.
Als der Morgen graute weckte Mireen Thiala mit einem Lied, welches er auf einer winzigen Harfe zupfte:
Wohl dem Morgen,
der vertreibt die Sorgen,
lasst uns wandern gehn,
und uns die Welt ansehn,
bis bald graut die Nacht,
dann wird Halt gemacht.
Wir suchen die Ferne,
schaun an die Sterne,
und rufen den Mond,
der am Himmel tront
wir schlafen mit Wonne
bis kommt die Sonne.
Als sie die Augen öffnet sieht sie ihn an dem Fußende ihrer Schlafstatt im Schneidersitz sitzen und die kleine Harfe wieder einpacken.
„Guten Morgen, Thiala. Sag, kannst Du eigentlich reiten?“, fragte der Gnom das Mädchen, welches sich den Schlaf aus den Augen reibt. Sie antwortete mit einem Schulternzucken: „Ich habe es noch nie versucht.“
Der Winzling grinste breit und nahm sie bei der Hand: „Dann werdet ihr es jetzt versuchen, denn zu Pferde werden wir viel schneller vorankommen.“
Ohne, dass sie etwas erwidern konnte zerrte er sie hinter sich her, wobei sie etwas gebückt gehen musste, weil er so klein war. Er führte sie zu einem bierbäuchigen Bauern mit einer roten Nase. Hinter dem Bauern war eine kleine umzäunte Koppel, auf der ein paar junge Pferde standen. Ein riesiger Hund lag gelangweilt vor dem Gatter und wedelte mit dem Schwanz.
„Herr Bauer. Wir benötigen zwei Reittiere für unsere weitere Reise. Was könnt Ihr uns anbieten?“ fragte Mireen den etwas trunkenen Mann, welcher plötzlich ein breites Grinsen zeigte.
„Nun, ich habe nur die besten Pferde der Gegend, kleiner Herr. Schaut sie Euch an, eines ist besser als das andere.“ antwortete der Mann und konnte ein Kichern nicht unterdrücken als er daran dachte wie der Gnom wohl auf einem Pferd aussah, welches dreimal so hoch war wie er selbst.
Mireen beachtete das Kichern nicht und schaute sich die Pferde an. Zu Thiala sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln: „So Kind, wählt Euch eines aus.“
Thiala war nicht schlecht erstaunt als er dies sagte. Vorsichtig ging sie von einem Tier zum nächsten und streichelte ein jedes. Das Schwarze mit dem weißen Streifen in der Mähne hatte es ihr sofort angetan. „Dies möchte ich gerne“, meinte sie und zeigte auf das junge Tier. Der Gnom nickte und wandte sich wieder an den Bauern.
„Werter Herr, was wollt ihr für den Schwarzen haben?“ fragte er ihn und zeigte auf das Pferd, welches augenscheinlich auch Thiala sofort ins Herz geschlossen hatte.
Der Bauer rieb sich die Hände und meinte: „Nun, wegen dem kleinen Fräulein möchte ich nur zwanzig Goldstücke dafür. Sie hat ein gutes Auge, denn es ist wahrhaftig mein schönstes Tier.“
Mireen lächelte und zeigte auf den Hund vor dem Gatter: „Ich gebe Euch die zwanzig Goldtaler, wenn ich den Hund und einen Sattel obendrein bekomme, obwohl ihr mit dem Preis wirklich ein wenig übertreibt.“
„Was wollt Ihr denn mit dem Hund anfangen?“, fragte der Bauer verdutzt, doch bevor Mireen antworten konnte fügte er schnell hinzu: „Aber mir soll es recht sein. Gebt mit zwanzig und ihr könnt den Hund, den Schwarzen und einen meiner alten Sattel haben.“
Der Winzling langte in eine seiner vielen Manteltaschen und zählte darin zwanzig Münzen ab, die er dem Bauern in die Hand drückte: „So soll es sein. Hier habt Ihr Euer Entgelt. Holt bitte den Sattel, denn wir wollen baldigst aufbrechen.“
Der Bauer steckte das Gold ein und ging um den Sattel zu holen.
„Werdet Ihr mit mir auf dem Pferd reiten, Mireen?“, fragte Thiala verwundert darüber, dass er nur ein Pferd erkauft hatte. Der Gnom ging zu dem Hund und tätschelte seinen Kopf vorsichtig. Dann antwortete er mit einem Grinsen im Gesicht: „Nein, der Hund wird mich tragen. Wir Gnome reisen normalerweise auf Wölfen, aber dieser Hund hier ist ein großes Tier und wird der Sache sicherlich auch gerecht.“. Der Hund blickte Mireen schief an als hätte dieser den Verstand verloren, aber der Winzling kraulte ihn hinter den Ohren und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als der Hund aufstand zog sich der Gnom hinauf und streichelte ihn. Als der Bauer mit einem alten und vom Gebrauch verkratztem Sattel wieder kam traute er seinen Augen nicht. Thiala nahm ihm den Sattel ab, während er nur mit offenem Mund den kleinen Mann auf dem Hund anstarrte.
Als hätte sie es nie anders gemacht legte Thiala den Sattel auf und band die Riemen fachgerecht zusammen. Mireen betrachtete mit erstaunen auf seinem Hund sitzend die fachmännische Arbeit des Mädchens: „Nun, es schaut aus, als hättet Ihr dies gerade nicht zum ersten Mal gemacht, Mädchen.“
„Oh? Ist es richtig so?“, Thiala strahlte vor Freude und kletterte geschickt auf ihren Schwarzen. Wie eine Amazone saß sie auf dem Pferd und streichelte seinen Hals, „Und was muss ich jetzt tun?“
Mireen lächelte: „Mit den Füßen kannst Du es antreiben und mit den Zügeln halten und lenken. Versuch es.“
Thiala tippte leicht mit ihren Fersen gegen den Bauch des Pferdes, welches gehorsam los trabte. Ein wenig nach links, ein wenig nach rechts und angehalten – es klappte auf Anhieb.
„Ihr verwundert mich von Tag zu Tag mehr, Thiala, und mich verwundert wirklich nicht mehr viel.“ meinte Mireen lobend.
So zogen sie weiter, den ihnen nach starrenden Bauern hinter sich lassend. Die Straßen in Richtung Osten waren nun breiter und besser beschaffen. Mireen legte mit seinem Hund das Tempo vor und Thiala folgte ihn in kurzem Abstand.
„Wie sind meine Eltern gestorben, Mireen?“, fragte Thiala den kleinen Mann auf dem Hund.
„Das ist eine etwas komplizierte Geschichte, die eine Menge an Vorrede erfordert, mein Kind“, brummte der Gefragte und blickte traurig drein. Doch dann fuhr er fort: „Deine Mutter hat noch versucht ihren Gemahl, deinen Vater vor seinem Schicksal zu bewahren, indem sie ihn durch ein Weltentor stieß, welches die Welt der Dämonen und Dunkelheit von der unseren trennt. Doch auf der anderen Seite wurde er von einem alten Elb hoher Abstammung mit dem Namen Caranthir geköpft. Das Schicksal ist schon eine seltsame Sache, meine Liebe.“
Mireen wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht als er weiter sprach: „Stern, deine Mutter wurde von den dämonischen Horden überrannt, denen sie Einhalt gebieten wollte, doch kurz vor Ihrem Tod versiegelte sie das letzte Weltentor, durch welches sie Ihren Gemahl, Euren Vater, zu retten versuchte.“
„Meine Eltern wurden von Dämonen gejagt?“ fragte sie verwirrt und erschreckt.
„Ja, mein Kind. Es war ihre Prophezeiung – ihr Schicksal.“, seufzte Mireen und blickte stur geradeaus, „Aber jetzt habe ich genug von diesen vergangenen traurigen Dingen geredet.“
„Wie lautet der Name meines Vaters?“ fragte das Mädchen in Gedanken versunken, und Mireen antwortete „Cireas, war sein Name, Cireas de Circonce. Die Grafschaft seines Bruders liegt weit im Nordwesten – ein schönes Land.“
„Ich habe also einen Onkel?“, die Aussicht einen wahren Familienangehörigen zu treffen lies sie wieder lächeln, und sogar der Gnom musste schmunzeln als er in ihr neugieriges Antlitz blickte.
„Ja, das habt Ihr wohl. Caronas ist sein Name. Er ist ein kluger Mann, Euer Onkel. Wenn wir unsere Aufgabe erledigt haben können wir ihn gerne besuchen.“
„Unsere Aufgabe?“, fragte das Mädchen, doch der Winzling sagte nur „Aye“, blickte irgendwo in den östlichen Himmel und schien über wichtigere Dinge nachzudenken.
Thiala holte das kleine Medaillon hervor, öffnete es, und betrachtete die Bilder eingehend, während sie mit dumpfen Pochen der Hufe über eine kleine hölzerne Brücke ritten.
Erste Anzeichen
Die beiden Gefährten ritten bis spät in die Nacht, wo sie dann alsbald auf einer Wiese am Wegesrand halt machten. Der volle Mond beleuchtete mit seinem bleichem Licht die weite Landschaft als plötzlich eine große Anzahl an dunklen Schatten am Himmel zu sehen waren. Mireen blickte von seiner gerade bereiteten Feuerstelle auf und gen Himmel. Thiala folgte seinem Blick und entdeckte den riesigen Schwarm fliegender Kreaturen. Trotz der Entfernung waren sie gut zu erkennen, was nur heißen konnte, dass sie von ziemlicher Größe sein mussten.
„Was ist das, Mireen?“, fragte sie mit den Augen an dem schwarzem Schwarm geheftet.
„Fledermäuse?“, antwortete der Gnom eher fragend, aber sie spürte, dass er mit Sicherheit wusste was am Himmel vorbei flog.
„Fledermäuse? So große?“, drang sie stärker auf ihn ein, „Solche Fledermäuse gibt es doch gar nicht.“.
„Hmmm“, sagte der Winzling nur, und kümmerte sich wieder um die Errichtung des Feuers und fügte dann an: „Sammle Du bitte alles Holz, was Du hier finden kannst. Meine kläglichen Reste werden nicht lange halten.“
Sie tat wie er sagte und sammelte trockene Zweige von den vereinzelten Büschen, welche die einzige Vegetation in dieser Gegend zu sein schienen. Die Äste waren voll mit Dornen und als sie endlich wieder am schon prasselndem Feuer ankam war sie mit vielen, teils noch blutenden, Kratzern übersät. Seltsamer Weise bekam der Gnom einen Schreck als er die harmlosen Kratzer erblickte. Schnell holte er ein kleines Töpfchen aus seinem Rucksack, welches wie Thiala nun sah eine braune Salbe enthielt. Er bestrich die Wunden mit kurzen Blicken in den Himmel mit der wohltuend kühlen Salbe ohne auch nur ein Wort zu sagen.
Das Bluten hatte sofort aufgehört und statt des leichten Juckens spürte Thiala ein Kribbeln, dort wo sich die Wunden vor ihren Augen wieder in glatte und unberührt weiße Haut verwandelten.
„Tolle Salbe, Mireen“, lächelte sie den Winzling an, der immer noch angespannt in den dunklen und jetzt leeren Himmel starrte und nicht darauf antwortete.
„Was habt Ihr?“, fragte sie nun etwas beunruhigt.
„Nichts.“, brummte er nur und zog ein dünnes in Leder gebundenes Buch aus seinem Rucksack und blätterte darin. Das Mädchen wagte einen Blick über seine Schulter, konnte aber mit den unzähligen, eckigen Schriftzeichen auf dem vergilbtem Papier nichts anfangen.
Der kleine Mann wanderte mit seinem Finger von rechts nach links über eine Stelle und in seinem Gesicht zeichnete sich langsam ein grimmiger Schatten ab. Als er dann das Buch wieder zuklappte stand er auf: „Wir müssen weiter, Mädchen. Schnell!“
Mireen pfiff nach dem Hund, der sich auf Kaninchenjagd begeben hatte. Gehorsam hüpfte der große Hund mit weiten Sprüngen aus der Dunkelheit heran und rieb sich an Mireens Seite, der ihn auch prompt streichelte und hinterm Ohr kraulte. Als könne der Hund ihn verstehen sagte der kleine Mann: „Wir müssen weiter, Jeruf.“. Der Angesprochene wuffte kurz als hätte er verstanden und ließ den Gnom aufsteigen.
Thiala hatte auch ihr Pferd erstiegen. Sie hatte den Hengst Chakka genannt, worauf Mireen sie seltsam erstaunt angesehen hatte. Der Gnom war allerdings nicht besonders redselig gewesen in letzter Zeit.
Sicher führte sie Jeruf, der Hund, wieder über die fest gestampfte Straße als sie auf eine kleine Stadt trafen. Sie schien gut bewacht zu sein und die Tore waren geschlossen. Als sie näher kamen konnte das Mädchen feststellen, dass einige Wachen mit ihren Köpfen zu Himmel schauten und ihre Hände griffbereit an ihren Schwertern oder Hellebarden hielten. Ein Mann mit einem rot bemalten Helm trat an sie heran.
„Wer seyd Ihr, und was wollt Ihr?“, fragte der Mann in einem seltsamen Akzent und ziemlich schroff.
„Wanderer sind wir. Mein Name ist Mireen und meine Begleiterin wird Thiala geheißen. Wir suchen eine sichere Unterkunft für die Nacht.“, erwiderte Mireen freundlich und verbeugte sich auf seinem Hund tief vor der Wache, die etwa auf Augenhöhe mit dem Gnom war.
„So seyd Willkommen, Wanderer. Es ist gut, dass ihr die sichere Stadt aufsucht, denn dort draußen sind in letzter Zeit schlimme Dinge passiert. Ihr habt nicht zufällig irgend etwas ungewöhnliches auf Eurem Ritt bemerkt?“, sagte die Wache jetzt deutlich freundlicher. Die letzte Frage war allerdings mit zusammengekniffenen Augen gestellt worden, als sei sie eine Prüfung.
„Wir haben einen seltsamen dunklen Schwarm am Himmel gesehen, aber sonst war alles ruhig.“, sagte Thiala obwohl Mireen sie warnend anblickte. Doch der Wächter schien beruhigt zu sein.
„Ja. Wir beobachten die Schwärme auch schon eine Weile. Es war nicht der erste müsst Ihr wissen. Die Alten halten sie für Fledermäuse, aber ich bin mir da nicht so sicher. Sie sind eindeutig viel zu groß für einfache Fledermäuse.“, sagte die Wache und schrie laut: „Öffnet das Tor!“.
Mit lautem Knirschen öffnete sich das Tor ein Stück, so dass die beiden Wanderer hindurch reiten konnten. „Gehabt Euch wohl, mein Herr.“, lächelte Thiala die Wache an bevor sie durch das Tor ritt. Die Wache nickte freundlich und blickte wieder gen Himmel.
Die Straßen der Stadt wirkten kalt und verlassen. Das Gasthaus war leicht zu finden, denn aus seinem Inneren war lautes Gejohle und Geschrei zu vernehmen. Außerdem war es um diese Zeit eines der wenigen Häuser in denen noch Licht brannte. „Zum Wanderer“ war über dem Eingang ein Schild angeschlagen. Als die beiden das Haus betraten drang ihnen der süßliche Geruch von Bier und Wein in die Nase. Laut stritten sich ein paar Wachen an einem Tisch beim Würfeln und Trinken.
Mireen kletterte geschickt auf einen hohen Hocker an der Theke, während das Mädchen sich auf dem Hocker neben ihm nieder setzte.
„Guten Abend, Herr Wirt. Wir hätten gerne ein Zimmer und etwas zu trinken. Ihr habt nicht zufällig Zwergenschwarzbier?“, fragte Mireen den dicklichen, freundlich drein blickenden Wirt mit seiner weißen Schürze.
„Ja wohl, mein kleiner Herr. Wir haben alles was Euer Herz begehrt.“, erwiderte der Wirt und füllte zwei große Humpen mit einer dunklen Flüssigkeit aus einem riesigem Fass. Mireen lief das Wasser im Mund zusammen als der Krug vor ihn gestellt wurde: „Das ist wahrlich das beste was meine Vettern in den Bergen erfunden haben!“. Er nahm einen tiefen Schluck des schwarzen schaumigen Gebräus und seine Augen leuchteten verzückt. Das Mädchen nippte kurz an der bittersüßen dunklen Brühe und grinste.
„... sie waren völlig zerfetzt! Was für ein Tier kann das nur gewesen sein?“ hörte sie eine der Wachen, die auch an der Theke saßen sagen. Der Gesprächspartner der Wache – ein alter Mann in einer schäbigen Rüstung – zuckte mit den Schultern: „Es sind seltsame Zeiten. Habt Ihr auch die rätselhaften Schwärme im Himmel gesehen, die bei Nacht über die Lande ziehen?“
„Meint Ihr, dass sie damit zu tun haben? Hamdark war ein guter Mann, den so schnell nichts gefährlich werden konnte. Erinnert Ihr Euch noch an die Schlägerei letzte Woche? Da hat er Mindall das fürchten gelernt. So schnell bringt nichts Hamdark um, und doch ist von ihm und seiner Familie niemand mehr am Leben.“
Thiala zuckte erschreckt zusammen und lauschte weiter, während Mireen genussvoll sein Bier schlürfte und wohl nichts anderes mitbekam.
„In Tornheim sollen auch schon einige solche Vorfälle passiert sein.“, flüsterte der Alte in der schäbigen Rüstung laut genug, dass Thiala es verstehen konnte, „Dort hat man überall große Ölfeuer entzündet um das Böse fernzuhalten. Die Alten dort sagen, dass dunkle Zeiten angebrochen sind und gebieten den Bewohnern sich abends in ihre Häuser einzuschließen.“
„Wahrhaftig?“, fragte die Wache erschrocken, „Waren dort auch diese Schwärme zu sehen?“
„Ja wohl. Sie kamen immer bei Nacht und versetzten die ganze Stadt in Angst und Schrecken. Ich war wirklich froh, als ich die Stadt verlassen hatte dies hinter mir zu lassen, aber hier scheint es auch nicht anders zu sein.“, antwortete der Alte und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Humpen.
Mireen hatte seinen Humpen bis auf den letzten Tropfen geleert und schielte auf Thialas angefangenen Krug: „Meine Liebe, schmeckt Euch dieses Bier nicht?“. Sie schob es zu ihm herüber und lächelte etwas ängstlich: „Nehmt ruhig, Mireen.“. Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen.
Nachdem auch ihr Bier von dem Gnom vertilgt worden war ließ dieser sich den Schlüssel zu ihrem Zimmer geben und führte das Mädchen hinauf.
Das Zimmer war einfach aber sauber. Vier Betten standen an den Wänden, und Thiala wählte schnell dasjenige am Fenster. Wohlige Müdigkeit überfiel sie als sie sich aufs Bett legte und sie bekam nicht einmal mehr mit wie sich Mireen ein Lager vor ihrer Schlafstatt auf dem Boden errichtete und mit Jeruf im Arm noch eine ganze Weile wach da lag und durch das Fenster in die dunkle Nacht blickte.
Dunkles Erwachen



„Nein!“, schrie eine junge Frau mit langem rotem Haar, „Cireas!“. Der Angerufene lag geschunden am Boden. Seine ehemals glänzende Rüstung hing in Fetzen und er blutete aus unzähligen von scharfen Klauen gefetzen Wunden. Über ihm thronte das grauenvolle Antlitz eines riesigen schwarz ledernen Ungeheuers mit ausgebreiteten fledermausartigen Schwingen.
„So denn, Wächterin der Tore, ist dein Gemahl dahingegangen!“, dröhnte die kaltkratzige Stimme des Unwesens der Frau entgegen, „Du wirst ihm bald folgen, Glaube mir!“.
Die Frau starrte das Ungeheuer voller Hass und Trauer an. Große weiße Schwingen staken aus Ihrem Rücken und das schwarze Blut vieler gefallener Dämonen klebte an ihren Händen. Mit einem Aufschrei fuhr sie dem Ungetüm entgegen, trieb ihre Faust fast mühelos in den ledernen Körper der Kreatur und entriss ihr etwas. Das Wesen zerfiel auf der Stelle zu Staub, der fast schwerelos zu Boden sank.
Dann nahm sie den am Boden liegenden Ritter auf und warf ihn mit einer gewaltigen Anstrengung durch einen großen eisernen und senkrecht stehenden Ring. Darin waberte eine schwarze undefinierbare Masse, in der der Mann mit einem schmatzendem Geräusch verschwand. Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht hielt sie das Metall des Ringes mit beiden Händen als weitere dieser Kreaturen aus der Dunkelheit heran flatterten. Ohne sich um die Gefahr zu kümmern schien sie mit etwas unsichtbarem zu kämpfen und ein lauter Aufschrei entfuhr ihr, als das schwarze Tor plötzlich durchsichtig wurde.
Aber es war zu spät. Die Feinde waren heran. Voller Bosheit stürzten sie sich in wahrer Übermacht auf die Frau und begruben sie unter sich.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen als Thiala aus ihrem Alptraum mit einem lauten Aufschrei erwachte. Mireen, der vor ihr auf dem Boden sein Nachtlager hatte stand fast sofort aufrecht und kampfbereit vor Ihr. Als ihm bewusst wurde, dass sie nur geträumt hatte seufzte er und setzte sich neben sie.
„Meine Eltern! Ich habe von ihnen geträumt, Mireen.“, sagte sie atemlos. Kalter Schweiß lag auf ihrem Körper und Gesicht, den Mireen mit einem weißen Tuch weg tupfte Der Gnom lächelte sie an und strich ihr sanft über das Haar. „Es war augenscheinlich kein schöner Traum, Kind.“, flüsterte er behutsam, als Thiala bitterlich zu weinen anfing.
„Ich habe ihren Tod gesehen – ich habe ihren Tod gesehen“, schluchzte sie und umarmte den kleinen Mann voller Furcht.
„Es ist bald Morgen, Kleines. Lass uns etwas zu essen besorgen gehen. Danach wird es Dir etwas besser gehen, bestimmt.“, meinte er sanft und ließ die Umarmung geschehen.
Die Taverne war menschenleer als sie hinunterstiegen und in die Küche schlichen. Mireen fand einen Laib Brot und auch etwas Honig, und bereitete Ihr ein kleines Mal. Thiala aß langsam und blickte den Gnom an. „Du warst nicht dabei“, stellte sie fest.
„Nein, Mädchen, das war ich nicht. Ich hatte Dich in meiner Obhut um Dich zu verstecken. Ich glaube auch kaum, dass ich ihnen hätte helfen können. Ich wäre nur abermals gestorben.“, erwiderte der Winzling von Trauer erfüllt.
„Was sagt die Prophezeiung über mich, Mireen?“, fragte sie. Mireen lächelte: „Die Prophezeiung sagt, dass Du es bist, der die Tore vernichten kann. Sie sagt, dass Du die einzige bist, die es kann.“
„Warum?“, war das einzige was sie heraus brachte.
„Weil es das Schicksal so will. Die Prophezeiung ist bisher zur Gänze eingetreten, und niemand betrügt die Vorsehung. Es steht geschrieben, dass dunkle Schwärme über das Land ziehen und Tod und Verwüstung bringen. Im Tal der Nadelfelsen wird die Entscheidung fallen.“
„Was ist im Tal der Nadelfelsen?“ fragte sie zitternd.
„Das große Tor der Welten, sozusagen der Vater aller Weltentore. Es heißt Sturmfänger.“
„Und ... und wenn ich nicht dorthin gehe?“
„Dann wird der große Krieg beginnen. Dämonen gegen die Wesen dieser Welt. Niemand weiß was dann passieren wird oder wer gewinnen wird.“, meint Mireen bleich und traurig.
Thiala schwieg, zog ihre Nase hoch und blickte den kleinen Mann mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an. Auch der Gnom schwieg, und so saßen sie bestimmt einige Minuten dort, bis der Wirt in der Küche erschien.
„Heda! Was macht ihr hier? Ihr habt hier nichts zu suchen!“, grunzte der Mann grimmig und schlaftrunken. Ohne ein Wort brachte Mireen den Wirt mittels zweier blitzender Silberstücke zum schweigen und ließ in still aus der Küche in sein Wohngemach verschwinden.
„Es ist Eure Entscheidung, Thiala.“, meinte er dann mit gesenktem Kopf, „Ich kann Euch dorthin führen und gewissermaßen etwas darauf vorbereiten, was Euch erwarten wird, aber die Entscheidung müsst Ihr selbst treffen.“
„Ich ...“, sagte sie plötzlich, „Ich werde nach Hause gehen. Ich bin kein Krieger und auch kein Magier, ich bin ein Kind. Ich kann ja kaum meinen Rucksack tragen, geschweige denn gegen Dämonen kämpfen. Sollen das die tun, die es vermögen.“
Thiala wandte sich von Mireen ab und stieg die Treppe in ihr Gemach hinauf, in dem sie dann ihre sieben Sachen packte und sich reisefertig machte. Mireen folgte ihr wortlos.
„Werdet Ihr mich zurückbegleiten, Mireen?“, fragte sie den Gnom.
„Ja, ich bin es Euch schuldig.“, erwiderte dieser und packte nun auch seine Sachen zusammen.
Als sie dann die Stadt verlassen wollten stießen sie auf eine große Menschenmenge, die sich um das Eingangstor versammelt hatte, welches sie gestern durchschritten hatten.
„Was ist da los?“, fragte Thiala einen aus der Menge.
„Alle Wachen sind tot! Sie sind völlig zerfetzt worden und ihre Köpfe wurden mit ihren Lanzen an das Tor genagelt.“, erwiderte der Mann, der kreidebleich dem Schauplatz des Schreckens entfliehen wollte und gleich darauf die Straße in die Stadt hinunter rannte.
Da sie durch das Tor mussten blieb ihnen keine Wahl. Hinter den schreckensbleichen Stadtbewohnern bot sich ein Bild des Grauens. Es war wie der Mann gesagt hatte. Überall am Boden lagen Körperteile der Wachen herum, und an der Innenseite des Tores waren die Köpfe der Nachtwachen mit ihren eigenen Speeren durch das jeweils linke Auge an das Tor genagelt worden. Bis auf den blutigen Schriftzug in einer fremden Sprache, der über den Köpfen angebracht war wies keines der Körperteile eine Blutlache auf.
„Was steht da, Mireen? Kannst Du es lesen?“, fragte Thiala, welche Kreidebleich vor dem Antlitz des Schreckens stand, den Gnom. Dieser erwiderte nur: „Da steht: Wir kommen.“. Plötzlich erkannte das Mädchen den Kopf der gestern noch unter dem rot bemaltem Helm gesteckt hatte unter den angenagelten und fiel ohnmächtig vom Pferd.
In ihrer Bewusstlosigkeit überkam sie eine Vision: Sie schwebe weit über einer riesigen Stadt der Menschen und konnte ihre Schreie sogar bis hier herauf hören. Große schwarze Wesen, die von hier oben wie Leichentücher aussahen vielen über die Menschen der Stadt her und töteten einen jeden, dessen sie habhaft werden konnten. An vielen Stellen waren große Totenfeuer zu sehen und dunkle Rauchsäulen staken gen Himmel. Das Wasser des nahen Flusses hatte sich blutrot gefärbt. Eine seltsam vertraute Stimme rief zu ihr: „Mondenkind! Mondenkind! Hilf uns!“. Ein einsamer Priester in seinen weißen Gewändern strauchelte durch die von Leichen gesäumten Gassen. Trotz der sicheren Ferne konnte sie sein Leid spüren. Aber da war noch etwas anderes – Hoffnung?
„Mondenkind, hilf uns!“ rief der Mann in den Himmel.
Als sie hin und her schaukelnd wieder erwachte war die Stadt schon nicht mehr in Sicht. Mireen hatte sie an ihr Pferd gebunden und sie waren schon lange wieder auf dem Weg zu dem Wald aus dem sie gekommen waren.
„HALT!“, schrie sie aufgebracht. Der Gnom, der voraus geritten war und ihr Pferd am Zügel führte hielt sofort an und hüpfte von seinem Hund. Dann nahm er die Seile von ihren Beinen.
„Verzeiht, Thiala, aber ich dachte wir sollten schnellstens aus der Stadt verschwinden. So habe ich ...“, wollte er erklären, wurde aber unsanft von Ihr unterbrochen:
„Wir müssen zurück!“, rief sie.
„Was? Warum?“, fragte Mireen erstaunt.
„Ich habe meine Meinung geändert“, sagte sie, „wir müssen zum Tal der Nadelfelsen und dem ein Ende bereiten wenn wir es können.“. Eine nie vernommene Kraft sprach in ihrer Stimme mit und ihre Augen funkelten. Den Gnom war es nicht anzusehen ob er sich freute oder es in ihm Schmerzen hervorrief.
„So reiten wir zurück, Mondenkind.“, lächelte er und schwang sich wieder auf Jeruf, seinen Hund.
Im Galopp erreichten sie wieder in die Stadt, gaben Ihren Reittieren eine kurze Ruhepause und beschafften sich noch genug Proviant für die weite Reise. Dann ritten sie wieder den Weg entlang in die ungewisse Zukunft.
Der Postreiter
Sie waren nun schon Stunden geritten, und die Sonne stand schon weit im Osten als sie endlich eine kleine Hütte am Wegesrand fanden. Japsend schlürfte Jeruf aus der Pferdetränke vor der Behausung, welche sich als Poststation entpuppte. Der Postwirt war ein großer dürrer Mann in mittlerem Alter. Die Landschaft war noch karger geworden als schon zuvor, und nur selten waren auf der kahlen Steppe kleine Büsche zu sehen. Dafür wurde alles zusehends sandiger und auch heißer.
„Morgen werden wir die Wüste durchqueren“, brummte Mireen müde und sah Thiala zu wie sie ihr Pferd an die Tränke führte. Auch sie war müde und geschafft. Alle Knochen im Leib taten ihr weh von dem vielen ungewohnten Reiten, und sie wollte nicht an Morgen denken. Kein einziger Mensch war ihnen auf ihrer Reise von der Stadt begegnet.
„Seyd gegrüßt, Wanderer“, begrüßte sie der Postwirt, „Es ist schön, nach so langer Zeit wieder Wandersleut zu sehen. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht ich sei nur noch allein auf dieser Welt.“
„Wie kommt Ihr zu dieser Annahme, Herr Postmann?“, fragte der Gnom erstaunt den Mann.
„Schon seit einer Woche ist kein Postreiter mehr hier durchgekommen – und auch keine andere Seele“, seufzt der Wirt und weißt begrüßend auf die Stube, „Es ist als hätte man diesen Weg und mich völlig vergessen.“
„Das ist wahrlich seltsam“, bestätigt Mireen, während er die Hütte betritt. Thiala folgt ihm gähnend und setzt sich drinnen an den einzigen Tisch, als draußen laute Pferdehufe zu vernehmen war. Ein junger Mann stürmte kurze Zeit später in die Stube. Sein blondes Haar war vom Schweiß und Wind zerzaust und verklebt. „Postwirt! Ich brauche ein frisches Pferd! Schnell!“, rief er laut und außer Atem, während draußen ein dumpfes Geräusch zu vernehmen war, als das zuschanden gerittene Pferd den Boden unter den Füßen verlor.
Der dürre Mann rannte schnell hinaus um eines der Pferde von der Koppel zu holen und für den Ritt fertig zumachen.
„Tigor?“, sprach Thiala aufs äußerste erstaunt aus und sah den Reiter ins Gesicht.
„Thiala?“, sagte der Reiter gleichsam erstaunt und blickte das Mondenkind an.
Sie war die erste, die eine andere Reaktion als ein überraschtes Gesicht machte. Sie umarmte ihn plötzlich und küsste ihn ungestüm. „Tigor! Ich habe Dich furchtbar vermisst – wohin bist Du so plötzlich verschwunden?“
„Dass ist eine lange Geschichte, schöne Thiala. Wie geht es deinen Eltern, ist alles in Ordnung? Und was machst Du hier eigentlich?“, fragte der Jüngling und gewann nur langsam an Fassung. Langsam und mit sanfter Gewalt riss Tigor das Mädchen von seinem Körper und sah sie an: „Du bist wahrhaftig noch schöner Geworden, als Du es ohnehin schon warst.“. Er lächelte und blickte Mireen abschätzend an, „Ist dieser Knirps dort dein Begleiter?“
„Ja, den Eltern ging es noch gut, als wir los zogen,“, erwiderte sie,“ aber wo warst Du? Ohne Dich zu verabschieden warst Du plötzlich nicht mehr da. Selbst deine Eltern wussten nicht wo Du hin verschwunden bist.“
„Natürlich wussten sie es, denn sie haben mich ja nach Tornheim losgeschickt. Ich sollte das Schmiedehandwerk erlernen, aber die Schmiede in Tornheim wollten nichts von mir wissen. So bin ich nun Postreiter geworden.“, berichtete Tigor, „Aber lange wohl auch nicht mehr. Tornheim ist fast völlig verwüstet, und der Graf hat mich entsendet um Truppen dieser Stadt zur Hilfe anzufordern.“
„Du wirst dort kein Glück haben, junger Mann.“, sagte Mireen plötzlich, „ Denn auch diese Stadt wird von unheimlichen Kreaturen angegriffen. Erst heute morgen hat man alle Nachtwachen tot aufgefunden.“. Thiala nickte mit bleichem Gesicht als die Erinnerung wieder kam.
„Ich muss es trotzdem versuchen, denn schließlich hat der Graf von Torn selbst mich beauftragt. Seyd Ihr auf dem Weg nach Tornheim?“. Mireen nickte, „Ja. Tornheim ist unser nächster Reiseaufenthalt.“
„Nun denn werde ich Euch bestimmt einholen. Ich muss nun weiter reiten und die Nachricht übermitteln, wie es mir aufgetragen wurde.“, erwiderte Tigor und rannte nach draußen, wo der Postwirt das frische Pferd schon gesattelt und aufgezäumt hatte. In Windeseile sprang Tigor auf, spornte das schwarze Pferd sofort an und verschwand bald in der Ferne.
Thiala seufzte laut und ging wieder in die Hütte. Der Wirt hatte soeben etwas kalten Braten vom Vortag aufgetischt und zwei Becher mit Wein auf den Tisch gestellt. Mireen saß, sein Pfeifchen rauchend, auf einem der Stühle vor dem Tisch. Sie setzte sich auf den freien Platz am Tisch und aß von dem Braten. Beide sprachen lange Zeit kein Wort miteinander.
Als die Sonne schon untergegangen war und nur flackernder Fackelschein die Stube beleuchtete meine Mireen: „Kommt Thiala, wir wollen etwas ruhen, bevor wir morgen weiter ziehen.“
Sie stand auf und folgte ihm ins Dachgeschoss. Die Poststube war nur spärlich auf Gäste eingerichtet, so hatte Mireen aus Heu und Decken zwei Schlafplätze geschaffen. Nur ein winziges Fenster ohne Glas gewährte den Blick nach draußen. Ein Gewitter schien in der Dunkelheit aufzuziehen und in der Ferne zuckten schon die ersten Blitze. Thiala fröstelte es und sie kuschelte sich schnell in ihre Decken, als der erste noch leise krachende Donner zu vernehmen war.
Der Gnom legte sich auf sein kleines Lager und starrte noch lange an die riedbedeckte Decke, bevor ihn endlich der Schlaf übermannte.
„Sie ist es! Die die uns geheißen wurde!“, hörte das Mädchen im Schlaf eine finstere Stimme, „Das Mondenkind.“. Die Stimme klang kalt und kratzig und schien direkt über ihr zu schweben. Eine andere nicht weniger finstere Stimme stimmte dem Vorredner zu: „Sie ist es. Sollen wir sie gleich töten?“. Die andere Stimme erwiderte: „Nein. Wir müssen es IHR sagen. SIE wird wissen was zu tun ist.“. Thiala wagte es erst die Augen zu öffnen, als sie spürte wie die Kälte und finstere Gegenwart der Wesen verschwunden war. Regentropfen schleuderten durch das kleine Dachfenster ins innere und befeuchteten den Boden darunter. Alles schien ruhig und das Gewitter schien weiter gezogen zu sein. Sie ergriff vorsichtig Mireens Schulter, der neben ihr sanft schlummerte.
Wie von einer Nadel gestochen stob er auf und sein Stab lag kampfbereit in seinen Händen, als er erkannte, dass sie ihn geweckt hatte: „Was habt Ihr, Thiala?“
„Ich hatte ... einen seltsamen Traum, Mireen, aber ich weiß nicht ob es wirklich nur ein Traum war.“, sie schauderte während sie dies sprach und ihm dann von Ihrem Erlebnis berichtete.
„Das ist gar nicht gut...“, seufzte der Gnom und setzte sich neben sie, „Das heißt sie wissen nun, dass Du existierst, und sie werden Dich suchen.“
„Glaubst Du, dass es die Dämonen waren?“, fragte sie die Antwort schon wissend.
„Ja.“, erwiderte der kleine Mann, „Und es ist egal ob sie wirklich hier waren oder nur in deinen Gedanken, Kind. Sie werden es IHR sagen und SIE wird ihre Heerscharen auf die Suche nach Dir entsenden.“
„Wer ist Sie?“, fragte Thiala den Winzling, der dieses Wort wie einen Fluch ausgespuckt hatte.
„SIE ist die Anführerin der Horden, die über dieses Land herfallen werden und schon hergefallen sind. Sozusagen die Großmeisterin der Dämonen.. Sie ist der höchste und gleichzeitig gefährlichste Dämon von der anderen Seite der Tore. Ich wette, dass sie Dich lebendig haben will. Deshalb haben sie uns auch nicht angegriffen.“
„Warum lebendig?“, fragte das Mädchen erschreckt.
„So wie wir unsere Prophezeiungen haben, so haben auch die Dämonischen Prophezeiungen. Ich weiß leider nur sehr wenig über die andere Seite, aber soweit es mir bekannt ist wird in diesen Prophezeiungen davon gesprochen, dass Du Dich auf die Seite der dämonischen Heerscharen stellen wirst um ihnen den Weg zu bereiten, wenn SIE deiner habhaft wird.“, erklärte der Gnom.
„Die andere Seite? Du meinst die andere Seite des Weltentores. Was ist dort?“, fragte Thiala.
„Dort ist ein Land wie das unsere. Nur dort haben die Dämonen die Herrschaft übernommen und melken das Volk wie Vieh. Sie brauchen das Blut um zu überleben. Nur wenige zehntausend der dortigen Völker sind noch am Leben, denn die Brut hatte dort grausam gewütet. Sie hungert dort, und dieses Land wird ihnen frisches Blut zum Überleben geben. Deshalb wollen sie hier eindringen, aber Stern, deine Mutter, hat alle Tore verschlossen. Doch sie werden nicht für alle Zeit verschlossen bleiben, und mir scheint, dass mindestens eines bereits wieder geöffnet wurde.
Es wird nicht mehr lange dauern bis der Krieg beginnt.“
Mireen machte ein betrübtes Gesicht als würde eine große Schuld auf ihm lasten und seufzte laut.
„Du kannst doch nichts dafür, kleiner Mann. Wir werden alles tun was möglich ist um sie aufzuhalten, nicht wahr?“, lächelte das Mädchen den Gnom aufmunternd an.
„Ja, das werden wir. Ich hoffe nur, dass es nicht schon zu spät ist.“, seufzte der Winzling und legte sich wieder hin. Thiala tat es ihm gleich und schließlich schliefen beide wieder ein.
Am frühen Morgen ritten sie weiter Richtung Tornheim. Wie der Gnom gesagt hatte mussten sie nun eine Wüste durchreiten. Unendlich schienen sich die sandigen Hügel im Horizont auszubreiten. Jeruf gab mit einem kurzen Bellen zu verstehen, dass es ihm gar nicht gefiel in diese trostlose Öde Landschaft zu reiten, und auch Chakka schien sich kurz gehen diese Richtung zu wehren. Die frühe Sonne brannte schon erbarmungslos herunter, und Thiala mochte sich gar nicht vorstellen, wie es erst um die Mittagszeit sein würde. Der Weg war nach kurzer Zeit nur noch an den in unregelmäßigen Abständen aufgestellten Pfählen zu erkennen und unterschied sich ansonsten nicht von dem trostlosem Sand im Rest der Wüste.
Mireen hatte seinen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen, und auch Thiala hatte mit dem großen Kopftuch ihr Gesicht verdeckt, denn der teils heftige Wind trug Sand mit sich, der offene Haut wie mit Nadelstichen traktierte. Jeruf jammerte mit einem Winseln wegen der Hitze des Sandes. Mireen war dann kurz abgestiegen und hatte seine Pfoten mit Tüchern verbunden, die er mit kurzen Stricken an den Knöcheln fest band. Ihm hinter das Ohr kraulend hatte sich der Gnom bei dem Hund entschuldigt, dass ihm das erst so spät eingefallen war. Chakka schien der glühend heiße Wüstensand nichts auszumachen. Trotzig stapfte er voran als wäre ihm alles egal, wenn er nur aus dieser wabernden Hitze entkommen könnte.
Endlich waren in der Ferne hohe Felsen auszumachen. Die wabernde Hitze der Wüste ließ das Bild der Felsen ungenau, schlierenartig und unwirklich erscheinen. Sie näherten sich nun einer fast senkrechten Felswand, die sich hoch in den Himmel erstreckte, als hätten Die Götter einen tiefen Fußabdruck hinterlassen, in dem die beiden Wanderer nun gefangen waren.
Als sie den Fuß der Felswand erreichten erschien es Thiala als hätte sie das Ende der Welt erreicht. Der schroffe kahle Fels war nicht erklimmbar, das war klar.
„Und jetzt? Da kommen wir doch nie herauf.“, seufzte sie mutlos und blickte die Augen mit einer Hand abschirmend in den Himmel.
„Warts ab, Mädchen.“, grinste der Gnom und schrie laut „Hohoo“ in den Himmel. Nach einer kurzen Pause schrie er dies abermals. Dann blickte er sie grinsend an und setzte sich in den Sand, der Dank vorspringender Felsen im Schatten lag.“Und was nun?“, fragte sie die Schultern zuckend, als sie auch schon ein leises, seltsam quietschendes Geräusch über sich hörte. Ein großer Korb senkte sich von oben herab, den sie zuvor irgendwie nicht erblickt hatte.
Es war für Thiala ein wahrhaftiges Abenteuer in dem laut quietschenden Korb in die Höhe gezogen zu werden. Interessiert schaute sie herab, wie die Dünen kleiner und kleiner wurden. Sie mussten noch in zwei andere Körbe umsteigen um die Kante zu erreichen, wo sich Thiala ein befremdlicher und wundersamer Anblick bot.



Der Dämonentöter
„Das ist Tornheim, die Stadt des Grafen von Torn.“, lächelte Mireen und zeigte auf die wundersame Stadt, die nah am Rande der Klippe errichtet worden war. Hunderte kleiner gelber Zwiebeltürmchen ragten daraus gen Himmel, deren mit Blattgold verzierte Dächer im Schein der Abendsonne hell schimmerten. Die gelblichen Mauern waren mit vielen kleinen blattförmigen, goldleuchtenden Zinnen verziert und gaben der Stadt einen wundervollen Glanz.
Thiala hielt ihr Pferd am Zügel und konnte sich einige Sekunden nicht an dem sich bietendem Anblick satt sehen. Der Gnom lachte plötzlich auf, schwang sich auf Jeruf und rief: „Holla Mädchen, lasst uns sehen, wer als erster an den Toren ist.“
Das Mondenkind sprang schnell auf Chakka, ihr Pferd, und raste dem schon vor gerittenem Wicht hinter drein. Es dauerte nicht lange, bis sie ihn eingeholt hatte. Jeruf war zwar ein großer Hund, aber gegen das hohe Pferd hatte er natürlich keine Chance. Thiala musste lächeln, als sie an dem kleinen Mann vorbei ritt und laut schnalzte um Chakka weiter anzutreiben. Auch Mireen trieb seinen Hund mit lauten „Yiehhay“-Rufen an und es sah gar lustig aus wie sein offener roter Haarschopf im Wind des Ritts flatterte und seine große Nase voraus vor Freude glühte.
Freudig und erschöpft erreichten Tiere und Reiter die hohen Tore der Stadt.
„Holla, Mädchen! Haltet ein!“ rief die Wache Thiala entgegen und hob die flache Hand. Seine drei Kollegen traten mit erhobenen Lanzen zu ihm.
„Seyd gegrüßet, Wache von Tornheim.“, rief das Mädchen fröhlich und ließ Chakka anhalten.
Wenige Sekunden später erreichte auch Mireen die Stadt und die Wachen machten ein ziemlich erstauntes Gesicht als sie den kleinen Mann auf dem Hund erblickten.
„Hoy Jeruf!“ rief Mireen und sprang von dem Hund, der laut japste und die Zunge aus dem Maul hängen ließ. Dann wandte er sich an die Wachen: „Einen guten Tag, wünschen wir Euch. Wir sind Reisende aus dem Süden und begehren Einlass nach Tornheim.“
„Reisende? Die sind sehr selten heutzutage. Sagt uns was Ihr in Tornheim sucht, und wir werden entscheiden, ob Ihr Einlass erhaltet.“ erwiderte die Wache kalt und mit der Hand krampfhaft die Lanze haltend.
„So ist es denn kein Wunder, dass Ihr wenig Reisende seht, bei solcher Freundlichkeit..“, bemerkte der Winzling mit spöttischem Grinsen, „.. wir suchen nur eine sichere Unterkunft für die Nacht und gedenken morgen schon weiter gen Nordwesten zu reisen.“
Die Wachen berieten sich kurz und schienen die beiden Reisenden für ungefährlich zu halten. Dann endlich winkte die Wache, mit der Mireen gesprochen hatte ihnen zu, und das Tor wurde gerade so weit geöffnet, dass die beiden hintereinander passieren konnten.
Die Stadt selbst bot zwar einen hübschen aber sehr verlassenen Eindruck. Trotz der nun schon abkühlenden Abenddämmerung waren nur vereinzelt Menschen zu sehen, die es alle sehr eilig zu haben schienen wieder in ihr Heim zu kommen. Die vielen Gardisten und Wachen, denen sie begegneten waren sehr nervös und blickten oft gen Himmel. Fast jeder Turm der Stadt war von mindesten zwei Bogenschützen besetzt und kleine Kohlenfeuer brannten bereits jetzt in jedem Turm.
Die weithin für ihr Bier bekannte Taverne „Zum Zwerg“, war Mireens Ziel. Thiala musste grinsen, als sie die Aufschrift auf dem Schild las und stellte sich vor, wie der Gnom sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung hingab, dem Biertrinken. Dieser aber bestellte das Bier erst, nachdem er für eine saubere Unterkunft gesorgt hatte. Thiala hatte nicht viel Lust dem kleinen Mann beim Trinken zuzuschauen und ließ sich, nachdem sie ihre Sachen nach oben gebracht hatten, an dem großen Kamin in der Schankstube nieder und nutzte ihre geringen Handarbeitskenntnisse dazu die Löcher in ihrem Gewand zu stopfen.
Da fiel ihr ein seltsamer Mann auf. Der Mann mit unschätzbarem Alter stützte sich mit seinem Kinn auf ein riesiges in der Form einer langen Flamme geschmiedeten Schwert und blickte traurig in die Flammen des Kamins. Seiner Kleidung nach zu urteilen kam er nicht aus dieser Gegend. Solch schwarze Panzerung, die wie das Kleid eines Käfers erschien, war ihr bislang noch nicht untergekommen. Plötzlich ruhte sein Blick auf ihr, und die dunklen Augen schienen bis in Ihre Seele zu blicken. Überraschtes Erkennen und auch Erschrecken zeichnete sich in seinen Zügen ab.
Ängstlich wandte sie den Blick ab und schaute wieder auf ihre Nadel und den den Riss in Ihrem Kleid. Als sie dann nach kurzer Zeit neugierig wieder zu dem Mann sah, ruhte sein Blick immer noch auf ihr. Schnell blickte sie wieder weg und sucht nach Mireen, der an der Theke genussvoll an seinem riesigen Krug schlürfte. Plötzlich sprach sie eine dunkle, kraftvolle Stimme an: „Verzeiht, wenn ich Euch störe, aber Ihr erinnert mich sehr an jemanden aus meiner Vergangenheit. Wie ist Euer Name, mein Kind?“. Der dunkle Krieger stand direkt vor Ihr und blickte auf sie herab. Kalte Angst kroch ihren Rücken hinauf, als sie zitternd antwortete: „Thiala werde ich gerufen, mein Herr.“.
„Habt keine Angst. Ihr habt nichts böses von mir zu befürchten. Mein Name ist Otharon. Ihr erinnert mich an eine Frau die ich einmal kannte. Stern war ihr Name...“
„Das ist der Name meiner Mutter...“, verwischte die Neugier ihre Angst,“ .. Ihr kanntet sie?“
Der Mann schrak kurz zurück. Dann lächelte er freundlich und sorgenvoll: „Ja, sie war es. Ihr seht Ihr sehr ähnlich, Thiala. Irgendwie wusste Ich, dass jemand wie Ihr kommen würde. Die Zeit und umgehende Angst hier in der Stadt, die schwarzen geflügelten Kreaturen die wild morden und sofort wieder verschwinden und mein Schwert, welches nach ihrem schwarzem Blut lechzt. Die Zeit ist Reif für Euch, Tochter des Abendsterns.“
Nach diesen traurig aber fest gesprochenen Worten verbeugte sich der Krieger tief vor dem Mädchen und neigte das Haupt. Als er dann wieder aufstand kam die Frage, die ihn Quälte: „Wo ist Eure Mutter, Kind?“
„Sie ist tot. Diese Wesen haben sie und meinen Vater getötet.“, sagte Thiala und erschrak ob des erschreckten Gesichtes des Kriegers. Damit schien dieser nicht gerechnet zu haben und sein Gesicht war bleich und undefinierbare Gedanken schossen durch seine klaren, dunklen Augen.
„Tot? ... Dann ist alles verloren.“, seufzte der Mann und ließ sein Haupt sinken.
„Nichts ist verloren, Dämonentöter, Hüter und Knecht von 'Ajades', dem Dämonenschwert!“, sagte Mireen, der unbemerkt herangetreten war. Der Krieger blickte erstaunt auf den kleinen Winzling: „Wer seyd Ihr, Herr, der Ihr meinen Namen und meine Bestimmung kennt?“
„Ich bin derjenige mit dem alles seinen Anfang gefunden hat. Ich bin Mireen, der Gnom, der Erbauer der Weltentore, aus denen das Übel in diese Welt kommt. Ich wusste, dass wir Euch hier finden würden, Krieger. Wir brauchen Eure Hilfe und die von Ajades um das Übel aufzuhalten und die Gefahr der Invasion zu bannen.“
Der Gnom hatte mit fester Stimme und klarem Blick geantwortet, als plötzlich der laute Ruf von gleich mehreren Kriegshörnern durchdringend über die Stadt fuhr, und die anwesenden erschreckt aufblickten und nach ihren Waffen griffen. Fast gemächlich stand der Krieger aus seiner immer noch kniehenden Haltung vor Thiala auf, und sie war erstaunt wie groß und kräftig gebaut der Mann war.
„Die Zeit zu handeln ist da. Die Dämonen sind in der Stadt, so lasst uns sie vernichten.“, sagte der Dämonentöter und reckte seine Muskeln. Bevor Mireen oder Thiala etwas erwidern konnten stampfte der Krieger auf den Ausgang der Taverne zu. Thiala war erstaunt als sie das Lächeln in dem Gesicht des Gnomes sah. Der kleine Mann, mit dem sie schon so viel erlebt hatte erschien Ihr mit einem Male gefährlich und uneinschätzbar. Dieser packte seinen Stab fester und folgte dem Krieger hinaus. Sie wehrte sich erst etwas gegen den Gedanken diese Kreaturen zu bekämpfen, aber trotzdem legte Sie ihr Nähzeug beiseite und folgte den beiden im Schicksal verbunden Männern vor die Taverne.
Draußen herrschte das Chaos. Von den Wachtürmen schossen brennende Pfeile in den Himmel und eine große Schar von dunklen Flecken kreiste im Himmel und ihr Krächzen und Flattern erinnerte sie an die Nacht in der Poststation. Dann stürzten einige der Flecken, wie Vögel die ihren Hunger an den Fischen eines Sees stillen wollen in die Tiefe. Ein lauter, schmerzvoller Aufschrei war von einem der Türme zu hören aus dem die großen ledernen Flügel einer solchen Kreatur staken. Ein weiterer Dämon stürzte sich von oben herab auf eine Wache in der Nähe, die unter der gewaltigen Masse des Wesens zu Boden ging. Otharon rannte dem Mann mit erhobenem Schwert zur Hilfe. Ajades, das Schwert schien rötlich zu leuchten und nach dem Blut der Monster zu gieren. Weitere Dämonen stürzten herab.
Mireen holte eine kleine silberne Kugel aus einer seiner Taschen und warf sie in die Luft. Ein greller Lichtblitz beleuchtete die Umgebung mit grellem Licht, und die Dämonenschar ließ ein erschrecktes Krächzen hören. Die kleine Kugel glühte wie eine kleine Sonne in der Luft und warf lange Schatten in das eigene grelle Licht. Mireen stürzte sich mit erhobenem Stab auf eine weitere Kreatur, die sich gerade am Blut eines gefallenen Gardisten gütlich tat. Die Geschwindigkeit, mit der er auf das Wesen eindrang war erschreckend. Niemals hatte Thiala, die vor dem Schauspiel erstarrt war, eine solche Schnelligkeit gesehen. Der Stab Mireens und auch das Schwert Otharons sausten mit ungebrochener Gewalt durch die Horden der Dunkelheit und machten den immer häufiger herabstürzenden Dämonen den Garaus.
Eine riesige schwarze Gestalt landete mit einem saftigem Schmatzen direkt vor Thiala und eine zerrissen wirkende Fratze stierte in ihr Gesicht. „Hallo Jungfrau!“, krächzte die Gestalt sie an und nadelspitze Fangzähne glänzten gelb unter den schwarzen Lippen in dem grausigem Gesicht.
Thiala wich erschreckt und schaudernd zurück, doch das Wesen welches sie sehr an die hässlichen, steinernen Kreaturen an dem Tempel ihrer Heimatstadt erinnerte, stampfte ungelenk wieder näher. Gelber Geifer tropfte aus seinem Mundwinkel. Ein Seitenblick zeigte ihr, dass sie von Mireen und Otharon keine Hilfe erwarten konnte, denn die Dämonen hatten wohl bemerkte wer ihre gefährlichsten Gegner waren und jeder der Kämpfer war von vielen der dunklen Gestalten umringt.
Sie erinnerte sich plötzlich daran wie ihre Mutter im Traum diesen Wesen den Garaus gemacht hatte. Wie von selbst und mit einer nie gekannten Kraft rammte sie ihre Faust in die Brust des Wesens. Sie drang tief in den Körper der erstaunten Kreatur ein und umfasste ein etwa Hühnerei großes Ding und zerrte es mit Wucht heraus. Noch während das Wesen sie mit plötzlichem Erkennen und großer Angst in den völlig schwarzen Augen anblickte verging es. Übrig blieb nur eine blubbernde und dampfende grauschwarze Masse.
Thiala blickte erstaunt auf das schwarze Ding in ihrer Hand. Es hatte wirklich die Form von einem Hühnerei und war sehr kalt. Die Kälte kroch ihren Arm herauf und Hass erfüllte sie plötzlich – unbändiger Hass. Sie wollte zerstören – alle dieser Wesen töten – sie zerstückeln und den Flammen Preis geben. Ihr Blick fiel auf die Scharen die Mireen und Otharon umringten. Beide bluteten schon aus unzähligen Wunden, was die Dämonen nur noch aufzustacheln schien. Die beiden waren Ihr egal – nur der Hass zählte, der Hass auf die schwarzen Dinger die Ihr Leben versaut hatten. Sie reckte die zu einer Kralle geformte Hand gegen diese Dinger und aus ihrer Hand stoben grelle, heiße Blitze, die diese Wesen zitternd und laut angstvoll krächzenden in einer grauen Suppe vergingen ließen. Immer wieder schossen Blitze aus ihrer Hand und die Dämonen vergingen in großer Anzahl. Sie fühlte wie jemand sie umschlang und schrie laut auf. Es war Otharon, der sie umschlungen hielt und zu Boden drückte. Mit einer fahrigen Geste schleuderte sie den Krieger einige Meter weit gegen eine Hauswand und stampfte ihm dann hasserfüllt entgegen, fasste Ihm am Hals und hob ihn mühelos in die Luft. Erschrecken zeichnete sich in dem Gesicht des Kriegers ab, und sein Schwert lag züngelnd am Boden. Sie hätte ihn einfach so zerquetschen, oder ihm alle Knochen brechen können. In ihrem Hass schossen ihr viele Möglichkeiten durch den Kopf wie sie ihn für seine Tat bestrafen könnte, als etwas schweres Ihren Kopf von hinten traf und sie in eine kalte Ohnmacht trieb.
Tigors Rückkehr
Als Thiala mit starken Kopfschmerzen erwachte schien es noch Nacht zu sein. Jedenfalls konnte sie den Vollmond durch ein kleines Fenster sehen. Einige Kerzen auf dem kleinem Tisch im Raum erhellten denselben nur spärlich, aber sie konnte Mireens besorgtes Gesicht gut sehen, denn es schwebte nur einige Handbreit über dem eigenem.
„Wie geht es Dir, Thiala?“, fragte der Gnom besorgt. Auch Otharon war im Raum und reinigte sein Flammenschwert. Er schien sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, und strich mit einem Schleifstein fast liebevoll über die scharfen Rundungen des dunklen Metalls.
„Was ist passiert?“, fragte das Mondenkind den kleinen Mann, „Die Dämonischen sind gekommen und ihr habt sie angegriffen ... dann ... ich weiß nicht was passiert ist... habt Ihr sie besiegt?“
Mireen lächelte besorgt und freundlich: „Nein. Du hast sie besiegt. Du hast eine große Anzahl vernichtet und der Rest ist geflüchtet. Du hast uns gerettet, Mondenkind, denn nicht mehr lange und sie hätten uns den Garaus gemacht.“
„Ich?“, meinte sie erstaunt und ungläubig, doch dann sah sie vor dem inneren Auge wie sie das „Herz“ des dunklen Wesens aus seinem Körper gerissen hatte und fühlte die grauenvolle Macht des Hasses in ihrem Herzen und die unglaubliche Macht, die der Hass ihr gegeben hatte. Sie bäumte sich auf als sie spürte wie der finstere Hass und die damit verbundene Macht wieder in Ihr aufbrechen wollte. Schweiß stand auf ihrer Stirn als Sie versuchte das grausame Gefühl zu verdrängen, und ihre Hände hatten sich krampfhaft in das Tuch verkrallt, welches sie wärmen sollte. „Otharon!“, schrie sie, als die letzten Bilder plötzlich vor ihren Augen aufblitzten, „Was habe ich getan!“. Sie begann zu bitterlich zu weinen.
Mireen strich sanft und tröstend über ihr leicht gewelltes dunkles Haar und hielt ihre Hand: „Es war nicht Deine Schuld. Du konntest nicht wissen, was die Saat des Bösen bewirkt, wenn Du sie berührst.“
„Saat des Bösen?“, schniefte sie fragend.
„Das 'Herz' der dämonischen Kreaturen, welches Du der einen entrissen hast. All das Böse, welches sie in sich tragen scheint in diesem Saatkorn gefestigt. Ich habe es schon verbrannt, hab keine Angst.“ Der Gnom lächelte sie mitleidig an und strich weiter über ihr Haar. Otharon lächelte sie auch an, hörte aber nicht damit auf das Schwert zu schleifen.
Sie schlief trotz der Schleifgeräusche wieder ein und als sie dann erwachte war schon später Nachmittag des neuen Tages.
„Wir Besuch bekommen, Thiala. Magst Du ihn sehen?“, sagte der Winzling als er erkannte, dass sie aufgewacht war.
„Besuch?“, fragte das Mädchen neugierig und wischte die Tränen weg, „Wen meinst Du?“
„Tigor ist zurück, und würde Dich gerne sehen. Die ganze Stadt würde das gerne, denn Du hast den Angriff fast alleine zurückgeschlagen. Du bist eine Heldin, Thiala.“
„Tigor!“, sie lächelte und setzte sich auf. Der Gnom grinste breit und meinte während er das Zimmer verließ: „Ich hole ihn.“
Es dauerte nur wenige Minuten bis Mireen den Jüngling in Thialas Stube führte. Tigors Blick war Sorgenvoll und Glücklich, als er an ihre Bettstatt trat: „Hallo Thiala. Wie geht es Dir?“
Liebevoll blickte sie den Jungen an, den sie schon aus ihrer Heimatstadt seit jungen Jahren gut kannte: „Besser, Tigor. Hast Du erhalten wonach Du gefordert hast? Bist Du mit Verstärkung gekommen?“
Der Jüngling schüttelte den Kopf und wirkte etwas traurig: „Nein. Auch dort sind die dunklen Horden eingefallen und haben eine große Anzahl der Wachen ermordet. Der Stadthalter sah sich nicht in der Lage der Aufforderung des Grafen beizukommen. Statt dessen hat er es gewagt selbst einen Hilferuf nach Truppen zu verfassen und ihn mir auf den Rückweg mitzugeben. Dieser Fettwanst von Stadthalter hat furchtbare Angst vor diesen Wesen und würde am liebsten die gesamte Stadtwache zu seiner eigenen Verteidigung antreten lassen. Er widert mich an.“
Thiala ließ den Kopf sinken, doch Tigor hob ihn sanft mit seiner kraftvollen Rechten wieder an: „In der ganzen Stadt redet man davon, dass ein junges Mädchen die gesamte Armee der dunklen, geflügelten Monster abgewehrt und verjagt hat. Sie habe mit Blitzen geschleudert und hunderte der Wesen in den Abgrund des Todes gerissen. Ist es wahr, dass Du dies getan hast, Thiala?“
In seinen Augen war eine Mischung aus Furcht, Neugier und Hass zu erkennen. Es dauerte eine Weile bis das Mondenkind die Worte fand: „Ja. Es ist wahr, doch es war weder recht noch gut was ich getan habe. Ich habe in einem wilden, fremden Hass getan, was ich von selbst wahrscheinlich nicht hätte tun können. Grauenvolle Dinge hätte ich getan, wenn mich meine Freunde nicht betäubt hätten.“
„Ihr habt sie betäubt?“, fragte Tigor mit einem scharfem und vorwurfsvollen Ton den dem Krieger und blickte ihn wütend an. Dieser grinste etwas wehleidig, zeigte auf Mireen und sagte: „Verzeiht junger Held, aber das war nicht mein Verdienst. Der Stab des Winzlings dort hat wahre Wunder gewirkt, als ich von ihren Händen gewürgt einen Fuß über den Erdboden hing.“. Man konnte Otharon anmerken, dass dieses Schauspiel ihn nicht unbeeindruckt gelassen hatte. Furcht war zwar nicht in seinem Blick, aber eine gewisse Art von Respekt vor dem Mondenkind war eindeutig zu bemerken. Als Tigor auf des Kriegers Worte hin Mireen anblickte lief ein seltsames Schaudern durch seine Mine.
„Seltsam... Ihr erinnert mich an jemanden, Herr Gnom ... wenn ichs nur wüsste ...“, murmelte der Jüngling und rieb sich seinen kurzen blonden Bart. Mireen blickte den Knaben erstaunt an. Dann bemerkte er: „Nein, junger Postreiter, ich war seit vielen Jahren nicht in dieser Gegend. Es ist kaum möglich, dass ihr meiner Erscheinung bereits einmal begegnet seid.“
„Es ist weniger eine Begegnung. Ich glaube ich habe einmal ein steinernes Bildnis Eures Gesichtes gesehen. Hmmm ... wo war es nur ... es will mir nicht einfallen.“, erwiderte Tigor und das Gesicht des Zwerges entgleiste einen Bruchteil einer Sekunde und maßloses Erschrecken stand für diesen unglaublich kurzen Moment in seiner Mine. Schneller als ein Pfeil einen Apfel durchdringt lachte der Winzling auf und scherzte: „Ha, ein Bildnis von mir, wie käme man dazu ein Bildnis von mir anzufertigen – zudem noch im Land der Menschen. Ihr müsst Euch irren, Tigor.“
Otharon bemerkte, dass dieser sich nicht so sicher war, doch als sich Mireens und Tigors Augen trafen meinte er überzeugt: „Nein. Ich muss mich wohl irren. Tja, dass ist wohl die lange Reise durch die Wüste schuld. Ich brauche jetzt dringend etwas zu trinken. Wollt Ihr mich begleiten? Mein Geldbeutel sollte noch eine Runde Zwergenschwarzbier aushalten.“
Alle Anwesenden bis auf Thiala nickten dankbar und standen auf. Thiala erhob sich zwar auch, blickte aber Tigor tief in die Augen und sagte: „Ich bevorzuge einen Becher Met, mein Freund.“. Der Angesprochene sah ihr ebenfalls tief in die Augen, verbeugte sich dann tief und sagte lächelnd: „Wie es Euch beliebt, Retterin Tornheims.“
Es wurde ein feuchtfröhlicher Nachmittag, und die Taverne war schon sehr voll als sie heruntergekommen waren. Ein jeder schien den gestrigen Schrecken mittels eines guten Biers betäuben zu wollen. Als einige Gerüchte sich verbreiteten, dass die Retterin Tornheims anwesend sei wurde es noch voller. Otharon hatte Tigor schon lange unter den Tisch gesoffen als Mireen warnend mit seinem Stab auf die Käferplattenrüstung Otharons klopfte. Thiala nippte noch immer an ihrem zweitem Becher Met und hatte lächelnd den schlafenden Jüngling betrachtet, als sie dies bemerkte. Otharon stellte wie auf einen Befehl hin seinen Becher, aus dem er gerade trinken wollte, zurück auf den Tisch und nickte dem Gnom zu, als hätte dieser etwas zu ihm gesagt. Das Mondenkind war aber sicher, dass Mireen nichts gesagt und nicht einmal seine Lippen bewegt hatte. Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt und hellrote Wolken zogen träge am Himmel vorbei.
„Kommen sie heute Nacht wieder, Mireen?“, fragte Thiala flüsternd den Gnom. Dieser sah sie traurig an und nickte nur sacht. „Ich will Dir nichts vormachen Kind. Du hast sie gestern überrascht und zurückgeschlagen, aber Dämonen sind keine Wesen, die sofort aufgeben, wenn sich etwas unerwartetes ergibt. Sie werden SIE verständigt haben, und SIE wird kommen um Dich zu versuchen, Thiala. Du musst Dich vor IHR in Acht nehmen. Du wirst SIE nicht erkennen, weil sie jedwede Gestalt annehmen kann. Du wirst SIE nicht spüren, weil SIE sich sehr gut tarnen kann, aber SIE ist bis ins letzte Mark hinein böse und verschlagen. Nur daran kannst Du SIE erkennen, und daran, dass IHR das Tageslicht unangenehm ist. Vertraue niemandem. Nicht einmal Otharon oder mir. Ich werde versuchen bei Dir zu bleiben, aber falls wir getrennt werden, und ich oder einer der anderen vor Dir steht, so könnte es auch SIE sein. Verzeih – ich wünschte ich könnte Dir eine bessere Hilfe sein, aber ich fürchte, dass Du allein auf Dich gestellt sein wirst, wenn Du IHR begegnest. Ich fühle es....“
Kaum hatte Mireen diese Worte gesprochen, da erscholl der Ruf der Kriegshörner von den Türmen Tornheims, und in der Taverne brach eine Panik aus.
Wieder stürmten die dunklen Wesen, schwarzen Betttüchern gleich, zuerst die Wachtürme, die bereits mit Eifer brennende Pfeile in den Himmel schossen. Ein brennender Dämon stürzte lodernd und kreischend in den rechten Wachturm des Tores, und setzte denselben in Brand. Vor Angst bleiche Männer rannten mit Eimern voller Wasser auf den Turm zu und wurden von herabstürzenden Unwesen in die Höhe gerissen. Laut kreischten ihre Todesschreie über den Platz und viele der noch offenen Fensterläden wurden nun schnell und laut zugeknallt und verriegelt. Thiala konnte aus dem Fenster an dem sie saß erkennen wie gezielt die dunklen Wesen dieses mal vorgingen. Es war kein ungestümer unkontrollierter Angriff wie in der letzten Nacht. Dieses Mal erschien es ihr als sei der Angriff sorgfältig geplant worden. Als Otharon sein Flammenschwert aus der Scheide am Rücken zog und durchs Fenster steigen wollte rief sie: „NEIN, Otharon! Bleibt hier. Auch Ihr seid dort draußen nicht sicher. Seht doch mit welcher Genauigkeit sich die Dämonischen nur diejenigen greifen, die sich auf offener Fläche bewegen.“. Mireen nickte. Auch ihm war die Taktik der Dunklen aufgefallen: „Sie hat recht. Setzt Euch.“. Wie auf einen Befehl hin setzte sich Otharon, legte sein Kinn auf seine über dem Schwertknauf verschränkten Hände und wartete. Verwundert blickte das Mondenkind ihre Gefährten an. Es erschien ihr, als würde der Krieger Mireen wie eine Marionette gehorchen, und auch dem Gnom war im Gegensatz zu früher ein kalter und harter Ausdruck ins Gesicht gemeißelt. Tigor hatte begonnen laut zu schnarchen als draußen Ruhe einkehrte. Der Himmel war zwar schwarz von den dämonischen Horden aber es waren keine Schreie oder Angriffe auf die Bevölkerung zu hören und zu sehen.
„Was passiert jetzt?“, fragte Thiala den kleinen Mann, der sich seine große Nase rieb und kurz durch das Haar fuhr. „Sie warten.“, war seine kurze Antwort und sein Blick haftete an den schwarzen Flecken im dunkler werdenden Himmel.
Eine ganze Weile passierte gar nichts, und Tigors Schnarchen nervte das Mädchen bereits ein wenig, als eine Gruppe dunkler Schatten auf dem Erdboden in der Nähe des Tores landeten, dessen rechter Turm immer noch wie eine Fackel brannte. Sie bewegten sich krampfartig aber schienen eine Art Formation einzuhalten. Diese Wesen hatte Thiala noch nicht gesehen, fiel ihr auf. Die Gesichter waren bleich und die Lippen dunkelrot. Auch die Augen strahlten eine rötliche aber dunkle Aura aus. Obwohl sie keineswegs eine Einheit bildeten, wie sie es schon vor einigen Jahren zu hause bei durchmarschierendem Soldaten gesehen hatte, wirkte es als wären die Wesen aufeinander abgestimmt. Langsam näherten sie sich der Taverne. Otharon ließ ein knurren hören als er sein Schwert fester fasste.
Mireen war verschwunden, bemerkte Thiala mit Schrecken. Sie hatte nur Augen für diese seltsamen Wesen gehabt und nicht auf ihre Gefährten geachtet. Jetzt jedoch als sie Otharon wegen des Knurrens angesehen hatte sah sie, dass der Gnom nicht mehr an seinem Platz saß. Auch sonst konnte sie ihn nirgendwo erblicken. „Wo ist Mireen, Otharon?“, fragte sie bleich den Krieger, und ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken.
„Er wollte etwas von oben holen. Er kommt schon wieder.“, brummte der Mann ohne den Blick von den näherkommenden Gestalten abzuwenden. Sein Schwert begann leicht in einem bläulichem Ton zu glühen.
Sie wollte gerne nach oben gehen um in seiner Nähe zu sein, aber sie war ja kein dummes kleines Mädchen mehr. Also blieb sie nervös bei dem Krieger und dem schlafendem Tigor sitzen. Die Gestalten waren inzwischen so nah heran, dass sie die wallenden schwarzen Kutten der Wesen im Wind Aufbauschen sah. Wie bei den anderen Wesen auch wuchsen diesen Kreaturen große ledrige Flügel aus dem Rücken. Die Knochen, die die Flügel trugen wuchsen als Krallen aus dem wie dünnes Leder wirkenden Flügeln heraus. Auch die beiden viel zu langen Arme, die etwa bis zur Kniehöhe herunter hingen, waren mit scharfen vierfingrigen Krallen bestückt. Die Haut der Wesen war in einem weiß von der Farbe alter Knochen und die schwarzen Kutten waren zerschlissen und löchrig. Schlurfend kamen sie näher und näher.
„Na, Mondenkind? Keine Lust auf ein bisschen Blitze schleudern?“, grinste der Krieger sie an. Thiala hatte keine Ahnung wie sie das tun sollte. Gestern war es anders gewesen. Sie streckte die Rechte nach den Wesen aus. Nichts geschah. Wie hatte sie es gestern gemacht? Panik überfiel sie, und wieder schaute sie auf Mireens leeren Platz. Er war immer noch nicht da.
„So langsam könntest Du loslegen, Mädchen...“, brummte Otharon nun auch etwas nervöser, „Die Viecher sind mir schon einen Deut zu nah herangekommen...“
Thiala wusste nicht wie sie es anstellen sollte: „Ich kann nicht, Otharon. Ich weiß nicht wie..“
„Du weißt nicht wie – aber gestern hast Du es doch getan?“ erwiderte der Krieger verständnislos.
„Ja, aber heute weiß ich nicht wie ich das gemacht habe. Wo bleibt Mireen?“
„Hmm ...“, brummte der Krieger und blickte die Stufen zu den Zimmern hinauf, „..er ist schon recht lange weg. Sieh mal nach wo er bleibt, wenn Du schon keine Blitze schleudern willst.“
Zuerst war Thiala erzürnt, aber als sie Otharons freches Grinsen sah stand sie auf und hüpfte die Treppenstufen hinauf.
Die Türe zum Zimmer in dem die drei Nachtquartier bezogen hatten war verschlossen. Sie wollte gerade den Riegel öffnen um einzutreten als sie krächzende Laute aus dem Raum hörte. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken als sie das Krächzen erkannte und inne hielt.
„Wo ist der Schrumpfling hin? Eben war er noch hier – ich bin sicher!“, krächzte die heisere Stimme eines Dämons. Ein anderer antwortete: „Es ist der Weltenwanderer. Wir werden ihn schon kriegen, obwohl ich dachte, dass wir ihm schon längst den Garaus gemacht hätten.“. Das meckernde, kratzende Kichern ließ eine Gänsehaut über Thialas Arme rieseln.
„Dann lass uns etwas Abendessen...“ erwiderte der andere und fiel in das Gekicher ein.
Thiala machte einen erschreckten Satz zurück als der Riegel sich knarrend hob. Außerdem schrie Otharon aus vollem Hals: „SIE KOMMEN!“
Mireen
Thiala rannte schnell die Treppe herunter als sich auch schon die Türe zu ihren Gemach knarrend öffnete und eine in schwarze Tücher gehüllte Gestalt in den Gang huschte. Das kratzende Geräusch von scharfen Krallen auf Holz verfolgte ihren Lauf die Treppe hinab.
„Sie sind im Haus! Sie sind im Haus!“, schrie Thiala und stolperte fast die letzten Stufen hinunter. Die Leute in der Taverne waren ohne Ausnahme bewaffnet und hatten die Fenster so umstellt, dass jeder Eindringling direkt von mehreren Kämpfern angegriffen werden konnte. Erschreckt wandten sich einige aus der zweiten Reihe nach innen und blickten Thiala an und dann die Treppe hinauf von der drei schwarze Schatten herunter sprangen. Auch von den Fenstern her stürzten schwarze und bleiche Gestalten hinein um sofort von den umstehenden Stadtbewohnern mit ihren Messern, Schwertern und Dolchen attackiert zu werden.
Vier Bewaffnete stellten sich Thiala zur Seite, welche sich umgewandt hatte, wie von selbst ihre Hand vorstreckte und den mittleren heran fliegenden Schatten mit einem flammenden Strahl aus grellweißem Feuer noch im Flug zu einem Häufchen Asche verwandelte. Überrascht über die so unerwartet zurückgekehrte Zauberkunst blickte sie erst staunend auf ihre Hand und dann auf den Staub am Boden als ihre Waffenbrüder sich auf die beiden übrigen Schatten stürzten.
Doch die Schatten waren zu stark. Die Gegenwehr der Stadtbewohner nahm Stück für Stück ab, als einer nach dem anderem den blutsaugenden Wesen zum Opfer fiel. Das Mondenkind bemerkte, dass sobald solch ein Schatten oder Bleichling das Blut eines Menschen trank sich seine Wunden auf wundersame Weise wieder schlossen. Auch fiel ihr auf, dass sie selbst kein lohnendes Ziel für diese Wesen zu sein schien. Obwohl sie bereits dutzende von ihnen zur Strecke gebracht hatte, wurde sie kein einziges Mal angegriffen. Sie blickte zu Otharon, der seit dem Beginn des Angriffes einen regelrechten Friedhof an dunklen Kreaturen um sich aufgetürmt hatte. Die anderen Kämpfer hatten sich schnell von seinem Kampfplatz zurückgezogen, als sie sahen wie der Krieger gegen die Kreaturen kämpfte. Dieser Mann brauchte keine Hilfe – jedenfalls noch nicht, dachte Thiala und blickte sich um.
Die wenigen noch stehenden Städter boten einen hoffnungslosen Anblick, und selbst Otharon wusste sich dem ständig mehrenden Feinden nicht mehr zu erwehren. „THIALA! Wir müssen raus hier! Kommt!“, schrie der Krieger in seiner dunklen Käferpanzerung ihr zu, und drehte sich Blitzschnell wie ein wirrer Kreisel mit ausgestrecktem Schwertarm im Kreis. Die grausigen Köpfe der Kreaturen flogen wild umher und verschafften dem Krieger den Platz, den er brauchte um Thiala am Arm zu ergreifen und mit sich mit zu zerren.
„Wir müssen auf heiligen Boden. Diese Monster können ihn bestimmt nicht betreten, und wir müssten dort vorerst sicher sein.“, rief Otharon außer Atem und zerrte das Mondenkind weiter durch die von toten Menschen gesäumten dunklen Gassen der Stadt, als plötzlich ein weiß gekleideter dürrer Mann aus dem Dunkel auftauchte: „Mondenkind! Mondenkind! Hilf uns!“, rief dieser immer wieder laut aus, und Thiala war sehr erschreckt als sie den Mann wiedererkannte.
„Ein Priester!“, seufzte Otharon erfreut und rief, „bringt uns in den Tempel, Mann! Schnell, bevor sie uns einholen!“
Der Mann blickte den Krieger verstört an und warf dann einen Blick auf die ihn anstarrende Thiala. Ein seltsames Leuchten trat in seinen Blick und sofort warf er sich vor ihr auf den Boden.
„Mondenkind, Ihr seyd gekommen. Ihr seyd wahrhaftig gekommen uns zu erretten, wie es uns prophezeit wurde!“, sprach er zum Boden ohne den Kopf zu heben.
„Steht auf Dummkopf! Wir müssen zum Tempel! SCHNELL!“, schrie der Gepanzerte den geistlichen an und zerrte ihn in die Höhe.
„Bitte führt uns schnell zum Tempel, guter Mann.“, sagte nun Thiala freundlich, aber immer noch sehr verwirrt. Woher kannte sie den Mann – sie war sich sicher ihn schon einmal gesehen zu haben – nur wo – schoss es ihr durch den Kopf, als schon das kratzen vieler Krallen auf dem steinernem Pflaster zu hören war.
Der Priester gehorchte sofort und rannte in östliche Richtung voraus. Der Krieger und das Mondenkind folgten dem flinken Mann schnell hinter drein.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie vor der weiß getünchten Fassade eines durch hunderte weißer Säulen gestützten Tempels Halt machten. „Seyd Willkommen im Tempel des erlauchten Gottes Myrehin, dem Herrn über Weisheit und Künste.“
Das Bauwerk war der größte Tempel, den Thiala bisher gesehen hatte, und ihr Mund stand offen als sie die wenigen Stufen zum inneren desselben hinauf stieg. Viele Kunstwerke, aus einem marmorierten weißen Gestein gefertigt, säumten den Weg zum Inneren des Tempels, aus dem ein freundlicher Fackelschein nach draußen schien. Teils waren es es Gebrauchsgegenstände, wie Bücher, Tintenfass und Sextant, aber anderen teils auch Darstellungen aberwitziger Kreaturen, die Thiala noch nie gesehen hatte. Einige davon kamen Ihr bekannt vor, wie Harpien und Trolle, andere nicht.
Otharon ging langsam, rückwärts und mit gezogener Klinge die Treppe hinter Thiala hinauf als erwarte er jeden Augenblick das Eintreffen der düsteren Kreaturen, und auch der Priester folgte Ihr in kurzen, aber respektvollem Abstand.
„Oh! Das ist wundervoll!“, jauchzte das Mädchen als sie die Pforte zum Tempelinneren durchschritten hatte und auf einem dicken, weichem Teppich stand. Von außen war es ihr gar nicht aufgefallen, dass das Innere kreisrund war. Der große Saal der wohl zum Beten und auch Studieren gedacht war glich einer großen Bibliothek. Nie hatte Thiala davon gehört, dass es so viele Bücher geben musste. Die voll bestückten Regale bildeten die einzigen sichtbaren Wände des Saales, in dessen Mitte eine übergroße Statue des Gottes stand. In der einen Hand hielt er ein Buch und in der anderen einen Federkiel. Das Gesicht kam dem Mädchen vage bekannt vor. Es strahlte eine unendliche Geduld und Weisheit aus.
„Runamors Tempel wäre mir jetzt lieber“, seufzte der Krieger, „dort hätten wir bestimmt tatkräftigere Hilfe als hier erhalten. Seyd Ihr allein hier, Priester?“
Der weiß gekleidete Mann nickte: „Zur Zeit schon, Krieger. Meine Brüder sind in den Landen unterwegs und ich erwarte sie nicht vor Morgen zurück.“
Dann wandte sich der Priester dem Mondenkind zu, welches immer noch grübelnd vor der Statue stand: „Ich traue mich fast gar nicht zu fragen, aber warum verjagt Ihr die dunklen Wesen nicht aus der Stadt? Ihr seyd doch das Mondenkind von dem in den Prophezeiungen gesprochen wird, nicht wahr?“
„Ja Priester, Mireen der Gnom hat es mir jedenfalls gesagt. Es sind einfach zu viele, und wir konnten sie gar nicht so schnell vernichten wie sie an Nachschub bekamen. Die Taverne, die uns eine Zeit lang geschützt hat wurde überrannt, und wir konnten im letzten Augenblick dank Otharons Auffassungsgabe retten.“, antwortete Thiala und als sie den Namen Mireen erwähnte schien der Priester bleich zu werden, aber er sagte keinen Ton.
Otharon hatte inzwischen auch vor der Statue halt gemacht. „Seltsam“, sagte er nur als er dieselbe betrachtete. Dann war von draußen ein heftiges Flattern von unzähligen Flügeln zu hören, welches lauter und lauter wurde.
„Na toll“, meinte der Krieger bleich, „Nun sind wir umzingelt. Hoffen wir, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte.“
„Vermutung?“, in Thiala keimte wieder die Angst auf, „Ihr sagtet in einem Tempel wären wir sicher. Habt Ihr das nur vermutet?“
„Jawohl, Mädchen. Ich habe noch nicht oft gegen diese Viecher gekämpft. Ihr etwa? Ich hege die Vermutung, dass sie sich nicht mit unseren Göttern messen wollen – wenigstens jetzt noch nicht. Das könnte uns durch diese Nacht retten.“, brummte der Krieger aber seine Hand lag unruhig an der Klinge an seiner Seite.
Von draußen war plötzlich lautes Geschrei zu vernehmen, als würde ein Mensch gequält um Hilfe rufen. Otharon runzelte die Stirn und stampfte zum Ausgang. Auch Thiala hatte das Geschrei gehört und folgte Ihm. Der Priester zuckte hilflos mit den Schultern und tapste hinterdrein.
Der Anblick war wahrhaft furchterregend. Der Tempel war von einer großen Anzahl der geflügelten Kreaturen umstellt. Obwohl sie einen respektvollen Abstand vor der heiligen Erde hatten, auf der dieser Tempel erbaut worden war, konnte sich Thiala nicht des Eindrucks erwehren, dass sie nur mit ihnen spielten. Ein besonders großer geflügelter Dämon hielt in seiner rechten Pranke ein zappelndes und jammerndes etwas, was die Anwesenden schnell als Tigor erkannten. Bis auf einige blutige Kratzer und einige Blutergüsse schien der junge Mann allerdings unverletzt zu sein. Jedenfalls war er es, der sie durch sein Geschrei hinaus getrieben hatte.
„Tigor!“, stöhnte das Mondenkind voller Erschrecken, denn sie hatte den Postreiter einfach vergessen, der in der Taverne dank übermäßigen Alkoholgenusses schnarchend am Tisch gesessen hatte.
„Aye, Mondenkind“, dröhnte die dunkle und kratzige Stimme des Ungetümes in dessen Hand der Mann zwei Fuß über dem Boden schwebte, „Du hast hier anscheinend etwas liegen gelassen.“
Der schadenfrohe Klang des Monsters war nicht zu überhören. „Was sollen wir denn nun mit diesem ... Ding hier tun? Oder besser... was bist Du bereit für dieses Ding hier zu tun?“
Eine dunkle und kalte Macht kroch unaufhaltsam in Thiala herauf: Der Hass auf dieses Wesen, welches ihren Gefährten quälte und vielleicht töten würde. Sie wollte es zerfetzt sehen – Nein! Nicht nur dieses Geschöpf – sie würde sie alle vernichten – im heißem Feuer verbrennen oder in der Luft zerfetzen. Plötzlich wich Otharon und der Priester angstvoll vor ihr zurück. Sie bemerkte, dass sich ein Paar große schwarze Schwingen an ihrem Rücken gebildet hatten und ihre Fingernägel zu messerscharfen großen Klauen gewachsen waren.
„NEIN THIALA!“ schrie eine Stimme hinter ihr, die dem Mädchen sehr bekannt vor kam. „Tu es nicht!“. Sie wollte sich nicht umwenden und sie wollte nicht wissen wer das gesagt hatte. Sie wollte diese Monster allesamt zerquetschen – Jetzt! Eine warme und beruhigende Hand legte sich an ihre Hüfte und zog an ihrem Gürtel. Sie blickte herab, und fand Mireen, den Gnom, vor sich. Er lächelte sie liebevoll an und ... der Hass verebbte langsam. Sie konnte den Blick von dem kleinen Mann nicht abwenden, denn sie hatte sein Gesicht erst eben in dem Tempel gesehen. Gut – es war kleiner und hatte eine riesige Nase, aber die Züge waren eindeutig diejenigen des in Stein gemeißelten Gottes im Tempel: Myrehin – Mireen. Ihr Gefährte war ein Gott, schoß es ihr durch den Kopf. Im Seitenwinkel sah sie wie der Priester auch Mireen erkannte und sich eher erschreckt als ehrfurchtsvoll zu Boden warf.
„Du bist Myrehin, der Gott der Weisheit und Wissenschaft? Letzthin auch der Gott der Magie und Künste?“, stotterte sie den Winzling an und vergaß völlig die dunklen Gestalten neben ihr.
„Ja, mein Kind. Ich bin es und war es immer.“, sagte der kleine Mann und lächelte entschuldigend.
An das Ungetüm gewandt sagte er kalt: „Laß den Knaben los. Du hast hier keine Macht Dämon!“
Der Dunkle ließ Tigor los, der hart und mit einem dumpfen Schlag auf den Boden aufprallte: „Myrehin, der Wanderer. Jetzt wird mir einiges klar.“ Das meckernde Lachen des Dämons hallte durch die heilige Halle und die Stadt. „Wir werden uns wiedersehen, kleiner Mann.“, lachte der Dunkle abermals, wendete sich um und erhob sich in die Lüfte wo er im Dunkel verschwand. Auch die anderen Monster erhoben sich in die Dunkelheit, und die Gefährten waren wieder allein.
Der Krieger hatte sich vor Tigor hingekniet und untersuchte seine Wunden. „Der Kerl hat Glück gehabt.“, sagte er und drehte den jammernden Postreiter hin und her um alle Stellen seines Körpers auf Stiche oder schwere Wunden zu untersuchen, bis er dann meinte: „Alles noch dran. Ich werde ihn in den Tempel bringen.“. Gesagt wie getan schwang der kräftige Kämpfer den Jungen auf seine Schulter und stapfte wieder die Treppen zum Tempeleingang hinauf.
Thiala sah Mireen an, und Myrehin sah das Mondenkind an. Als der Gott ein immer deutlicher werdendes Grinsen zeigte mußten plötzlich beide laut loslachen und umarmten sich dann herzlich.
Die letzte Reise
Die Stadt war düster, leer und sehr still als die Gefährten zum Tal der Nadelfelsen aufbrachen. Mireen oder Myrehin ging voraus, und der Rest folgte. Thiala, das Mondenkind, ging neben dem Gnom.
„Bist Du wirklich ein Gott, Mireen?“, fragte sie ihn flüsternd. Der Winzling grinste breit und antwortete: „Im Grunde schon. Es gibt jedoch auch unter uns Göttern Gesetze, an die wir uns halten müssen. Wenn wir uns in anderer Gestalt auf der Welt bewegen, so sind wir in gewissem Maße an deren Unzulänglichkeiten gebunden. Nur der Tod dieser Gestalt läßt uns wieder Gott sein. Mireen ist mir sehr ans Herz gewachsen, und so mag ich diese Gestalt nun einmal.“
„Warum kannst Du nicht einfach diese 'Dämonen' von dieser Welt verjagen – Du müsstest doch viel mehr Macht über sie haben als ich?“, fragte das Mädchen neugierig weiter. Mireen schüttelte den Kopf: „Nein, mein Kind. Ich bin zwar dafür verantwortlich, daß diese beiden Welten miteinander verbunden wurden, aber da diese Dämonen nicht aus dieser Welt stammen habe ich keine Macht über sie, so wie auch alle anderen Götter. Du bist und bleibst unsere einzige Chance das Unheil abzuwenden.“
„Warum? Wie kann es sein, daß ich in diesem Punkt mehr Macht habe als Ihr Götter?“
„Nun..“, Mireen zögert kurz und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, „.. es ist sehr einfach zu erklären, aber schwer zu verstehen. Deine Mutter hat das Blut der Dämonen in dem ihren, so wie Du es durch sie auch in dem deinen hast. Es ist nicht nur das Blut von Dämonen, sondern auch das von Zwergen und Elben, Menschen und Feen – und auch ein wenig göttliches Blut ist in Dir mein Kind. Du bist die einzige mit der gesammelten Macht aller Völker, und es hat Jahrhunderte gedauert Deine Geburt zu planen und zu bewerkstelligen.“
„Also bin ich nur eine Art Zaubertrank für Euch? Ein Mix wichtiger Zutaten um eine gewisse Wirkung zu haben?“ fragte Thiala verärgert. Der Gnom schüttelte zuerst den Kopf und nickte dann betroffen: „Wahrscheinlich hast Du Recht, und in Wirklichkeit ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht mit den Toren experimentieren sollen, dann wäre dieses Unglück gar nicht erst passiert. Aber mein Wissensdurst und meine Neugier waren zu groß, genau wie meine Dummheit und Verantwortungslosigkeit. Eine Menge Menschen, Zwerge und Elfen sind schon wegen dieser Dummheit gestorben, und ich kann nur hoffen, daß wir dem Unheil gemeinsam ein Ende machen können.“
Thiala blickte auf ihre Begleiter. Tigor hatte sich schnell wieder erholt. Anscheinend waren es wirklich nur Kratzer gewesen. Otharon ging mit vorsichtigen Blicken und Schritten voran und schien jede noch zu kleine Bewegung zu sehen und vorauszuahnen. Der Priester war ständig – auch während des Gehens mit Gebeten beschäftigt.
„Otharon macht mir Sorgen, Mireen. Er wirkt so anders .. so kalt ...“ teilt Thiala dem Gott mit, welcher traurig lächelt: „Es ist das Schwert. Es hat von Otharon Besitz ergriffen – er ist nicht mehr ganz er selbst. Das Schwert ist nicht gut – es enthält die Kraft eines dieser Dämonenherzen. Otharon hat eine gute Seele, doch ich weis nicht wie lange sie dem bösen Kern des Schwertes widerstehen kann oder wie lange das Schwert nur sein Schwert sein will. Hab acht vor Ihm, mein Kind. Das Schwert war der erste Versuch von mir die dunklen Wesen zu vernichten, aber es ist eine zweischneidige Sache geblieben, und ich hoffe Otharon ist stark genug.“
„Toll – jetzt kann ich nicht einmal meinen eigenen Gefährten trauen. Das macht Hoffnung...“, seufzte das Mondenkind. Der Gott lächelte freundlich und hoffnungsvoll: „Traue Dir und deiner Macht. Du bist stark, klug und gut. Du wirst die Tore schließen und die Gefahr von dieser Welt bannen, Thiala, da bin ich mir sicher.“. Das Mädchen lächelte und nahm die kleine Hand des Gnomes in die Ihre.
Die Dunklen hatten wie immer die Stadt vor Tagesanbruch verlassen. Als sie endlich die Stadt und damit die vielen Totenfeuer hinter sich gelassen hatten führte sie der Weg wieder bergauf. Ein kantiges Gebirge mit weißen Gipfeln ragte im Osten auf.
„Seid Ihr sicher, daß wir da lang wollen?“, fragte Tigor Mireen, „Das sind die Trollhöhen. In Tornheim erzählt man sich, daß dort oben Trolle und Drachen wohnen...“
„Trolle ja, Drachen nein.“, grinst Mireen und zeigt auf den linken der beiden höchsten Gipfel, „Dort wohnte einmal ein Drache – Estowahinarinn. Aber das ist Jahrhunderte her. Niemand hat ihn seit ewigen Zeiten gesehen.“
Tigor schien nicht besonders beruhigt, und Thiala mußte lächeln.
„Das Tal der Nadelfelsen – E´iakka – befindet sich inmitten dieses Gebirgsmassivs dort. Es sind noch ca. zwei Tagesreisen bis dorthin, und wir werden wohl kaum noch auf eine menschliche Seele treffen. Ein paar Höhlen werden uns Schutz bieten können, aber wir sollten mit unseren Nahrungsvorräten vorsichtig umgehen, denn auch das Getier dort ist nicht unbedingt zum Verzehr geeignet.“ Der Gott zeigte auf den Pass zwischen den höchsten der Berge.
„Warum nennt Ihr es E´iakka?“, fragte Tigor und bibberte kurz bei dem Gedanken durch den Schnee dort oben zu stapfen.
„E´iakka, so nennen es die Priester und Götter. Es heißt 'Wiege der Welt' und ist wohl der heiligste Ort dieser Welt.“
„Hmm“, murmelte Tigor und grinste, „Werden uns noch mehr von Euch Göttern zur Seite stehen wenn es hart auf hart kommt, ehrwürdiger Myrehin?“
Mireen grunzte kurz ungehalten: „Nennt mich nicht so!“, dann fuhr er nach einer kurzen Pause fort: „Ich glaube nicht, daß meine Brüder und Schwestern sich für uns einsetzen werden. Es ist .. etwas schwierig zu erklären ... jedenfalls einem Sterblichem“. Dann setzte er ein breites Grinsen auf und aus unerfindlichen Gründen musste Thiala lachen. Tigor brummte unmutig eine kurze Gotteslästerung vor sich hin und blickte wieder zum Pass herauf.
Der Priester, dessen Name Valensis war, schaute Tigor kurz böse an als er die Gotteslästerung vernahm, aber als es Mireen nichts auszumachen schien folgte er Otharon, welcher voran gegangen war.
Es dauerte einige sehr lange und beschwerliche Stunden bis sie endlich den Pass erreichten. Was aus der Ferne so einfach anmutete war in Wirklichkeit. Der einzige, welchem diese Strapazen nichts ausgemacht hatten war anscheinend Otharon. Stur wie ein Esel erklomm er Felsen um Felsen ohne auch nur eine Pause oder auch nur ein einziges Jammern. Der schwarze Käferpanzer, den er als Rüstung trug mußt höllisch schwer sein, aber es schien ihm nichts auszumachen.
Die wenigen Pausen, die er auf Drängen der Gefährten einlegte nutzte er um seine Waffen zu schärfen und zu reinigen. Neben dem Dämonenschwert 'Ajades' trug er noch eine Anzahl an Dolchen und eine unglaublich schwer aussehende Armbrust, die er anstatt eines Schildes an einem Gurt über der Schwertscheide am Rücken trug.
Selbst Mireen wirkte müde und geschafft als sie alle den Pass erreichten, der einen Ausblick auf ein tiefes Tal frei gab, welches sehr schnell verständlich machte, warum dieses Tal das Tal der Nadelfelsen genannt wurde. Tausende spitzer Felsen, die wie Nadels aus dem Boden hervorragen umringten einen tiefschwarzen See in der Mitte des Tals. In der Seemitte war eine kleine Insel auf der ein selbst aus dieser Ferne gut zu erkennender golden glänzender Ring aufrecht stand.
„Das ist Sturmfänger, das Meistertor der Welten“, sagte Mireen nicht ganz ohne Stolz und wies auf den goldenen Ring im Tal, der in der Abendsonne rötlich glänzte.
Bei der nun folgenden der längeren Pausen am Pass konnten die Gefährten Otharons Geschicklichkeit im Umgang mit der Armbrust bewundern. Er verpasste aus mehr als 500 Fuß Entfernung einer Gemse einen perfekten Blattschuss. Der Bolzen hatte das arme Tier komplett durchdrungen und war immer noch fast vollständig in den dahinter stehenden Baum eingedrungen. Kunstvoll hatte er die Gemse ausgenommen und ausbluten lassen bevor er sie über dem von Ihm angelegtem rauchlosen Lagerfeuer an einem langen Stab grillte.
Auf der Reise war bisher kaum ein Wort gefallen. Die Kletterei zum Pass hinauf war anstrengend genug gewesen um seine Kraft noch mit Plauderei zu verschwenden. Nun, als sie alle beisammen am Feuer saßen und sich das schmackhaft zubereitete Gemsfleisch schmecken ließen wurde Tigor redseliger.
„Was wollen wir eigentlich an dem Ring tun?“, fragte der Jüngling der immer noch ein blaues Auge von dem gestrigem Erlebnis hatte.
„Wir werden das Tor zerstören und die Dämonen in ihre Welt zurückjagen.“, brummte Mireen und schmauchte an seinem Pfeifchen ohne vom Feuer aufzublicken.
„Wie wollen wir das tun? Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir eine Chance haben alle Dämonen zu besiegen oder ihnen genügend Schaden können um sie durch das Tor zurückzutreiben. Sie haben ganz Tornheim vernichtet, und da standen uns eine Menge ausgebildeter Kämpfer zur Seite. Wie wollen wir fünf eine solch riesige Armee an Dämonen besiegen.“, fragte Tigor weiter.
„Wir werden sehen. Ich habe da so eine Idee.“, grinste Mireen und nahm einen besonders tiefen Zug aus seinem Pfeifchen.
„Ihr und Eure Ideen! Seid Ihr nicht schuld daran, dass diese Wesen auf unsere Welt gekommen sind? Ihr sagtet selbst, daß Ihr diese Tore erschaffen habt. Das muß ja wie eine Einladung gewesen sein. Wie viele Menschen mußten schon wegen Euch sterben, Gott?“ stieß Tigor wuterfüllt hervor, während Thiala traurig ins Feuer blickte und Otharon wie schon so oft sein Schwert polierte.
Der Priester stob auf und blickte eben so wütend auf Tigor herab: „Hüte Deine Zunge, Jüngling! So spricht man nicht mit Myrehin, dem Gott der Muse, Kunst und Wissenschaft. Hüte Deine Zunge, sonst ... sonst ...“. Mireen winkte Valensis sich zu setzen, was er auch prompt und auf der Stelle tat.
„Er hat ja Recht, der Jüngling Tigor. Es ist meine Schuld, aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern, und jetzt müssen wir etwas tun um schlimmeres zu verhindern. Meine Macht ist in diesem Tal sehr kraftvoll. Um so kraftvoller werden Thiala´s Kräfte sein und die des Dämonenschwertes in Otharons Hand. Wir werden es schaffen, und wenn wir Glück haben werden uns auch meine Brüder und Schwestern zur Hilfe kommen.“
Thiala konnte sich nicht helfen, aber sie hatte den Eindruck als würde Mireen etwas vor Ihr verbergen – etwas wichtiges. Außerdem schien er zu wissen, das sie es spürte, denn er blickte beschämt zu Boden als sie ihn nun direkt anblickte.
„Was verbirgst Du vor mir, Mireen?“, dachte Thiala und hörte plötzlich Mireen in ihrem Kopf zu ihr sprechen: „Ich habe Angst, daß wir es gemeinsam nicht schaffen werden das Tor zu zerstören, denn ich habe Euren Bruder in der Kürze der Zeit nicht finden können.“
„Meinen Bruder?“ dachte sie, und wieder hörte sie Mireen in ihrem Kopf sprechen: „Ja, mein Kind. Ihr wurdet als Eins geboren, Ihr seid Zwillingsgeschwister. Zu Eurer Sicherheit wurdet Ihr weit von einander getrennt, doch Hunares Familie ist in einem der sechzehn Winter bei einem Überfall ums Leben gekommen, und ich konnte bis heute seine Spur nicht wiederfinden. Ihr wurdet nach Euren Großeltern benannt, Cireas Mutter Thialarhien und Sterns Vater Hunares. Ich fürchte, daß wir mit all unserer Kraft nicht genug haben um das Tor zu vernichten, denn wie Ihr zwei eines ganzen seid, so ist Eure Kraft auch nur vollkommen wenn Ihr zusammen seid. Nur wenn Hunares tot ist, dann hättest Du, Thiala auch seine Kraft. Aber ich bin seines Todes nicht gewiss, und so fürchte ich um den morgigen Tag.“
„Ich habe noch einen Bruder?“, Thiala´s Herz tat einen kräftigen Sprung. Ihre Sinne fühlten den geheimen Punkt in ihrer Seele und öffneten die geheime Kammer. „Hunares lebt! Ich spüre es! Mein Bruder lebt!“ rief Sie plötzlich laut aus und sprang zum Erschrecken ihrer Gefährten plötzlich und wie von einer Tarantel gestochen auf.
Selbst Mireen schien erschrocken. Otharon blickte kurz auf als würde ihm der Name irgendetwas sagen, schüttelte aber dann den Kopf und polierte sein Schwert weiter.
Der Priester lächelte und auch Tigor hatte ein Grinsen im Gesicht – allerdings sah es nicht so aus als würde er sich mit Thiala freuen, sondern als würde er ein gewisses Maß an Schadenfreude erfahren.
Der Seelensee
Als der Morgen graute und Thiala erwachte war Mireen und Otharon bereits auf den Beinen und schienen miteinander zu streiten. Otharon zog sich dann plötzlich zurück und schulterte sein Schwert. Tigor stand breit grinsend daneben.
Thiala sah ihn von ihrem Lager aus heimlich an. Aus dem kleinem Jungen, in den sie sich in Ihrer Jugend verliebt hatte war ein stattlicher Jüngling geworden. Sie erkannte die kleinen Grübchen an den Backen wieder und die Narbe von dem Stein, der ihn bei einem ihrer Abenteuer an der Stirn verletzt hatte. Irgendetwas war aber anders als früher, dachte Thiala, er wirkte irgendwie kalt und schien vollkommen teilnahmslos bei allen zu sein. Auch das Grinsen in seinem Gesicht wirkte unecht – ja fast hämisch. Dann wandte er sich ab und folgte Otharon den Berg hinab ins Tal.
Die Sonne bestrahlte das Tal der Nadelfelsen mit aller Kraft, und die vielen nadelförmigen Felsen tauchten das Tal in tausend lange Schatten. Thiala glaubte sogar den Lauf der Sonne an der Wanderung der Schattenfelsspitzen zu erkennen. Der Krieger und Dämonentöter war bereits vorausgegangen und stampfte in seinem gewohnten Marsch den Weg hinab.
Valensis, der Priester, schlief noch tief und fest. Mireen weckte ihn, in dem er ihn kurz an der Schulter berührte: „Wacht auf, Valensis. Wir ziehen weiter.“. Der Priester stand auf und reckte sich. Seine weiße Tunika war schon ziemlich verschmutzt, stellte Thiala fest, aber selbst mit verschmutzter Tunika machte Valensis einen erhabenen Eindruck. Es schien fast so, als könnte nichts und niemand ihm seinen Mut rauben oder seine Standhaftigkeit brechen.
„Thiala?“, fragte der Gnom, „Du bist schon wach?“. „Ja, Mireen.“, antwortete sie, erhob sich und klopfte den Staub von der Kleidung. „Was ist mit Otharon?“, fragte sie den kleinen Mann.
„Ach, nichts. Er hält es für zu gefährlich in das Tal zu gehen. Es sei die beste Falle, die er jemals gesehen hätte. Ich habe ihm klargemacht, dass wir gar keine Wahl und auch kaum noch Zeit haben.“, antwortete er.
„Zeit? Wieso Zeit?“, fragte Thiala erstaunt. Mireen suchte nach Worten: „Nun ja, das ist nicht ganz so einfach zu erklären. Die Funktion des Weltentors ist von der Position der Sterne abhängig, und wir können es nur während eines ganz bestimmten Zyklus zerstören. Wenn wir das Tor nicht heute Nacht schließen können, so werden die Dämonen hundert Jahre auf unserer Welt gefangen sein. Du kannst Dir vorstellen, was das für uns bedeutet, oder?“
„Wie willst Du sie denn dazu zwingen durch das Tor zurück zu gehen?“, fragte Thiala während sie Ihr Habe einsammelte und den Rucksack schultert.
„Mit den Dämonen ist es wie mit den Bienen. Sie haben eine Königin, und da wo sie ist sind auch ihre Drohnen. Wir müssen SIE durch das Tor schleudern bevor es sich schließt und es anschließend zerstören.“
„Woran erkennen wir ihre Königin?“
„Das ist das Problem, SIE ist ein Gestaltwandler. Wir können Sie nicht erkennen, weil sie aussehen könnte wie Otharon, Valensis oder Tigor. Aber sie wird dort sein.“, sagte Mireen und zeigte auf den golden schimmernden Reif im Tal.
„Warum?“, fragte Thiala als sie beide den schmalen Weg hinunterstiegen.
„Weil SIE weiß, dass wir den Weg in Ihre Heimat zerstören wollen. Das will und muss SIE verhindern. Außerdem will SIE Dich haben. Ich habe Dir bestimmt von der Prophezeiung ihrer Welt erzählt.“
Thiala nickte und sah den Weg hinab. Tigor hatte Otharon fast erreicht als diese stehen blieb und sich langsam um die eigene Achse drehte und seine Waffe zog. Tigor schlenderte weiter als hätte er nichts bemerkt.
Mit lautem Knurren sprang plötzlich eine dunkle kräftig wirkende Gestalt aus dem Schatten eines Nadelfelsens auf Otharon zu, welcher sofort mit seinem Schwert eine blitzschnelle Bewegung machte und die Gestalt, die einem sehr dickem Wolf ähnelte, noch im Sprung am Bauch aufschlitzte. Mit einem saftigem Klatschen landete das Vieh tot hinter dem Krieger in einem Gebüsch und regte sich nicht mehr. Dafür war nun von überall lautes Hecheln und Knurren zu vernehmen. Tigor hatte auch sein schlankes Schwert gezogen und blickte sich um. Er sah allerdings eher wütend als ängstlich aus.
Mireen, Thiala und Valensis beeilten sich zu Otharon und Tigor zu kommen, aber das Knurren und Hecheln was sie überall gehört hatten war so schnell verstummt wie sie es gehört hatten.
„Was soll das? Irgendjemand hat die Viecher zurückgerufen.“, brummte Otharon verärgert als Mireen und Thiala eintrafen. „Es sind bestimmt genug um uns alle zu töten. Warum haben sie sich zurückgezogen?“, fügte der Krieger an und musterte die Umgebung genau.
Der Priester war kreidebleich und fächerte den Busch auseinander um den Gegner sehen zu können. Das was er sah erleichterte ihn um sein Frühstück, als er sich über dem grausig anzuschauenden Kadaver übergeben musste. Selbst Thiala, welche ja in der kurzen Zeit, die sie mit Mireen verbracht hatte schon eine Menge Dinge gesehen hatte kletterte ein kalter Schauer über den Rücken. Das Ungetüm war sehr fett und trotzdem äußerst muskulös. Es schien am Kopf nur aus Zähnen zu bestehen, die länger als ein Finger waren. Die Haut war blass, leicht gelblich und mit vielen blauschwarzen Flecken übersäht, die wie Blutergüsse anmutenden.
Mireen lächelte verkrampft ohne sich umzusehen: „Lasst uns zur Insel kommen so schnell es nur geht.“
Mit einem leichtem Dauerlauf schritt er voran. Der Krieger folgte ihm stumm und hatte sein Schwert schon wieder in seiner Scheide am Rücken des Käferpanzers angebracht.
Tigor spuckte angewiedert auf das tote Untier und folgte dem Krieger.
„Komm Valensis.“, sagte das Mädchen und zog den Priester von dem Kadaver zurück, von dem er immer noch schreckensbleich das Gesicht nicht abwenden konnte.
„Was ... was ist das nur für ein scheußliches Wesen?“, stotterte der Geistliche und faßte seinen Stab fester.
Thiala schüttelte den Kopf: „Ich weiss es nicht, Priester. Es ist nichts von dieser Welt schätze ich.“
Der Gott und der Krieger waren langsamer geworden, damit Thiala, Tigor und Valensis aufholen konnten. Dann führte Mireen das Tempo an. Je näher sie der Schwärze des Sees kamen, desto größer und veränderter erschien Thiala Mireen zu werden. Otharon hingegen wirkte plötzlich ein wenig erschöpft und wurde langsamer.
„Was hast Du, Otharon?“, fragte Thiala, als sie neben Ihm war.
„Ich weiß nicht ... das Schwert ... es verliert seine Kraft ...“, stöhnte Otharon.
„Ja, so ist es. Wir nähern uns dem Ursprung der Welt. Das Schwert verliert die Macht über Otharon, und damit Otharon die Macht des Schwertes. Dieser Ort verstärkt die Kraft der Seelen. Otharons Seele ist bald zu stark, als daß das Schwert Besitz von Ihr ergreifen kann um ihn zum Sklaven zu machen.“, sagte Mireen mit einem Lächeln. Er war bereits auf die Größe Thialas angewachsen und seine Nase war kleiner und nicht mehr so dick. Er ähnelte nun deutlicher der Statue, welche Thiala in seinem Tempel gesehen hatte.
Umbehelligt, aber fühlbar nicht allein erreichte die Gruppe den See. Otharon hatte sich wieder im Griff, und das Schwert schien dunkel zu glühen.
„Otharon“, sagte Mireen, „Du bist nun der Herr des Schwertes und kannst seine Macht nach Deinem Willen nutzen. Die in das Schwert gebannte Seele ist noch stärker als zuvor, aber sie hat keine Macht mehr über Dich, Du aber über sie. Gebiete dem Schwert, Du bist nun sein Meister, Dämonentöter!“
Als Valensis seine Hand in Richtung des Wassers führte um davon zu schöpfen schrie Mireen auf: „Nein, Priester! Berühre das Wasser keinefalls!“
„Warum nicht?“, fragte Thiala als der Priester die Hand entsetzt und sehr erschreckt zurückzog und zwei Schritte zurückwich.
„Das ist kein Wasser, und keiner von uns darf es berühren. Ich weiß nicht was passieren wird, aber selbst wir Götter haben Angst vor dem See. Niemandem ist es erlaubt den See der Seelen zu berühren – auch uns nicht.“, sagte der Winzling, der keiner mehr war, denn inzwischen überragte er selbst den großen Otharon um eine Kopflänge. Die sonnenverbrannte und furchige Haut des Gnomes war nun fast weiß und so glatt wie die eines Babys.
Plötzlich erschallte ein Ruf aus dem Norden. Eine Stimme weicher wie das Spiel einer Harfe sang „Myrehin, mein Bruder.“
Mireen sah erstaunt auf, und in seinem Blick war etwas, was Thiala bisher nur ein mal gesehen hatte: Völlige Überaschung. „Schwester?“, rief er zurück und rannte Ihr entgegen. Seine Schwester schien nach Menschenjahren gerade einmal zwölf Lenze zu messen, aber ihre Augen schienen Hunderte von Jahren gesehen zu haben. Ihre Haut war von makellosem weiß und sie trug ein hellblaues Kleid, welches wie Perlmutt schimmerte. Ihr Haar war golden und schlulterlang. Mit leichten, fast schwerelosen Schritten lief sie Mireen entgegen und beide umarmten sich liebevoll als sie sich erreichten.
Thiala schaute sich nach Valensis um, entdeckte ihn aber zuerst nicht, weil er flach mit dem Bauch auf dem Boden lag. „Steh auf Valensis! Warum machst Du immer so was?“, murrte sie und zog den alten Mann hoch.
Das Mondenkind, der Postreiter, der Krieger und der Priester gingen Mireen und seiner Schwester entgegen. Thiala, die nicht viel Ahnung von den Göttern und ihren Geschäften hatte blickte Valensis an: „Wer ist sie?“
Dieser blickte erstaunt auf: „Wie? Du hast noch nicht von Gea, der Mutter Natur gehört? Wo bist Du denn aufgewachsen?“
Thiala brummte trotzig: „Also bei uns im Dorf waren das nur ein paar Statuen, die zu gewissen Zeiten aus der Kiste genommen wurden wenn die Jahreszeiten wechseln. Ich habe nie verstanden vorfür sie gut waren.“
Valensis schien ziemlich geschockt zu sein und bekam seinen Mund nicht mehr zu.
Thiala machte einen Knicks vor Gea als sie vor Ihr standen, und Otharon verbeugte sich so tief, daß ihm der lange dunkle Haarschopf wild ins Gesicht hing, als er sich wieder erhob. Die Göttin lächelte die beiden an, und das Mondenkind hatte das Gefühl, dass Ihr Blick sich bis auf ihr innerstes erstreckte und jedes noch so kleine Geheimnis entdeckte.
„Myr“, sang Gea´s Stimme, „Es ist sehr gefährlich, was Du da vorhast. Bist Du sicher, daß Du diese Sterblichen in diese Sache ziehen willst, die Du Deinem eigenem Wissensdurst zuzuschreiben hast?“
„Ja, Gea, es hat mich sehr viel Kraft und Zeit gekostet die Zeichen zu meinen Gunsten zu stellen. Selbst wenn wir die Tore schließen können, so war es dennoch ein zu hoher Preis, den wir gezahlt haben. Ich brauche die Sterblichen um das hier zu beenden, sie sind die Puzzleteile, die im Spiel gefehlt haben. Die Dunklen werden Weichen, und wir werden den Frieden in dieser Welt wieder herstellen.“, sagte Myrehin und blickte seine Schwester an. Thiala glaubte wirklich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden zu entdecken.
„So denn. Ich werde Euch über den See der Seelen führen. Folgt mir..“, sagte Sie und aus dem Boden am Rande des Sees sprossen plötzlich wild Zweige heraus und verzwirbelten sich zu einer langen Brücke formten. Tausende kleiner dürrer Reigen wuchsen in der Geschwindigkeit eines Eselkarrens über die tiefschwarzen Fluten des Sees, die unter dem Gehölz schäumte und spritzte. Dort wo die schwarzen Tropfen das Geäst benetzten wurde es grau und brüchig, und bröckelte als Staub in das schwarze Etwas. Es waren aber so viele Flechten, dass die wenigen die starben der Stabilität der Bücke nichts anhaben konnten. Auf der anderen Seite geschah das gleiche Unglaubliche. Die beiden Reigen der Zweige trafen sich in der Mitte der Wasser und verschlangen sich fest ineinander.
Gea machte den ersten Schritt auf diese so entstandene Brücke: „Eilt Euch. Das Seelenwasser wird schnell nach der Brücke greifen und sie zerstören.“. Geschwind ging das kleine Mädchen, welches die Göttin der Natur war, über ihre Brücke und die Gefährten folgen Ihr dicht auf.
Als Sie auf etwa die halbe Strecke hinter sich hatten hörten sie anhand der Lautstärke des Plätschern, dass das schwarze Wasser nun höher Spritzte und die Brücke begann bedrohlich zu zittern und zu knirschen. Thiala konnte im darüber schreiten erkennen, dass die Äste Triebe bildeten und weitere Äste erzeugten, welche wiederum so handelten. Nichts schien den Wildwuchs dieser Pflanzen entgegen zu stehen, aber als sie zwei drittel des Weges hinter sich hatten und sie zurückblickte sah sie wie die Farbe der Äste in der Mitte gräulich wurde und an der Seite rieselte bereits der Staub herab.
„Schneller!“, meinte nun auch Gea, die erschreckt zurückblickte. Die Brücke bebte schon sehr stark unter den Schritten der Gefährten. So sehr die Natur sich gegen die Macht des Sees durchsetzen wollte, so wenig hatte sie doch keine Chance. Kleine Triebe die sofort zu Ästen sprossen zerfielen noch im selben Moment zu Staub und rieselten herab. Es gab einen heftigen Ruck, als ein großer Bereich in der Mitte an beiden Seiten durchbrochen war und in den See stürzte.
Aber er sollte ihn nie berühren, denn noch bevor auch nur ein Ast die Fläche des Sees erreichte wurde er zu Staub der leicht herab rieselte und in der schwarzen Oberfläche verschwand.
Mondenkind´s Segen
Kurz bevor das Seelenwasser, eine schwarze, klebrige und zähflüssige Masse, begann die geflochtene Brücke vollends zu verschlingen und aufzulösen sprang Otharon als letzter auf das feste Land der Insel.
Irritiert blickte er auf den Boden, denn dieser war weder aus Fels noch aus Sand. Er schien aus großen Platten von Hornmaterial zu bestehen, welche schon reichlich mit Gras und Moos bewachsen waren – fast wie ein riesiger Schildkrötenpanzer. Thiala folgte seinem Blick und stellte dasselbe fest.
Gea war schweißgebadet und sah noch bleicher aus als sie ohnehin schon war. Müde sah sie vom Boden auf und lächelte Mireen an: „Mein Bruder, so trennen sich nun wieder unsere Wege. Das war alles was ich heute für Dich tun konnte. Nun bin ich erschöpft und werde mich ausruhen müssen, da wir ja auch wieder zurück müssen.“
„Ja, Gea, meine Liebe. Du hast uns sehr geholfen. Ruhe Dich nun aus – ich werde mich schon um das Tor kümmern.“, lächelte Mireen und bettete seine Decke aus dem Rucksack auf dem Boden. Dann half er seiner Schwester sich dort niederzulegen. Sie schlief sofort ein.
„So, meine Freunde“, blickte Mireen die Gefährten ernst an,“Thiala und ich werden uns an dem Tor zu schaffen machen, und Ihr haltet uns den Rücken frei, denn ich glaube kaum, daß wir lange allein bleiben werden. Valensis, Du wirst die Gebete sprechen, die ich Dich gelehrt habe. Tue dies ohne Pause, denn Du bist der Schutzwall für Otharon und Tigor. Haltet Euch bereit.“
Tigor grinste breit als würde er sich auf irgendetwas freuen. Otharon hingegen wirkte gelangweilt und schabte wieder einmal mit dem Stein über sein Schwert während er zurückblickte.
Dann sah der Gott kurz Thiala an und wandte sich dem riesigem Ring zu, welcher golden und silbern schimmerte.
Dieser Ring wirkte wie ineinander verschmolzene Gold- und Silberschichten. Dort wo sich Gold und Silber verbanden hatten funkelte es gelegentlich als würde das Material Sternenlicht reflektieren. Vorsichtig fuhr Thiala mit ihrer Rechten über die Fläche, die sich ganz glatt anfühlte. Sie konnte die darin innewohnenden Kräfte spüren, die wie Blitze in sie einzudringen suchten. Doch etwas in oder von Ihr wehrte die unfassbaren Energien ab und leitete sie zurück in das Metall.
„Du spürst die Kraft des Tors, nicht wahr?“, fragte Mireen ineressiert und fuhr mit seiner makellosem weißen Hand sanft über das Metall. „Dieses Werk hat mich einige hundert Jahre gekostet, und die Vorbereitung zu seiner Zerstörung schon viel mehr.“
„Ist es Silber und Gold? Es muß sehr wertvoll sein.“, flüsterte Thiala ehrfurchtsvoll.
„Nein, Mondenkind, es ist aus Mitril – dem härtestem und machtvollstem Material dieser Welt. Der Wert ist weit mehr als unermesslich hoch. Wäre es das nicht, dann wäre die Zerstörung kein solches Problem...“, erwiderte der bleiche Gott und rieb sich den nicht vorhandenen Bart, „Deine Mutter war damals bei dem zweiten Tor, in den Zwergenminen meines alten Freundes. Dieses Tor ist um ein vielfaches mächtiger als jenes dort, oder diejenigen auf der anderen Seite. Wenn dieses Tor fällt, so werden die anderen keine Kraft haben sich zu öffnen, und die Dämonen werden verbannt sein.“
„Warum helfen uns die anderen Götter nicht – von Deiner Schwester einmal abgesehen? Geht es sie nichts an?“, fragte Thiala eine Frage, die sie schon lange gequält hatte. Mireen lachte auf, sah sie traurig an und erwiderte: „Nun, kleines Mondenkind, die Götter meinen, daß derjenige, der diesem Zustand zugeführt hat ihn auch wieder beseitigen muß. Du solltest als Menschenkind doch wissen, daß die Götter sich nur selten um die Wesen dieser Welt kümmern – ein Menschenleben ist für uns wie das Leben einer Eintagsfliege für Euch. Es lohnt sich für meine Brüdern und Schwestern nicht sich darum zu bemühen. Sie fürchten die Dämonen nicht, denn auch diese sind sterblich. Ich aber fürchte, daß wir sehr wohl von dem Sterben der Menschen betroffen sein werden. Meine Forschungen haben aufgezeigt, daß wir Götter von dem Glauben der Menschen abhängig sind. Je stärker die Wesen der Welt an unsere Manifestationen glauben, desto kraftvoller und mächtiger werden wir selbst. Wenn es keine intelligenten Lebewesen mehr gibt werden wir wahrscheinlich auch aussterben – aber man schenkt mir nur wenig Glauben, also wird kein Gott sein langweiliges Tagesgeschäft unterbrechen um diesem kleinen Geschehnis hier beizuwohnen. Selbst meine Schwester kam nur auf meine Bitte hin uns zu helfen. Sie ist es nicht gewohnt in menschlicher Gestalt zu sein – es nimmt sie sehr mit.“
Kurz blickte er zurück auf den Pass über den sie dieses Tal betreten hatten und wandte sich wieder an Thiala: „Verzeih, Mondenkind, aber wir sollten nun schnell anfangen. Berühre das Tor und versuche die Kraft in Dich aufzunehmen – und keine Angst – es ist viel einfacher als Du jetzt denken magst.“
Sie warf noch einen Blick auf die Gefährten: Tigor lächelte sie seltsam an und Otharon hatte den Blick abgewandt. Valensis zeichnete seltsame Zeichen in die Luft und sang in einem seltsamen Tonfall etwas was sie nicht verstehen konnte. Dann sah sie auf das Mitril, welches vor ihr schimmerte und berührte es abermals.
Wieder konnte sie die Kraft spüren, die wie ein wilder Fluß durch das wertvollste Metall strömte und dem Tor die Kraft gab die Distanzen in unbekannte Welten zu öffnen. Sie atmete tief ein und öffnete sich dem Strom.
Mit unbändiger Gewalt drang die Energie des Tores in sie hinein. Sie schrie laut auf vor Angst und Schmerz ob dieser gewaltigen Macht, die sie nun durchströmte. Etwas in Ihr saugte begierig daran und labte sich an den kräftigen Wogen aus reiner Kraft. Bunte Flecken tanzten plötzlich vor Ihren Augen, und ihre Handflächen glühten förmlich. Nein – nicht nur die Handflächen – ihre ganze Haut glühte wie grelles Feuer, doch spürte sie keine Hitze. Ganz im Gegenteil – eine unsagbare Kälte kroch aus dem Tor in ihre Haut und wühlte sich durch ihr Fleisch.
Mit lautem Aufschrei ließ sie das Tor los und wankte zurück.
Es dauerte einen Moment bis sie das was ihr Augenlicht erblickte auch erkannte. Das glitzernde Metall war trüb geworden. Mireen lag bleich am Boden seitlich des Tors und er blutete stark aus einer schweren Platzwunde an der Stirn.
Tigor stand am Tor und dort wo seine Hand das Mitril berührt hatte wogen schwarze Schleier in dem silbergoldenen Schein. Er sah sie an und sein Lächeln wirkte siegesgewiss.
„Tigor? Was ist passiert?“, brachte Thiala mit lautem Ächzen heraus. Ihr Hals fühlte sich an als hätte sie einen Sandsturm mit offnenem Mund durchschritten.
„Das was prophezeit ist, Mondenkind. Wir stehen zusammen am Tor der Welten. Du besitzt wirklich viel Kraft, liebe Nichte, aber selbst der Wanderer hat mich nicht erkannt – obwohl er es geahnt haben musste.“
Thiala suchte nach Otharon und Valensis. Sie fand sie gefesselt am Boden liegend. Sie regten sich nicht.
„Ihnen ist nichts geschehen. Der Krieger und sein verdammtes Schwert hätten mich beinahe noch erkannt – aber ich bin Ihnen zuvor gekommen, liebe Nichte. Der alte Mann ist schon in Ohnmacht gefallen als ich ihm nur mein wahres Antlitz gezeigt habe.“, sagte Tigor nicht ohne Stolz.
„Wer bist Du?“, fragte Thiala das Wesen in Tigor. Dieser lachte: „Ich habe keinen Namen. Ich bin SIE. Deine Großtante, falls Du das hören wolltest.“
Thiala lachte auf: „Meine Großtante?“
„Ja, Nichte. Ich bin die Schwester deines Großvaters – oder besser des Dunklen, dem Dein Großvater gedient hat, mein Kind. Das hat dir dein Freund der Wanderer nicht erzählt, nicht wahr?“
„Der Wanderer?“, fragte Thiala, obgleich sie wußte, daß Mireen gemeint war.
„Ja, der Wanderer, der die Tore mit unserer Hilfe erschaffen hat. Was meinst Du, warum er Dich brauchte? Nur wir sind in der Lage die Tore zu erschaffen und auch zu zerstören. Er selbst ist zu schwach dafür – insbesondere in der Gestalt seines Dieners.“ Tigor lachte laut und meckernd auf als Thiala ein erstauntes Gesicht machte: „Er hat es nicht einmal seinen Brüdern und Schwestern verraten – warum sollte er es Dir verraten – insbesondere, da Du von unserem Blute bist, Mondenkind.“
„Niemals!“ schrie Thiala, „Das kann nicht sein!“
„Hunares war mein Bruder, der Deine Mutter mit dem schwachen Geschlechtern dieser Welt gezeugt hat. Stern, nannte sie sich. Sie hat ihren Vater getötet – ihren eigenen Vater. Aber sie wußte es nicht besser, denn der Wanderer hatte sie auch schon mit seinen Lügen überzeugt. Wie er Dich bestimmt auch schon auf seine armselige Seite gezogen hat. Wir sind die Monster aus einer grausamen, dunklen Welt hinter den Toren – richtig?“
„Ich habe gesehen was Deine Monster in Tornheim angerichtet haben!“, schrie Thiala heraus.
„Ach? Meine Monster? Sie waren immer nur hinter dem Wanderer her. Er ist schuld, daß mein Bruder sterben musste. Warum musste er sich auch bei den Menschen verstecken, der Feigling. Was blieb mir anderes übrig als seine Verteidiger auch anzugreifen? Wenn er sich gestellt hätte wie ich es ihm angeboten hatte, dann wäre den Sterblichen dort kein Leid geschehen.“
„Kein Leid? Ihr habt die Menschen ausgesaugt!“, warf Thiala ein, aber ihr Hass auf SIE schwand mit dem Wissen wie viel Mireen ihr verheimlicht hatte oder wieviel von dem was er Ihr gesagt hatte Lüge war. SIE hatte ihren Bruder verloren, und wollte sich rächen - wer sollte es ihr verübeln. „Nein!“, rief sie, „Ihr seid grausame Monster und müsst vernichtet werden!“
„Was können meine Krieger dafür, daß sie Blut zum Leben brauchen? Tötet Ihr nicht Euer Vieh um es zu essen? Was ist so anderes daran wenn ein mächtiges Wesen ein niederes verspeist – sag nicht, Du hast noch kein Fleisch oder Fisch gegessen. Wer sagt, daß wir vernichtet werden müssen – wir brauchen das Blut zum Leben – was wollt Ihr mit dem Blut meiner Krieger anfangen? Ihr seid doch die Mörder, während wir nur auf der Jagt waren – überdenke es, Mondenkind. Wer ist es, der Wahrheit und Gerechtigkeit redet?“, Tigor nahm seine Hand von dem Tor, und die dunklen Schlieren verschwanden auf der Stelle.
„Nein! Das kann nicht sein!“, seufzte Thiala.
„Außerdem hat der Wanderer es uns versprochen. Wir hatten in unserer Welt eine große Epidemie unter den Sterblichen. Das Blut war verseucht und viele Sterbliche starben uns unter unseren Händen weg. Der Wanderer hat uns frisches Blut versprochen, wenn wir Ihm bei der Errichtung der Tore helfen. Was hat er Dir denn erzählt? Wir hätten unsere Welt leergefressen und wollten nun hier weitermachen?“
Tigor SIE sah Thiala in die Augen. „Tatsächlich! Er hat es so beschrieben – kaum zu fassen. Ich habe den Schönredner wirklich unterschätzt.“
„Du solltest uns helfen, Mondenkind von unserem Blute. Das Tor ist nun zu schwach – Du hast ihm viel Energie entzogen. Es wird fast hundert Jahre dauern bis es sich wieder aufgeladen hat. Gib ihm zurück was Du genommen hast. So wirst Du vielen Deiner Brüder und Schwestern das Leben retten können. Außerdem könnte ich Dir unsere schöne Welt zeigen. Hilf uns, Mondenkind.“, sagte Tigor fast flehend.
„Thiala!“, rief Otharon mit erschöpfter Stimme, „Glaub ihm nicht! Es ist nicht Tigor – er ist einer der Dämonen!“
Sie blickte sich um uns sah wie der Krieger sich müde aufrichten wollte und dann seiner Fesseln bewußt wurde.
„Ich weiß Otharon. SIE hat es mir bereits gesagt.“, erwiderte Thiala. An SIE gerichtet: „Wer sagt mir, daß Ihr nicht auch so viel verschweigt wie Mireen – mich nicht ebenso belügt wie dieser Gott dort.“
„Du bist doch eine von uns, trägst unser Blut und unser Zeichen. Die Enkelin meines Bruders. Wir haben es nicht nötig zu lügen. Warum sollten wir? Hilf uns, Enkelin des Bruders, Tochter der Tochter meines Bruders Fleisches. Niemandem von Deinen Freunden wird auch nur ein Haar gekrümmt werden, das verspreche ich Dir, Mondenkind. Wie es die Prophezeiung beschrieben hat stehen wir hier zusammen am Anfang neuer Zeiten. Du musst noch so vieles Lernen – so vieles sehen. Komm mit mir, meine Liebe. Das Tor hier ist doch nur der Anfang – Du wirst nicht glauben was es auf meiner Welt alles gibt. Die ganze Zukunft steht Dir mit uns offen. Der Wanderer braucht Dich um die Tore zu schließen, aber was wenn er Dich nicht mehr braucht?
Du hast doch selbst gehört, was die Götter dieser Welt von den Menschen halten, die sie so verehren. Die Wesen die uns verehren werden auch von uns verehrt. So lass uns nun das Tor fpr alle Zeit öffnen, daß der Anfang unser Anfang sei, Schwester.“
„Was wird aus Mireen?“, fragte Thiala und zeigte auf den danieder liegenden Gott.
„Er wird sterben, wenn ich mit ihm fertig bin. Blut für Blut, Schwester. Aber wenn Ihr es wollt wird er weiterleben – ich schenke Euch sein Leben, wenn Ihr es denn haben wollt. Aber er wird von unserer Welt verbannt sein, und niemals wieder einen Fuß dorthin setzen dürfen.“, erwiederte SIE und lächelte liebevoll. Tigor-SIE war inzwischen nah herangetreten und streichelte sanft durch Thialas Haar.
„Was wird sein, Großtante, wenn ich das Tor verschlossen lasse?“, fragte Tiala aufrecht und voller Kraft.
„Nun – Hundert Jahre ist keine lange Zeit für unsereins. Einige von uns wird es das Leben kosten, kein frisches Blut zu trinken, aber die Zeit öffnet auch das Tor. Tue was Du willst. Du bist zwar auch unsterblich, aber Du steckst in deinem Körper fest. Die Zeit wird Dir sehr lang werden, Mondenkind.“
„So werde ich denn das Tor verschlossen halten um Deine Worte auf die Probe zu stellen. In hundert Jahren werden wir uns an diesem Ort wiedersehen. Dann kannst Du mir Deine Welt zeigen und mir von der Prophezeiung erzählen, die mein Leben bestimmt hat, und der ich somit trotze. Ich werde mein Schicksal allein bestimmen, und brauche keine Prophezeiungen um den Weg zu finden! Weder aus dieser Welt, noch der Deinen.“, erwiderte Thiala, drehte sich um und ging zu Otharon und Valensis um deren Fesseln zu lösen.
„So es denn Dein Wusch ist, Mondenkind.“, sagte SIE in Ihrem Rücken, „So sehen wir uns denn in einhundert Menschenjahren. Ich werde warten. Meine Kinder werden sehr durstig sein, so wirst Du der Öffnung des Tores Gewahr werden. So nimm nun den Jüngling zurück, der mir gut gedient hat. Auf bald, Nichte!“
Als Thiala den Kopf wandte sah sie wie Tigor zusammensackte und ein dunkles nicht erkennbares Schemen in einem kurzen Aufleuchten im Tor verschwand.
Sie würde Ihr Versprechen halten, dass wusste sie genau. Vorerst befreite sie die beiden am Boden liegenden von ihren Fesseln.
„So erfüllt sich also die Prophezeiung, oh ihr Götter!“ jammerte Valensis und bettete sein Haupt in seine Hände.
Otharon warf ihr einen fragenden aber doch dankbaren Blick zu. Thiala musste lächeln als der erste Sonnenstrahl den Weg zwischen den Gipfeln im Norden ins Tal fand und sie an der Nase kitzelte.
„Auf bald!“, murmelte Sie und ließ den Sonnenstrahl über Ihr Gesicht wandern.





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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