Sandra Ruppe

Oskargeschichten

Zaghaft wurde die Tür zum Direktorenbüro geöffnet und der elfjährige Oskar betrat den Raum. "Ah, du bringst deinen Strafaufsatz." brummte der beleibte Direktor. Oskar reichte ihm mit gesengtem Blick einige Seiten Papier, dann machte er Anstalten gleich wieder zu gehen. Doch Direktor Klapper hielt ihn mit den Worten "Stop mal Sportsfreund!" zurück. Langsam drehte Oskar sich zu dem großen Eichenschreibtisch um, ohne dabei den Blick zu heben. "Oskar" begann der Direktor in versöhnlichem Ton. "Kannst du mir wohl einen Gefallen tun?" Oskar quittierte diese Frage mit eifrigem Nicken. "Schaffst du es, das ich einmal zwei Wochen lang nichts von dir hören muss?" Wieder nickte Oskar. Damit war der Direktor zufrieden und mit einer vagen Handbewegung in Richtung Tür zeigte er, das Oskar für heute entlassen war. Mit einem Seufzer sank der Direktor noch ein Stückchen tiefer in den großen Ledersessel und begann zu lesen.

"Warum ich und der Austauschschüler Dariusz nicht am Wandertag teilnahmen." Ein Strafaufsatz von Oskar Heinemann.

Um alles genau zu berichten, muß ich wohl an dem Tage beginnen, an dem unsere Klassenlehrerin Frau Lichtenheld uns von der polnischen Austauschklasse erzählte. Alle Schüler waren begeistert. Wir durften unseren eigenen Gastschüler aus einem Topf mit Losen ziehen und so habe ich Dariusz gewonnen. An dieser Stelle lasse ich aus, das meine Mutter extra ein Gästebett in meinem Zimmer aufstellte und mich mehrfach ermahnte, mich ordentlich zu benehmen, damit Dariusz sich gleich wie zu Hause fühlen konnte und fahre dort fort, als wir uns endlich kennenlernten. Wir haben uns sofort angefreundet, obwohl ich Dariusz nur schlecht verstand, besonders wenn er deutsch mit mir sprach. Doch ich habe mir zu Herzen genommen, was unser Erdkundelehrer Herr Müller immer sagt: "Seid fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen und tolerant und ihr werdet viel voneinander lernen." Genau das habe ich mit Dariusz gleich ausprobiert. Nachdem er meine Kirschkernzwille sah, zeigte er mir ein paar neue Tricks, um besser treffen zu können. Ich habe jetzt verstanden, was Herr Müller damit meinte.

Nun bin ich eigentlich da angekommen, wo es richtiger gewesen wäre anzufangen. Am zweiten Tag war nämlich ein Ausflug mit der Bahn nach Berlin geplant, um unseren polnischen Gästen die deutsche Kultur näher zu bringen. Voller Vorfreude und mit gepacktem Rucksack stand ich vor der Haustür und wartete auf Dariusz. Da sah ich auf der Straße die Wagen des Zirkus, die ausgerechnet an diesem Tag Einzug in unsere Stadt hielten. Sofort rannte ich nach oben, um Dariusz diese Neuigkeit zu überbringen.
"Sind Tiger dabei?" fragte er mich und ich überlegte. Ich hatte vergitterte Wagen gesehen, aber da wir noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges hatten, beschlossen wir nachzusehen.

Auf der Festwiese stellten die Zirkusleute die Wagen im Kreis auf und wir konnten einen Blick in die Käfige werfen. Tatsächlich schlief ein dicker Tiger in einem der Wagen. Dariusz fragte mich, wo den seine Säbelzähne wären und ich bemühte mich vergeblich ihm zu erklären, das Tiger keine Säbelzähne haben. Doch Dariusz bestand darauf.

"Der Mensch lernt sein ganzes Leben lang." ,steht über der Tür unserer Schule und das stimmt ja auch. Deshalb entschloß ich mich, unser kleines biologisches Problem zu lösen, indem ich einen der Zirkusleute fragte. Doch der Mann war offenbar nicht bereit unseren Wissensdurst zu stillen, sondern brüllte nur: "Haut ab! Hier ist kein Spielplatz! Die Vorstellung beginnt erst heute nachmittag! Macht das ihr wegkommt!" Der Klügere gibt nach, sagt ein Sprichwort und darum brüllten wir nicht zurück, sondern nahmen die Beine in die Hand.

Als wir am Bahnhof ankamen, mussten wir leider feststellen, das wir uns zu lange über die Säbelzähne des Tigers den Kopf zerbrochen hatten, denn der Zug war bereits ohne uns abgefahren. Ich machte mir große Sorgen, daß Dariusz nun die deutsche Kultur nicht kennenlernen würde, weswegen er ja extra aus Polen hergekommen war. Doch der erwies sich als echter Freund und begann sogleich mein Gewissen zu beruhigen. Er sagte, es wäre doch genauso gut, die deutsche Kultur in meiner Heimatstadt zu entdecken. Da gab ich ihm recht. Meine Großmutter sagte nämlich immer, mach aus allem Übel das Beste und daran wollten wir uns halten.

Ich hatte von meiner Mutter 30 DM Taschengeld bekommen und so machten wir uns auf den Weg, die deutsche Kultur in meiner Heimatstadt zu finden. Zuerst begannen wir damit Dariusz Deutschkenntnisse mit ein paar Praxisübungen aufzubessern. Wir besuchten verschiedene Geschäfte und Dariusz hatte sehr interessante Gespräche mit dem Verkäufer des Spielzeugladens über die neuste Technik bei ferngesteuerten Autos, mit der Bedienung der Imbissbude über echte deutsche Würstchen und mit dem Besitzer des Streichelzoos über polnische Ziegen. Leider waren unsere Finanzen auch ziemlich schnell erschöpft und gegen Nachmittag konnten wir uns dann entscheiden, ob wir noch Karten für die erste Zirkusvorstellung oder Eintrittskarten für das Heimatmuseum meiner Stadt kaufen wollten. Ich ließ Dariusz die Wahl, denn schließlich kannte ich die deutsche Kultur ja schon. Dariusz entschied sich für den Zirkus, denn der würde bald weiterziehen, was man von dem örtlichen Heimatmuseum nicht behaupten kann.

Nun habe ich alles geschrieben, genau wie es gewesen ist und dass, wir nicht verantwortungslose und verschwenderische Knaben sind, wie Frau Lichentheld uns bezeichnete, als sie wiederkam. Aber trotz meiner Erklärungen wollte sie nichts davon wissen, daß Dariusz die deutsch Kultur doch noch kennen gelernt hat und daß nicht Leichtsinn und Verschwendungssucht uns geleitet haben, sondern Wissensdurst.

Der Direktor legte lachend den Strafaufsatz beiseite. "Unschuldig" brummte er "unschuldig wie immer!" Dann griff er zu einem dicken Ordner im Regal, der bereits zu Hälfte mit Papier gefüllt war und heftete lachend die Zettel dazu.
Auf der Rückseite des Ordners stand von der Sekretärin fein säuberlich geschrieben: "Oskar"

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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