Michael Reißig

Die panische Flucht eines VW-Käfer (Teil 2)

 

Pünktlich um 6.30 Uhr stand Rolf an der Werkbank und begrüßte seinen Mitarbeiter Egon mit einem verhaltenen Handschlag und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. In dem selben Augenblick wurde die hellblau gestrichene Holztür geöffnet und fast unbemerkt schlich sich Helmut – der Bereichsleiter – in die Schlosserei. Sein Alter – 63 Jahre. Satte 95 kg verteilten sich gut auf 1,75m Körpergröße. Das sehr lichte weißgraue Haar entsprach seinem Alter. Zwar klang seine Stimme oft sehr rauh, aber auch herzlich. Zu einem Scherz war er immer aufgelegt.

Helmut begrüßte Rolf und Egon mit einem festen Händedruck und sagte zu Rolf:

„Na Rolf, was hast Du denn am Wochenende so gemacht?“ „Ich habe Westbesuch bekommen, mein Schwager mit Frau“, erwiderte er trocken. „Das habe ich mitbekommen. Hinter dem Werkstor steht doch dieses schicke Wägelchen, der weiße VW-Käfer. Während er das sagte huschte ein undefinierbares Lächeln über sein rundes Gesicht. Hatte er vielleicht eine Vorahnung was da vielleicht noch kommen könnte? „Stimmt!“, entschlüpfte es ihm. Rolf überlegte nur kurz: „Helmut, mein Besuch bleibt noch bis Sonnabend. Kann der Wagen die paar Tage dort stehen bleiben?“ „Is keen Thema, die andren tuuns doch ooch“, antwortete Helmut im hochsächsischen Akzent.

Ein merkwürdiges Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. Doch Rolf wollte dem Frieden doch nicht ganz trauen, obwohl er ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem Chef pflegte.

Rolf wurde wegen seiner Freundlichkeit, Sachlichkeit, vor allem aber wegen seiner fachlichen Kompetenz von allen Mitarbeitern sehr geschätzt und dutzte alle Kollegen, auch Helmut.

Selbst an den kniffligsten Aufgaben zerrieb er sich oft den Kopf, ein geht nicht gab es nicht.

Dieses war in der „Sozialistischen Planwirtschaft“ gar nicht so einfach. Überall fehlte es an Ersatzteilen, die oft in mühevoller Kleinarbeit selbst gefertigt werden mussten.

Das Klima in diesem kleinen vierzigköpfigen Unternehmen war sehr familiär. Der Zusammenhalt endete auch nicht am Ausgang des Werkstores. Bei gemeinsamen Betriebsfeiern wurde kräftig das Tanzbein geschwungen und ein Mal im Monat rollten in beschwingter Atmosphäre die Kugeln auf der Kegelbahn des örtlichen Gasthofes.

Eine schmächtige Frau öffnete die Tür zur Schlosserei und rief aus:„Rolf, mein Keilriemen ist gerissen. Kannst du mal schnell in die Facherei kommen?“ „Mach das“, warf der Bereichsleiter ein. „Wenn Du fertig bist gehst du erst mal in die Zwirnerei, da hat es wieder einige Spindelbänder weggerissen.“ „Geht in Ordnung, antwortete Rolf kurz und bündig. Rolf schritt in das an die Werkstatt angrenzende Lager, kletterte fünf Stufen die Leiter hinauf und fingerte nach dem Keilriemen.

Rolf bemerkte nicht, dass Helmut in diesem Augenblick die Werkstatt verließ.

Rolf wetzte in die Facherei. Routinemäßig zog er den Keilriemen über die Scheiben.

Mit dem zerrissenen alten Keilriemen in der Hand schob er sich in den Aufzug, ließ die Tür ins Schloss fallen und drückte auf den schwarzen Plastikknopf. In der fünfzig Meter langen Durchfahrt riss er die Aufzugtür auf.

Doch plötzlich rollte ein hellroter Lada auf ihn zu.

Der Mann, der leicht gebeugt im Auto saß, hatte gekräuseltes pechschwarzes Haar. Die viel zu große, leicht gekrümmte Nase und die stark angesetzten Wangenknochen passten wie die großen giftgrünen Augen zu seiner kräftigen Statur Rolf erkannte den Mann sofort. Vor Schreck glitt ihm der kaputte Keilriemen aus seiner rechten Hand . Es war Norbert, der Technische Direktor. Er war in der Lage in Bruchteilen von Sekunden sich wie ein Leuchtkäfer zu verwandeln. Manchmal glich er einem Scherzbold, aber sobald etwas nicht so lief, wie er sich das vorgestellt hatte, konnten sich in Blitzeseile die Lachfalten in seinem Gesicht in Zornesfalten verformen.

Die Betriebsuhr zeigte 6.40 Uhr an. Eigens war der Technische Direktor aus dem drei Kilometer entfernten Stammwerk angebraust gekommen. Was wollte er nur zu dieser frühen Stunde? Die Antwort konnte sich Rolf selbst ausmalen.

Norbert schlug hastig die Fahrertür auf. Er straffte seine Gestalt und baute sich bedrohlich vor Rolf auf. Nicht nur seine fadendünnen Beine zitterten, Rolfs ganzer schmächtiger Leib, der ganz und gar nicht zu Norberts muskulöser Gestalt passte, zitterte wie ein vor einer Schlange hockendes Kaninchen. Trotz seines Alters von nur 51 Jahren klebten nur noch zwei kümmerliche Haarbüschel auf seinem sonst so kahlen Kopf. Die noch verbliebenen Haare sollten aber innerhalb der nächsten Sekunden noch grauere Konturen bekommen.

„Rolf, wem gehört der Wagen hinter dem Eingang?“, prustete es aus Norbert heraus, ohne ihn überhaupt erst mal zu begrüßen.

„Der ist meinem Schwager“, brummte Rolf. Seine Augen, die sich halb gesenkt auf das Kopfsteinpflaster richteten, flackerten ängstlich im Takt.

„Dieser Wagen hat unverzüglichst und sofort aus dem Betriebsgelände zu verschwinden!“, polterte Norbert während seine grünen Augen gefährlich blitzten.

Rolfs Antwort folgte prompt: „Der schläft doch noch!“ „Ist mir doch egal. Fest steht, dieser Wagen muss sofort raus, ansonsten zieht das Konsequenzen nach sich!“ raunzte Rolf, der keinerlei Widerspruch duldete.

Wütend presste Rolf die gelben Zähne auf die Unterlippe.

„Ich weiche erst von der Stelle wenn der Wagen raus ist! Ist dir das klar!“, zischte Norbert wütend. „Ich hol meinen Schwager sofort!“, murmelte Rolf fassungslos. Unzählige Gedankenfäden hatte Rolf in seinem hochroten Kopf zusammengesponnen, die das Böse erst so richtig beflügelten.

Rolf sprintete die fünfzig Meter bis zum Hintereingang des Hauses, als würde er um sein Leben rennen. Eilig schlug er die kleine Holztür auf und stiefelte die schmale Hintertreppe hinauf.

Reimund schlief noch seelenruhig auf der Couch des Wohnzimmers.

Rolf klingelte. Reimund öffnete flugs die Augen. Der Schreck war ihm sichtlich in die Glieder gefahren. Er richtete sich sofort auf und rief: „Was ist denn hier los!“ „Reimund, du musst sofort aufstehen. Der Technische Direktor ist gerade wie ein geölter Blitz herbeigeeilt gekommen. Er will, dass dein "Käfer" sofort verschwindet!“, brüllte Rolf inbrünstig durch die schmale, noch verschlossene, dünne Holztür.

Entsetzt sprang Reimund von der Couch und riegelte die Tür auf.

„Siehst du, ich habe es dir doch gleich gesagt“, sagte Reimund mit zorniger Stimme.

Von panischer Angst getrieben schlüpfte er aus seinem hellgelben Schlafanzug und streifte sein rotes, mit blaugrünen Mustern kariertes Hemd über. Hektisch fuhr er in die weißgraue Hose, blieb dabei aber hängen und grollte: „Verdammt, auch das noch!“ „Der wird mich bestimmt fertig machen, dann bin ich ein Fall für die Stasi“, mutmaßte Reimund. „Der Technische Direktor wird dir bestimmt nicht gleich den Kopf abreißen, der ist ansonsten ganz okay“, versuchte Rolf Reimund vergeblich zu beschwichtigen.

Reimund schlüpfte in seine schwarzen Schuhe, schnürte diese zu und stürzte gemeinsam mit Rolf die enge Hintertreppe hinunter. Sein Gesicht hatte sich krebsrot gefärbt und badete förmlich im Angstschweiß. Rolf und Reimund schritten über den Hof und durch die Unterführung, welche die beiden Gebäude miteinander verband. Schon von weitem grüßte der kleine Flitzer aus Wolfsburg, der unschuldig stolz neben dem matten Trabbi und dem blassen Wartburg ruhte. Doch vom Technischen Direktor weit und breit nichts zu sehen. Er hatte – Gott sei Dank – schnell das Weite gesucht. Seine Drohgebärden schienen doch nur Schall und Rauch zu sein. Vielleicht wollte er Rolf auch nur Angst einjagen..

Natürlich wusste auch Norbert, dass er auf so einen erfahrenen Mitarbeiter wie Rolf nicht so einfach verzichten konnte, da er in der Lage war Ideen wie am Fließband zu produzieren. Auch Norbert hatte schon reichlich von seinem Erfahrungsschatz profitiert.

Es wäre, als hätte sich eine Lawine Geröll von einem schroffen Felsbrocken gelöst. Sowohl Reimund als auch Rolf hörten die unsichtbaren Steine reihenweise plumpsen.

Es war sehr frisch. Glitzernder Rauhreif lag auf den Grashalmen und tauchte auch die Äste und Blätter in ein betörend-weißes Licht. Die Morgensonne lugte verlegen durch das Astwerk knorriger Kastanienbäume und schälte den wabernden Morgennebel aus dem gelbgrün gefärbten Blätterwerk.

Der arme „Käfer“ wusste aber nicht, warum er so schnell und so plötzlich verschwinden sollte.

Ein „Volkswagen“- also ein Wagen der dem Volke gehört, in einem „Volkseigenen Betrieb“, in einem Betrieb der im Besitz des Volkes ist, dieses müsste doch irgendwie zusammenpassen. Da wäre doch gerade der „Volkswagen“ im „Volkseigenen Betrieb“ eigentlich am richtigen Platze. Doch nichts dergleichen. Wenn schnittig-glitzernde Nobelkarossen hinter der Propagandaschrift protzen würden, könnte man das noch verstehen – aber doch nicht ein so „harmloser“ und zudem noch „unschuldiger“ VW-Käfer.

Ein „Volkswagen“ in einem „Volkseigenen Betrieb“ und dieses einen Tag vor dem runden Republikjubiläum – eine handfeste politische Provokation ohne Gleichen! Zumindest für die Oberen, für das einfache Volk natürlich nicht. Die amüsierten sich eher darüber, denn die Kunde vom „strengen Verweis“ des kleinen „Käfers“, sollte sich noch wie ein Lauffeuer in der kleinen Ortschaft herumsprechen. Unzählige Male wurde Rolf daraufhin angesprochen.

Selbst in der Dorfschule schien schon fast jeder Bescheid zu wissen.

Rolfs Sohn, Frank, musste alles ausplaudern.

Herr Nobis, der Deutschlehrer, frotzelte zu Beginn der Unterrichtsstunde:

„Na Frank“..., zögerte Herr Nobis ein wenig, während ein ulkig spitzes Lächeln über sein ganzes Gesicht huschte. „Ist der VW endlich raus aus dem Betrieb. Verdammte Sauerei, Volkswagen im Volkseigenen Betrieb!“ Die ganze Klasse lachte sich in den Bauch hinein, so dass selbst die Bartspitzen des Herrn Nobis vibrierten und die Wände bedrohlich wankten. Herr Nobis war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Spaßvogel. Der Schalk saß ihm oft sehr tief im Nacken.

Er war fast immer gut drauf und demzufolge der beliebteste Lehrer des Ortes.

Der „Käfer“ hatte in einer Einbuchtung am Rand dieser schmalen Dorfstraße längst einen neuen Platz gefunden und brauchte nicht mehr befürchten, von den "teuren Genossen" belästigt zu werden. Im Betriebsgelände hatte er wenigstens einen winzig kalten Schimmer roter Strahlung abbekommen. Aber dieses sollte ihm nun wenigstens auch noch erspart bleiben.

Allerdings hatte der kleine Flitzer aus Wolfsburg viele neugierige Blicke auf sich gezogen.

Besonders Kinder blieben wie angewurzelt stehen und bewunderten dieses scheinbare „Wunderwerk der Technik“, als hätten sie in ihrem Leben noch nie ein richtiges Auto gesehen.

Die Anspannung war in den Gesichtern von Reimund und Gerda deutlich abzulesen. Überall wo sie aufgekreuzt waren, die Affäre mit dem kultigen „Käfer“ war natürlich das Thema Nummer eins.

Am Sonnabend, dem Tag der Abreise schlug Reimunds Herz bis zum Halse.

„Wenn die Stasi davon Wind bekommen hat, werden die uns an der Grenze bestimmt auseinandernehmen“, fürchtete Reimund nicht ohne Grund.

Und er sollte Recht behalten. Der Zoll hatte jeden Winkel des Autos genauestens durchforstet. Dieses sollte sich in den nächsten Jahren wiederholen.

Wer aber könnte der Übeltäter gewesen sein, der Rolf möglicherweise angeschwärzt hat? Zwei hundertprozentig überzeugte Genossinnen gab es innerhalb der Belegschaft auch.

Einer wurde sogar in Ost-Berlin – als Auszeichnung anlässlich des DDR-Jubiläums - der Orden „Held der Arbeit“angeheftet. Die andere Arbeiterin war schon ewig SED-Mitglied. Wen wunderte es. Ihr Mann hielt einen gut bezahlten Posten in einem anderen Werk inne.

Vielleicht war es auch Gerhard, sein bester Schulfreund, oder gar Helmut, der Bereichsleiter, der ihn verpfiffen haben könnte. Dass es Pförtner Martin hätte gewesen sein können, dieses konnte und wollte er sich nicht so richtig vorstellen.

Oder jemand, den er bis jetzt noch gar nicht auf der Rechnung hatte? Die wildesten Spekulationen schießen ins Kraut.

Rolf sollte es niemals mehr erfahren.

 

 

Die DDR ist mittlerweile ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.

Nicht wenige der Peiniger von einst, haben in der Pluralistischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland längst Fuß gefasst. Sie besetzen lukrative Posten in Behörden und Ämtern und demütigen nicht selten diejenigen, die im Herbst 1989 für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße gegangen waren.

Offiziell existiert die Stasi zwar nicht mehr – ihre Methoden leben auch in unserer so genannten freiheitlichen Ordnung wieder auf – und das nicht zu knapp.

Zahlreiche Überwachungskameras, die in raffinierten Verstecken lauern, schielen argwöhnisch in die Gesichter vieler Mitarbeiter und machen selbst vor Umkleideräumen mit den angrenzenden Duschkabinen nicht Halt. Einige Unternehmer haben vieles gelernt – leider auch von der Stasi und deren Machenschaften.

 

 

Anmerkung:

Diese Geschichte hat sich im Oktober des Jahres 1974 tatsächlich zugetragen.

Die Namen aller beteiligten Personen habe ich geändert. Die meisten der beteiligten Personen sind allerdings längst verstorben.

Eine wahre Geschichte mit geänderten Namen, die das wahre Leben in der ehemaligen DDR verständlicher machen soll.
Mit dieser Geschichte möchte ich auf die Gefahren aufmerksam machen, denen Besucher aus der Bundesrepublik in Honeckers Arbeiter- und Bauernstaat ausgesetzt waren.
Michael Reißig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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