Heidemarie Rottermanner

Das Christkind

Dezemberwind brauste durch die kahlen Gassen der Stadt. Nebelkälte kroch in die Kleider der eilenden Menschen. Julian zog fröstelnd den Kragen seiner Jacke höher und blickte auf die hell erleuchteten Fenster der Häuser. Seine kleine Studentenwohnung war geheizt, er könnte sich ins Bett kuscheln und Musik hören. Es wäre bedeutend gemütlicher als auf der kalten Straße. Doch die Einsamkeit war es, die Julian raus in die Kälte trieb. Keiner seiner Freunde leistete ihm Gesellschaft, sie waren nach Hause zu ihren Familien gereist. Nur Julian blieb in der Stadt, die Eltern waren wie jedes Jahr in die Südsee geflogen und verbrachten Weihnachten in den Tropen. Das Weihnachtsgeschenk, ein kleines Päckchen mit einem länglichen Kuvert versehen, lag achtlos auf seinem Schreibtisch. Julian wusste zu genau, was sich darin befand: eine Schachtel Pralinen und ein Scheck in ansehnlicher Höhe. Er seufzte, viel lieber hätte er die Weihnachtsnacht mit seinen Eltern verbracht. Es war immer noch besser ihr ständiges Nörgeln zu ertragen, als gerade zu Heiligabend alleine zu sein.

 Vielleicht sollte er in eine der Kneipen einkehren? Bei Bier, Wein und Cocktails ließen sich Sorgen und Einsamkeit vertreiben. Aber sein Innerstes widerstrebte diesem drängenden Wunsch. Stimmengewirr, Zigaretten und Kaffeeduft, auch diese Form der Unterhaltung wünschte Julian momentan nicht. Lieber durch die Straßen laufen und den Schmerz betäuben. Doch plötzlich stockte sein Schritt und Julian blieb vor einer Kirche stehen.
Sein Blick wanderte zum Eingang. Vorsichtig blickte er sich um, öffnete entschlossen das schwere Tor und schritt ins Innere.
Der Geruch von Weihrauch strömte ihm entgegen. Die Kirche war hell erleuchtet, leise schlich Julian zu den hinteren Kirchenbänken. Eine junge Frau rückte bereitwillig zur Seite, in ihren Armen schlief ein kleiner Junge.
Julian ließ sich tragen von der Stimmung, sein Blick glitt in die Menge. Kinder, Jugendliche und Erwachsene saßen auf ihren Plätzen. Erwartungsvoll blickten sie zum Altar.
Vor dessen Stufen spielten und sangen die kleinen Kinder, sie hielten Laternen in den Händen. Einige hatten Schaffelle um ihre Schulten, so als wären sie Hirten. Ein Mädchen trug ein weites, blaues Tuch, in ihren Armen wiegte sie eine Puppe. Neben ihr stand ein kleiner Junge und legte fürsorglich einen Arm um sie.
„Im ärmlichen Stall hatte die Frau ihr Kind geboren, nun legte sie es behutsam in die Futterkrippe“ , eine Frauenstimme sprach erklärende Worte zum Spiel der Kinder.

Julian versuchte sich an die Geschichte zu erinnern. Welche Bedeutung hatte Weihnachten? Warum feierten die Menschen dieses Fest? Nun fiel es ihm wieder ein: Die Geburt des Christkindes, der König, der als kleines Kind auf die Welt kam, um diese zu retten. Doch wozu und warum? Endete die Geschichte nicht mit dem Tod am Kreuz? Warum nur war es so gewesen? Was lag dazwischen?


Wieder konzentrierte sich Julian auf das Weihnachtsspiel der Kinder.
Plötzlich trat ein weiß gekleidetes Mädchen zu den Hirten. Auf dem Kopf trug das Kind eine Krone mit dem Stern. Mit leiser Stimme sprach es zu ihnen und erzählte vom Neugeborenen, das im Stall geboren wurde. Weitere Jungen und Mädchen, diese stellten die Engel dar, eilten herbei und sangen Lieder vom himmlischen Kind.

Julian spürte die Leere in seinem Herzen. Warum war er traurig?

War es seine Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit?
Da glitt sein Blick zu dem schlafenden Kind in den Armen der jungen Frau.

Neugierig beugte er sich näher, sah die blonden Locken, die sich in die Stirn kringelten, die zierliche, kleine Nase und den roten Mund. Geborgen schlief das Kind in den Armen der Mutter. Liebevoll strich die Frau über seine Wangen und Julian konnte das Glück in ihren Augen sehen. Liebe, wann zuletzt hatte ihn seine Mutter mit solcher Hingabe angesehen?
Im Geiste hörte er ihre nörgelnde Stimme: „Hast du deine Aufgaben ordentlich gemacht, in der Schule aufgepasst?“ - „Ach Kinder sind schwierig, sie vermiesen einem das Leben …“- „Immer muss man auf dich acht geben und frech bist du auch noch, hörst nie auf meine Worte …“ - „Ach ja…“

Immer wieder wanderten Julians Blicke zu dem schlafenden Kind in den Armen der Frau. Jetzt seufzte der Kleine im Traum und steckte seine geballte, winzige Faust in den Mund.
Plötzlich kam Bewegung in die Bankreihen, Frauen, Männer und Kinder standen auf und schritten andächtig zum Altar.
Die junge Frau blickte auf ihr schlafendes Kind und zu den Menschenreihen. Julian beugte sich vor und streckte die Arme aus. „Geben Sie mir das Christkind, ich passe auf, ja?“ Im Gesicht der Mutter stand ein ratloser Ausdruck, konnte sie dem Fremden trauen?
Eine ältere Frau nickte ihr freundlich zu und flüsterte: „ Gehen Sie nur. Bei uns ist der Kleine gut aufgehoben!“
Behutsam legte die Frau ihr Kind in Julians Arme. Dann stand sie auf und schritt ebenfalls nach vorne.
Julian betrachtete das Kind. Er hörte den ruhigen Atem des Kleinen, blickte auf den leicht geöffneten Mund und die geschlossenen Augen. Jetzt zuckten die Augenlider und die winzigen Hände bewegten sich. Julian strich behutsam über die rosenfarbene Haut und flüsterte: „Schlaf nur, ich gebe auf dich Acht.“
Und wie von selbst bewegte er seine Arme im wiegenden Rhythmus. Der junge Mann merkte gar nicht, dass die Mutter des Kindes wieder neben ihm Platz genommen hatte. Da blickte er auf und sah sie an. Tief im Gebet versunken, saß die Frau da. Ihre Hände hielt sie gefaltet und ihre Lippen bewegten sich leise. Julian konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Die Harmonie in ihrem Gesicht faszinierte ihn zutiefst. Fragend blickte er die Frau an, sie öffnete die Augen, lächelte und nickte. Da wusste Julian, er durfte den Engel weiterhin in seinen Armen halten. Sein Herz jubelte vor Freude.
Als die Messe zu Ende war, strömten die Kirchenbesucher zum Ausgang. Langsam erhob sich Julian, in seinen Armen lag noch immer das schlafende Kind.
„Wenn ich darf“, fragte Julian zaghaft, „dann möchte ich Sie noch Stück begleiten und das Kind tragen, bitte!“
„Dann kommen Sie doch einfach mit. Ich heiße übrigens Inge und wir können uns mit du ansprechen. Klingt nicht so förmlich“, sagte die Frau kameradschaftlich. „Ich heiße Julian und bin damit einverstanden“, antwortete der junge Mann.

Schweigend gingen sie durch die hell erleuchteten Gassen, bis sie vor einem Wohnblock Halt machten. „Wenn du Zeit hast Julian“, sagte Inge, „dann möchte ich dich in unsere kleine Wohnung einladen, mein Mann wird schon warten.“
„Er wird nicht erfreut sein, wenn ich bei euch aufkreuze“, antwortete Julian und in seinen Augen lag ein schuldbewusster Blick. „Abwarten“, lächelte Inge und sperrte die Wohnungstüre auf.
Es roch nach Zimt, Kerzen, Festtagsbraten und Äpfeln.
Ein großer, schlanker junger Mann trat ihnen entgegen. Er nahm Julian das schlafende Kind aus den Armen und blickte ihn freundlich an.


Julian sah sich in der kleinen, bescheiden eingerichteten Wohnung um. Sofort spürte er den Frieden und die Harmonie.
In der Küche dampfte der Tee in den Schalen. „Draußen ist es kalt, komm Julian, stärke dich ein wenig“, sagte Inge einladend.

Der junge Mann ließ sich auf die Bank fallen und legte seine kalten Finger um die Teetasse. „Wie heißt das Christkind?“, frage er schließlich. „Christoph“, antwortete Inge. „Ich danke dir für deine Hilfe. Du hast dich so liebevoll um unseren Kleinen gekümmert.“

 

Als Horst in die Küche kam sagte Inge erklärend: „Julian habe ich in der Kirche kennen gelernt. Rührend hat er mir seine Hilfe angeboten und auf unser schlafendes Kind Acht gegeben. Somit konnte ich zur Kommunion gehen.“

Horst reichte Julian die Hand und sagte freundlich: „Auch ich möchte dir für deine Hilfe danken und ich freue mich, dass du hier bist.“


,,Ihr seid nett zu mir obwohl ich euch fremd bin“,antwortete Julian zaghaft.

Horst legte den Arm um seine Frau und sagte schließlich: „Meine liebe Inge hat die besondere Begabung zu spüren, wenn es dem anderen nicht gut geht. Du bist nicht der erste Gast, der den Weg in unsere kleine Wohnung gefunden hat. Oft ist es uns beiden schon gelungen, verzweifelten Menschen ein wenig Hoffnung zu schenken und diese konnten getröstet zurück nach Hause kehren.

Julian, wie lange wohnst du nun schon in unserer Stadt?“, fragte Horst.
 
,,Im Herbst begann ich hier mein Studium auf der Universität", antwortete Julian.

In eurer Stadt gefällt es mir sehr gut. Ich habe nette Freunde gefunden. Doch Weihnachten verbringen alle bei ihrem Familien zu Hause. Meine Eltern sind, wie jedes Jahr, in die Südsee gereist.

Die Einsamkeit bedrückte mich zutiefst. Ich gehe eigentlich nie in die Kirche. Doch seltsam, heute zog es mich hinein. Dann sah ich Inge und das schlafende Kind in ihren Armen. Und die Bilder meiner Kindheit wurden wieder wach und ich..."
Julian blickte an den beiden vorbei zum Fenster. Es hatte zu schneien begonnen und die Lichter der Stadt verschwanden hinter dem weißen Schleier der Schneeflocken. Julian schluckte krampfhaft, der Kloß ihm Hals ließ ihn verstummen.

Inge sagte mitfühlend: „Gleich gibt es bei uns die Weihnachtsbescherung. Na wie wäre es, wenn du uns ein wenig Gesellschaft leistest. Wir freuen uns, dass du mit uns feierst. Bleibe solange du es möchtest.“
Julian blickte noch immer zum Fenster, er kämpfte mit den Tränen. Bleibe solange du es möchtest, und wir freuen uns, welch warme Worte.

Christoph war inzwischen aufgewacht. Inge nahm das Kind in den Arm und gemeinsam gingen alle ins Wohnzimmer.

Inmitten des Raumes stand der festlich geschmückte Christbaum. Unzählige Wachskerzen brannten an seinen grünen Zweigen. In den Weihnachtskugeln spiegelte sich der Glanz.

Horst und Inge sangen Weihnachtslieder. Christoph saß am Boden und bestaunte den Kerzenschein, die silbernen Kugeln, Lametta, rosa und weiß gewickeltes Zuckerpapier und den Tanz der Sternspritzer.


„Wir wünschen dir fröhliche Weihnachten“, sagten Horst und Inge wie aus einem Mund. Die junge Frau lächelte und überreichte Julian ein Päckchen.
,,Danke“, sagte dieser leise. Verstohlen wischte Julian in seinen Augen, dann beugte er  sich zum Kind und flüsterte: „Danke, liebes Christkind…“

 

Bild: Dagmar  http://de.sevenload.com/bilder/dAwrahs-Sonnenuntergang

Text: Heidemarie

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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