Monika Behr

Narsaja (Kapitel 1a - Der Weg, Ankunft der Fremden)

Kapitel I

Wenn Pein dich vorantreibt, wenn Rache dein Wegbegleiter ist, 

dann trotze deinem Schicksal und erschaffe dich neu!

 

Der Weg

Gesättigt schob mein Vater seinen Teller von sich, das Zeichen für meine Mutter das Geschirr vom alten Eichentisch zu räumen und Platz zu schaffen für die schweren Weinkrüge. Flink ging ich ihr zur Hand, denn nach einem deftigen Mahl verlangten die Männer unserer Familie - mein Vater  und meine beiden Brüder -  nach einer flüssigen Stärkung.

Heimelig war es in der Stube und der Geruch von gekochtem Fleisch und Gemüse erfüllte den Raum. Meine Mutter reichte jedem einen Weinbecher und schenkte bis zum Rand ein. Erschöpft saßen alle vor ihren Trinkgefäßen, sie hatten schwer und lange draußen auf dem Feld gearbeitet, der Herbst zog durch die Lande und die letzten Früchte des Feldes mussten noch eingebracht werden. Seit Tagen regnete es schon und machte die Arbeit fast unerträglich schwer. Es wurde nicht viel gesprochen, während alle zusammen am Tisch saßen, jeder hatte seine Mahlzeit schweigend in sich hinein gelöffelt, nur wenige Male erhob mein Vater seinen Blick vom Tellerrand und sah mich an. Warum an diesem Abend solch beklemmendes Schweigen herrschte, verwirrte mich ein wenig. Oft hatten wir schon mit dem Wetter zu kämpfen und auf den Feldern war es mühsam für alle, doch trotzdem vermochten wir abends bei Tisch stets gute Gespräche zu führen. Es war wider der Gewohnheit meines Vaters und meiner Brüder, es war eine geheimnisvolle Atmosphäre, die sich in der Küche niederschlug und jeder bis auf mich schien es zu kennen. In Anbetracht der ungewöhnlichen Lage hielt ich es auch nicht für klug, nach dem Grund zu fragen, denn schon oft rügte mich mein Vater, weil er mich für zu wissbegierig hielt und mahnte mich, dass das einem jungen Mädchen nicht an stand.  Er wandte sich zu mir und winkte mich heran. Ich ging zu ihm hinüber und er legte seine Hand behutsam auf meine Schulter:“ Narsaja, heute erwarte ich noch wichtigen Besuch, geh in deine Kammer und mach dich etwas zurecht!“ dabei lächelte er mich an, doch seine Augen schienen keine Freude auszustrahlen, sie waren ohne Glanz und ohne gewohnte Ruhe. Irgendetwas bedrückte ihn. Unbehagen und Verwunderung kroch in mir hoch. Meine Brüder waren längst nicht so ausgelassen, wie sie es pflegten nach dem Essen zu sein. Sie balgten und neckten sich oft, doch jetzt spiegelte sich Strenge und Beklemmung in ihren Augen wieder. Als ich diese knisternde Spannung, die sich um uns alle zu legen schien nicht mehr ertrug und sich all die Rätsel und Fragen in meinem Kopf überschlugen, fasste ich all meinen Mut und wandte mich meinem Vater zu. „Vater, sag mir, was bedrückt dich? Ist etwas schlimmes passiert? Wieso…“ Doch bevor ich ein weiteres Wort aussprechen konnte, erhob sich mein ältester Bruder vom Tisch und gab mir mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, den Anweisungen meines Vaters zu folgen - ohne weiteres Widerwort zu leisten.

Ich drehte mich um und ging zur Tür. Als ich sie einen Spalt geöffnet hatte, zupfte mich meine Mutter sanft am Ärmel und flüsterte mir mit ihrer warmen und freundlichen Stimme zu: „Ich werde Dich zum rechten Zeitpunkt holen, warte in deinem Zimmer! Mach dich hübsch und sorge Dich nicht!“ Ich nickte und gehorchte ihr. Während ich die Stiege zu meiner Kammer hinaufschritt, schossen mir immer noch die selben Gedanken durch den Kopf. *Wer wohl der geheimnisvolle Besuch sein mag, von dem mein Vater gesprochen hatte? Aus welchem Grund meine Brüder so angespannt und distanziert waren? Sie waren noch nie so schroff zu mir gewesen. Die Stirnfalten meines Vaters zogen sich tief in sein Gesicht und verrieten Anspannung.  Nervös und unruhig saß er auf seinem Stuhl und schien auf etwas zu warten. Nur meine Mutter war wie gewohnt, freundlich und sorgend, um uns alle.* Vorsichtig schob ich die Dachbodenluke nach oben. Dunkelheit hüllte mich ein und eine kühle Brise kam mir entgegen. Meine Kammer war nicht beheizt und das lodernde Feuer unten am Herd hatte meine Wangen aufgeheizt. Ich genoss die Kühle, die sich um mich legte und zündete eine Kerze an. Im schimmernden Schein der Kammer setzte ich mich auf mein Bett und löste meine Schuhe.

 

Die Ankunft der Fremden

Pferdehufe waren in der Ferne zu hören und von meinem Bett aus konnte ich geradewegs aus dem kleinen Dachfenster blicken. Der Mond schien in die Kammer und warf seinen matten Schein auf mich. Schemenhaft sah ich zwei Gestalten zu Pferd des Weges herauf galoppieren. Dick von dunklen Umhängen umwickelt, vermochte man nicht ihre Gesichter zu erkennen. Sie wurden das letzte Stück des Weges immer langsamer und der Mond erhellte sie. Er waren wohl zwei Männer, denn Ihre markanten Gesichtszüge und ihr mächtiger Körperbau verrieten sie jetzt. Den Schritt verlangsamt ritten sie auf unser Haus zu. Ich wurde durch das Aufstoßen der Tür aus meinen Beobachtungen gerissen. Mir schossen die Worte meines Vaters wieder in den Sinn, wie er mich mit Bestimmtheit anwies, mich zurecht zu machen. Hastig sprang ich vom Bett hoch, streifte mir meine Arbeitskleidung ab und zog mir mein schönstes Kleid über. Selten durfte ich es tragen und ich genoss das Gefühl des schönen Tuches auf meiner Haut. Es roch nach Lavendel. Ich liebte den Duft dieses Krauts und deshalb bewarte ich stets ein kleines Sträußchen,   eingenäht in mei­nem linken Ärmel auf. Meine Mutter sagte immer, es brächte Glück und beschütze mich vor allem Übel. Ich schritt an das Dachfenster, richtete und zupfte mir mein Kleid zurecht und betrachtete mich darin. Es schien mir als wäre die ewige Dunkelheit auf der anderen Seite und verbarg sich im Nichts.

Draußen war nur der Schein einer Fackel  zu sehen, die Asam - mein jüngster Bruder -  zur Begrüßung der Fremden angezündet hatte. Er stand draußen und hielt sie hoch und weit von sich gestreckt. Die wenigen Meter zum Haus waren nun mit Licht erfüllt. Die beiden Fremden nickten ihm zu. Der schmalere von Beiden stieg zuerst vom Pferd, reichte Asam die Zügel und half dann dem anderen von seinem Reittier. Dieser war von schwerfälliger Statur und hatte Mühe sich aus seinem Sattel zu hieven. Mein Vater stand in der Tür, winkte ihn herein und wies gleichzeitig Asam an die Pferde zu versorgen.

Der andere stand noch vor dem Haus und musterte die Umgebung. Er war jung, von schlanker Statur und seine Bewegungen schienen zarter und wendiger zu sein, als die des anderen. Der Wind fuhr in  sein nasses dunkles Haar und sein Umhang hing schwer an ihm herunter. Er spähte in die Ferne - in die Dunkelheit hinaus, als suche er einen Feind, der sich im Wald verstecke. Während er auf unser Haus sah, schweifte sein Blick nach oben und er sah mich am Fenster stehen. Unsere Blicke trafen sich.  Erschrocken vermochte ich mich nicht zu bewegen und ich war beschämt, weil ich ihn beobachtet hatte und er mich dabei ertappte. Als ich mich wieder gefangen hatte, trat ich rückwärts gehend vom Fenster zurück. Dabei huschte ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, er gab seinem Pferd, das Asam gerade vorbeiführte, noch einen Klaps, wendete sich ab und betrat das Haus. Mein Herz pochte und ich hoffte nur, der junge Fremde würde über diese kurze Begegnung unserer Blicke nicht bei meinem Vater vorsprechen. Ich schloss die Augen und versuchte all meine Sinne dem Lauschen der Stimmen zu widmen. Jeder noch so kleine Laut, jeder noch so winzige Wortfetzen erschien mir nun so wichtig und Neugierde wurde Herr über meinen Gehorsam. Ich atmete tief durch und getraute mich kaum die Luft wieder auszuhauchen. Meine Füße schienen auf dem rauen Holzboden festgewachsen zu sein und kalter Schweiß rann mir von der Stirn. Ganz langsam und in sanften Bewegungen schlich ich mich einer Katze gleich zur Kammerluke und kniete mich auf den von der Kälte feucht gewordenen Holzfußboden. Ich hatte ein kleines Astloch entdeckt durch das der Schein des Feuers drang, schon des öfteren benutzte ich es um heimlich hindurch zu spähen.

„Setzt euch an meinen Tisch, alter Freund! Und auch euer junger Begleiter!“ Mein Vater deutete auf die Stühle vor ihm. Wortlos nahmen beide Platz. „Weib, bring zu Essen und zu Trinken und richte ein Nachtlager für unsere Gäste!“ Er  klang rau und schroff, meine Mutter huschte sofort in eine kleine Nebennische des Raumes. Sie holte zwei Weinbecher und allerlei Schüsselchen mit getrockneten Früchten, Brot und etwas kaltem Fleisch vom Abendmahl. Schwer bepackt kehrte sie an den Tisch zurück. Der Blick meiner Mutter war ehrerbietig nach unten gerichtet, um den Fremden Respekt und Ehre zu erweisen. Während sie für die Gäste den Tisch deckte, herrschte Stille im Raum. Die beiden Männer sahen sich in der Hütte um. Ihr Blick flog über die lodernde Feuerstelle, über der ein Kessel mit heißem brodelndem Wasser hing. Der aufsteigende Dampf legte sich um einen kleinen Sims, der mit allerlei Kräutern in verschiedenen Schächtelchen und Schatullen gefüllt, gestopft und beladen war. Die aufzüngelnden Flammen tauchten den Raum in honigfarbenes Licht und ab und zu vernahm man ein Knistern des glühenden Holzes, das sich der Hitze hingab. Ich war wie gebannt von den Geschehnissen unter mir  und beobachtete, so gut es durch die kleine Öffnung möglich war, die Fremden.

Die beiden Männer saßen am Tisch, etwas entfernt von ihnen mein Vater und mein ältester Bruder Rajen. Einer der beiden Fremden, war älter als mein Vater, das erkannte ich sofort, denn seine Schläfen waren schon ergraut. Er hielt die Hände verschränkt und dies gelang ihm nur mit Mühe, weil sein dicker Bauch dieser Geste der Macht im Wege stand. Der Alte war sichtlich erschöpft von der Anstrengung der Reise und atmete schwer. Er durchbrach die Stille durch ein tiefes Seufzen und er erhob das Wort: „Gultan, ich habe meinen Sohn Lasaij mitgebracht!“ Er  schaute zu seinem Sohn. “Er ist mein Zeuge und Leumund, wenn wir unsere Vereinbarung besiegeln!“ Er nickte beiläufig meiner Mutter zu und nippte gierig am Wein. Mit einer garstigen und ruppigen Handbewegung wies er seinen Sohn an ebenso zu trinken. Mein Vater richtete seinen Blick auf den älteren der beiden Fremden: “Seld, es freut mich, wenn euch der Wein schmeckt, meine Söhne und mein Weib...!“ „Spart euch die zarten Floskeln und lasst mich endlich sehn, wofür wir so weit gereist sind!“ fiel Seld in garstigem Ton meinem Vater ins Wort. Mein Vater behielt seinen freundlichen Gesichtsausdruck und sah über die rohen Worte des Gastes hinweg.

Ärgernis über so viel schlechte Manier kroch in mir hoch. Ich konnte nicht verstehen, warum mein Vater solch Unmut und Arroganz in unser Haus ließ. Mir schauderte vor diesem Mann. Unbeweglich, gefangen in seinem fettleibigen Körper saß er da. Seine Augen waren dunkel und von furchterregendem Glanz. Ihm rannen Schweißperlen über seine Stirn und er wischte sie hastig mit dem Handrücken beiseite. Ekel stieg in mir hoch.

Lasaij starrte meinen Bruder Rajen mit durchdringendem Blick an. Auch Rajen erwiderte diesen. Sie sahen sich so tief in die Augen, als konnten sie ihre Kräfte durch das bloße Verschmelzen ihrer Blicke messen. Meine Mutter stand immer noch still am Herd, sie betrachtete meinen Vater. Dieser versuchte ruhig und gelassen zu wirken. Voller Stolz und Achtung, so wie ich es von ihm gewohnt war. Doch ein unsichtbarer Schatten schien sich um ihn zu legen, welcher ihn mit Qual und Zerrissenheit umhüllte. Eine drückende Stimmung herrschte im Raum. Die Luft brannte und die Augen meines Bruders zuckten vor Kampflust.

Das Geschehnis unter mir schnitt mir die Kehle zu und ich sah gebannt auf die kleine Gruppe dort unten. *Sollte ich mich ruhig verhalten? Sollte ich hinunter gehen? Wie würde mein Vater darauf reagieren? Nichts lag mir ferner als in Ungnade der Familie zu fallen.* Die Fragen und Ungewissheit quälten meinen Geist und gerade als ich mich erheben wollte, um nach unten zu gehen, sprang die schwere Holztüre unseres Hauses auf. Asam stand in der Tür, Strohreste vom Füttern der Pferde hingen an seinem Mantel. Er streifte sie mit einem Lächeln auf den Gesicht ab und trat ein. Während er seinen Mantel an den Haken neben der Tür hing, holte meine Mutter ihm einen Weinbecher und füllte ihn sogleich . Asam war von ungestümer Natur und ihm war nicht bewusst, welchen Gefallen er allen mit seinem Erscheinen getan hatte. Er setzte sich neben den freien Platz zur Rechten meines Vaters, hob sein Glas und richtete einen Trinkspruch an die fremden Männer. Alle hoben das Glas und tranken. Dies entspannte die Lage zwischen dem Alten und meinem Vater. Nur mein Bruder und Lasaij ließen ihre Blicke nicht voneinander ab und Misstrauen stand noch immer in beide Gesichter geschrieben.

Ich fasste mich wieder und betrachtete meiner Kammer, immer noch auf dem Fußboden kniend. Irgendetwas hatte sich hier verändert. Es war zwar dunkel und nur eine Kerze erhellte den Raum, doch alles sah so leer aus. *Auf meinem Tischchen neben dem Bett stand stets die alte Spieldose, die ich als Kind von meinem Vater erhalten hatte. Er setzte sich oft abends an mein Bett, zog sie auf, solange bis ich eingeschlafen war.* An ihrer Stelle lag nun ein Leinenbündel. Verdutzt stand ich auf und machte mir erst im letzten Augenblick Gedanken darüber, dass ich mich so nah an der Türe nicht hastig bewegen sollte, damit man mich nicht des Lauschens verdächtigt oder sogar überführte. So ließ ich mir Zeit und ging leise zu meinem Tischchen hinüber. Vorsichtig berührte ich das Leinentuch und das Muster kam mir sofort bekannt vor. Das Tuch benutzte meine Mutter, um unsere Kleidungsstücke ein zu packen, denn dann besuchten wir oftmals meinen Onkel in der nahegelegenen Stadt und blieben dort meist über Nacht. Ich öffnete erstaunt und neugierig das Bündel. Darin befanden sich einige Kleidungsstücke von mir und obenauf meine Spieldose. Ich streichelte über ihre glatte hölzerne Hülle und war erleichtert, sie wieder zu haben. *Doch was machte das Bündel mit all meinen Habseligkeiten darin auf dem Tischchen?* Ich nahm die Spieldose heraus und wollte sie gerade aufziehen, als die Dachbodenluke geöffnet wurde. Meine Mutter trat ein und das einfallende Licht, das in meine Kammer strömte, umgab sie. Mein Herz füllte sich mit Ehrfurcht. Sie setzte sich auf mein Bett, deutete auf den Platz neben ihr und ich folgte ihrer Bitte. Schweigend saßen wir beide da und meine Mutter betrachtete das aufgeknöpfte Bündel auf dem Tischchen. Es verging einige Zeit bis sie zu mir sprach: “Mein liebes Kind, du musst jetzt stark sein und tun, was dein Vater von Dir erwartet. Wir sind den beiden Fremden verpflichtet. Unser Leben und unser Besitz hängen nur von dir ab.“ Meine Mutter sprach leise, ihre Stimme strahlte Anmut und Würde aus, obwohl sie von Schmerz beflügelt war. Sie nahm meine Hand: „Du musst mit ihnen gehen! Du bist dem Älteren der beiden versprochen. Seine Frau starb letzten Sommer und da dein Vater in der Schuld dieses Mannes ist, gab er ihm dieses Versprechen!“ Entsetzt sah ich meine Mutter an. Ich war nicht fähig etwas zu sagen. Alle meine Worte, alle meine Fragen - alles wurde unwichtig. Und erst viel später wurde mir bewusst, dass ein Teil meiner Selbst in dieser Nacht starb. Sie fuhr fort: „Er sagte, er wird gut für dich sorgen und er ist wohlhabend. Du wirst es besser haben als hier!“ „Ich kann hier nicht weg, meine Brüder, unser Haus, der Garten, Vater und du!“ Ausweglos war die Situation. „Ich habe Angst vor diesem Mann, er ist alt und seine Augen sind voller Gier und Hass!“ Ich musste mich zwingen nicht laut zu werden. Meine Mutter packte mich am Arm und ihr Tonfall wurde ruppiger: „Seine Augen? Hast du etwa spioniert?“ Sie fixierte mich und in diesem Moment war ich davon überzeugt, sie konnte meine Gedanken lesen. Ich sah nach unten und Trauer überwältigte meinen Geist. Ich stand auf und versuchte etwas von der Kraft und der Würde meiner Mutter in mich aufzusaugen. Ich drehte mich zu ihr um. Eine Träne rann ihr über das Gesicht und leise fügte sie hinzu: “Sie wollen noch heute Nacht aufbrechen! Sie ließen sich nicht zum Bleiben überreden! Nimm dein Bündel und komm!“ Ich fühlte mich unendlich leer, zog meine Stiefelchen an und warf mir meinen Umhang über. Ich versuchte mir einzureden, das alles passiere nicht mit mir und ich sähe das alles nur aus weiter Entfernung. Das geschehe irgendeiner anderen Person! Meine Mutter reichte mir mein Bündel. Ich blickte mich noch einmal in meinem Zimmer um und folgte ihr nach unten.

Meine Knie waren weich wie Butter und ich hatte Mühe einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich versuchte Würde auszustrahlen und mir nichts anmerken zu lassen. Als meine Mutter die Tür öffnete, wandten sich alle Anwesenden zu mir. Ich trat ein, hielt mein Haupt geneigt und versuchte keinen im Raum genauer zu betrachten. Der Alte stand auf und sein Sohn tat es ihm gleich. „Komm her und lass dich ansehen!“ Seine Worte klangen fordernd und bestimmend. Ich schritt auf ihn zu und blickte ihn an. „Jung ist sie noch! Wie alt bist du mein Kind?“ fragte er mich mit einer Gier in den Augen, die sich um meinen Leib schlängelte, als wolle sie mich ganz und gar verschlingen. „17!“ antwortete ich ihm leise, zu mehr sah ich mich auch nicht im Stande, denn er jagte mir Angst ein. Ein hämisches Grinsen zog sich über sein breites Gesicht und ich empfand tiefe Abscheu. „Lasaij, schau nach den Pferden, wir haben was wir wollten. Lass uns keine Zeit mehr verschwenden!“ befahl er seinem Sohn. Er nickte allen zum Abschied zu, verbeugte sich und wandte sich zur Tür. Asam ging mit ihm hinaus zu den Pferden. „Komm schon, verabschiede dich von deinem Vater! Jetzt, Gultan, ist deine Schuld beglichen! Du bist jederzeit wieder in einer meiner Tavernen willkommen! Ich könnte noch einen guten Pferdehirt gebrauchen und du hast zwei kräftige Söhne!“ Er lachte laut auf. In diesem Augenblick erhob sich auch mein Vater und sah ihn mit scharfen drohendem Blick an. Er wollte ihm etwas entgegnen, doch meine Mutter legte ihre zarte Hand auf seine Schultern und er hielt inne. „Beeile Dich, ich will fort von hier!“ wies er mich schroff an. Ich drückte meine Mutter, schloss meinen Bruder in die Arme und neigte mein Haupt vor meinem Vater. Ihm war so schwer ums Herz und er bereute seinen Fehltritt so sehr. Mein Vater ging auf mich zu und drückte mich an sich. Ich war so überrascht, seine Umarmung war innig und passte nicht zu dieser großen mächtigen Gestalt. Er flüsterte mir in mein Ohr: “Tochter verzeih mir!“ Ich drückte ihn sanft weg von mir, berührte seine Wange und lächelte ihn an. Ich konnte nichts sagen, das alles war unglaublich. Ich nickte ihm zu, mit Tränen in den Augen drückte er mich noch einmal fest an sich, dann wandte ich mich ab und ging vor Seld die Türe hinaus. Draußen war der Wind eisig und es war dunkel. Lasaij hielt das Pferd seines Vaters in der Hand und half ihm beim Aufsteigen. Asam hatte Lasaijs Ross und übergab es ihm. Asam sah mich mit glasigen Augen an, er war der Jüngste in unserer Familie und hing sehr an mir. Ich beugte mich zu ihm hinunter und umarmte ihn: „Pass mir auf alle gut auf, kleiner Mann!“ Ich sah zu den beiden Männern auf, die bereits zu Pferd saßen. Lasaij reichte mir die Hand, als Zeichen zu ihm auf das Pferd zu steigen. Ich zögerte, als der Alte sich umdrehte und zu mir rief: „Ich hätte Dich gern auf mein Pferd genommen, doch wie du siehst, ist für dich hier kein Platz mehr!“ Wiederum lachte er laut auf , während er sich seinen Bauch streichelte, gab dem Pferd die Sporen und mit einem lauten Schrei galoppierte er los. Lasaij folgte ihm und ich hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Ich konnte mich nicht einmal mehr umdrehen und auf das Haus zurückblicken. Lasaij sprach kein einziges Wort zu mir. Seld hob noch einmal mit einem lauten Lachen die Hand zum Abschied und ritt in die Dunkelheit hinein. Ich getraute mich nicht einmal Lasaijs Rücken zu berühren, um mich festzuhalten. Er zeigte mir gegenüber keinerlei Reaktion. Nur ein „Halt dich gut fest, nicht dass du mir vom Gaul fällst, mein Vater würde mich strafen!“ kam ihm über die Lippen. Ich sehnte mich schon jetzt nach meinem Zuhause -  an all die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, an die weichen Gesichtszüge meiner Mutter und die Balgereien mit meinen Brüdern, die Erhabenheit meines Vaters, seine Güte und Wärme. Und erst jetzt begann es mit bewußt zu werden, was geschehen war, dass man mich weggenommen hatte von allem Vertrauten. Dass ich hierher nicht mehr zurückkommen werde. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und sie rannen mir in dicken Tropfen über die Backen. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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